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Lüdemann: Inselgewitter

13,98
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Psychothriller aus der Sicht eines 12-jährigen: Eine...Kriminalgeschichte: Der ehemalige Leiter des VEB plastboot ist nun Geschäftsführer der German shipping GmbH. Auf dem letzten gemeinsamen Urlaub der Belegschaft auf einer Ostseeinsel findet man den Geschäftsführer plötzlich tot; alles deutet auf einen Mord hin. Das große Misstrauen greift um sich, wobei die versteckten Emotionen und Aggressionen der Belegschaftsmitglieder zum Vorschein kommen. Dabei spielt nicht zuletzt die ungewohnte Konkurrenzsituation auf dem freien Markt, Versuche zur Abwerbung und zur Übernahme der Firma eine Rolle... Prof. Dr. Malte Dahrendorf, Nestor der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, begründete als Jury-Vorsitzender eine Aufnahme des Familienkrimis Inselgewitter (für Leser von 10-100 Jahre) in seine Vorschlagliste für den renommierten Heinrich-Wolgast-Preis mit diesen Worten.

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Hans-Ulrich Lüdemann, Jahrgang 1943, studierte Sportwissenschaften und Germanistik. Bis 1969 arbeitet er im Verlag Junge Welt Berlin. Er war u.a. tätig als Journalist, TV-Kameramann und Schriftsteller. 1977 erleidet Hans-Ulrich Lüdemann einen Unfall während seiner Wehrpflicht, der ihn zeitlebens an den Rollstuhl fesselt. Lüdemann ist Autor von 20 Hörspielen und 28 Buchtiteln sowie ausgewiesener Szenarist von TV-Filmen.

 

Hans-Ulrich Lüdemann: Inselgewitter, ca. 129 S., Broschur, € 13,98 ISBN 978-3-86992-017-7

Titelbild zum Download (300 dpi)

Leseprobe:

 

1

 

Jede Feriengeschichte hat bekanntlich einen Anfang und ein Ende. Diese begann mit einem donnernden Wortgewitter, das sich über Rolf Langhans entlud und sie endete, nachdem alle Umstände eines gewaltsamen Todes geklärt worden waren. Aber bis das Furchtbare geschehen würde, gingen noch einige Sommertage ins Land. Im Augenblick herrschte also drückende Schwüle im Wohnzimmer der Familie Langhans. Nicht die feuchtwarme Witterung war schuld an einer schlechten Stimmung. Da war Rolfs Vater. Seine schweren Schritte wurden vom Teppich verschluckt. Sechsmal vom Balkon zur Tür und zurück. Und da war Rolf, über den sich gerade ein gewaltiges Donnerwetter entlud. Der Junge stand an die Wand gelehnt und traute sich nicht, seinem Vater in die Augen zu sehen. Und schliesslich war da auch Beate Langhans. Rolfs Mutter hockte mit trauriger Miene auf einer Sesselkante. Herr Langhans hielt plötzlich in der Mitte des Zimmers inne:

     „Ich habe dich einige Male gewarnt, Rolf. Habe ich das?" Der vierschrötige Mann neigte den Kopf ein wenig, auf die Antwort seines Sohnes wartend.

     Stumm nickte Rolf.

     „Und was hat das genutzt? Überhaupt nichts!“ Herr Langhans wandte sich an seine Frau: „Wo der Junge wusste, dass er im Rechnen auf der Kippe stand, bringt er eine Fünf nach Hause! Eine Fünf!"

     Rolfs Vater unterstrich mit einer heftigen Handbewegung, die aussah, als würde sie in einer Ohrfeige enden, seinen Zorn. „Da denkt man, wenn man unterwegs am Steuer sitzt, dass der Sohn vernünftig ist. Schliesslich zählt er immerhin zwölf Jahre! Aber von wegen!"

     Herr Langhans nahm die Wanderung durch das Zimmer wieder auf. Sein kurzärmliges Hemd spannte sich über die breite Brust. Auf den rechten Unterarm war ein großes Wagenrad tätowiert. Im freien Raum stand eine Autonummer, von den dunklen Haaren fast verdeckt. Als Klaus Langhans achtzehn Jahre alt gewesen war, hatte er sich dieses Andenken einritzen lassen. Es war das polizeiliche Kennzeichen des ersten Transporters, den der frischgebackene Kraftfahrer übernommen hatte. Über zwanzig Jahre war das jetzt her. Auf diese erste Zeit als Kapitän der Landstrasse – heute eher kurz Trucker genannt – war Rolfs Vater stolz. Über seine Tätowierung, die sich trotz mehrmaliger Versuche nicht entfernen liess, schwieg der gelernte Kfz-Schlosser sich aus.

     Rolf hob den Kopf. Glaubte der Vater etwa, dass er sich über die Fünf freute? Rolf war genauso sauer gewesen, als er die Note auf seinem Zeugnis sah. Und der Junge wusste, dass er sich Mühe gegeben hatte. Und jetzt musste er auch noch dieses Wortgewitter über sich ergehen lassen: „Mit dieser Fünf bin ja nicht sitzen geblieben.“

     Herr Langhans stoppte mitten im Schritt. Ungläubig schaute er erst auf den Jungen, dann auf seine Frau. Er hakte beide Daumen in den Hosenbund und holte tief Luft.

     Da sprang Rolfs Mutter auf. „Moment!“, rief sie ahnungsvoll und lief zum Balkon. Mit einem leisen Quietschen schloss sich die Tür. Frau Langhans zog auch noch die Gardinen zu. Dann drehte sie sich um: „Es muss ja nicht gleich jeder Nachbar hören, Klaus, dass du nach zwei Wochen Fernfahrt mal wieder zu Hause bist.“

     Herr Langhans runzelte die Stirn. Seine Frau hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Es klang nur noch wie entferntes Donnergrollen, als Rolfs Vater fragte: „Und warum sagst du kein Wort darüber, Beate?“

     „Reden allein hilft da jetzt nicht mehr. Das Schuljahr ist um. Rolf hat sich zu sehr mit seinem Judo-Training abgegeben, glaube ich.“

     „Judo ist eben anstrengender als Angeln“, warf Rolf ein, auf das einzige Hobby seines Vaters anspielend.

     „Rede keinen Unsinn, Junge!“, wies Beate Langhans den Sohn zurecht.

     Der Vater nickte. Seine Hand fuhr über den schweißigen Nacken. Es war wirklich Unsinn, Angeln mit Judo zu vergleichen: „Du müsstest langsam kapiert haben, Bengel, dass auch ein Leistungssportler nicht mit einem Spatzenhirn auskommt!“

     „Klaus!“

     Herr Langhans reagierte auf den Vorwurf seiner Frau mit einer heftigen Gebärde. Seine Augen blitzten. Rolf ahnte, dass der Vater noch nicht fertig war mit ihm. Irgendein Unheil löste dieses Gespräch noch aus. Rolf fühlte das geradezu bis in alle Haarspitzen. Bittend schaute er zur Mutter hinüber. Beide hatten sich für den Nachmittag etwas vor­genommen. Otto Brümmer, Geschäftsführer und Gründer der German Shipping GmbH, hatte anlässlich der von ihm angeordneten Betriebsferien ein Sportfest organisiert. Ähnlich war es auch in der DDR gewesen, wenn zu Beginn einer allgemeinen Urlaubszeit die Frauen im VEB-Plastboot-Faustball gegen eine Mädchenmannschaft der Oberschule spielten. Rolf war gespannt, wie heute das Spiel Mutter gegen Tochter ausgehen würde. Schlachtenbummler hatten sich auf beiden Seiten angesagt. Und im stillen schimpfte Rolf auf seinen Vater. Solange dieser weg gewesen war, hatte Frieden geherrscht zu Hause. Alle kamen gut miteinander aus: Rolf mit seiner Mutter, und beide mit Rolfs Schwester. Chris hatte im vorigen Monat ihr Abitur bestanden ...

     „Kurz und gut", begann Herr Langhans. Er ging zum Balkon und zog mit einem Ruck die Gardinen wieder auf, um danach die Tür zu öffnen. Jetzt drehte er sich zum Sohn um: „Du wirst in diesem Jahr nicht mit ins Trainingslager fahren. Klar!“

     In den Jungen an der Wand kam Bewegung. Er reckte das Kinn vor. Blickte erst auf seinen Vater, dann sah er die Mutter an. Frau Langhans schüttelte kaum merklich den Kopf. Rolf begriff sofort die Mahnung, die in dieser Bewegung steckte. Trotzig senkte er die Augen. „Ist das alles?“

     „Ja. Aber vielleicht überlegst du mal in aller Ruhe, was da faul ist, mein Junge. Sonst war das mit dem Trainingslager nicht das letzte!“, drohte Herr Langhans.

     Rolf ging zur Zimmertür. Dort blieb er abwartend stehen.

     Ungeduldig musterte ihn sein Vater: „Was ist denn noch?“

     Aber der Junge schaute an seinem Vater vorbei. Als wäre er nur mit der Mutter im Zimmer; Rolf reagierte überhaupt nicht auf die Frage.

     „Heute ist unser Fest zu den Betriebsferien. Ich hatte Rolf versprochen, mit ihm hinzugehen“, erklärte die Mutter schnell. Sie erhob sich und strich mehrmals über ihren Rock. Dieser blieb so glatt wie vordem.

     „So.“ Mehr sagte Rolfs Vater nicht.

     Aber Beate Langhans, die ihren Mann seit neunzehn Jahren kannte, wusste, was dies bedeutete. In dem kleinen Wort lagen Zorn und Ent­täuschung. Zorn, weil es scheinbar während der Abwesenheit des Familienoberhauptes nicht so recht klappte. Und Enttäuschung, weil Klaus Langhans den Nachmittag allein bleiben sollte. Wieder allein. Nach der wochenlangen Fernfahrt durch Belgien, Frankreich und Spanien. Betrogen um die ausgedachten Stunden, die er mit der Frau und den Kindern verbringen wollte. Erst der Ärger mit dem Sohn, und nun wollte Beate auch noch zu ihrem Betrieb, weil dieser Brümmer ein Betriebsfest durchführte! Schlimm genug, dass der ehemalige Direktor vom VEB-Plastboot Beate neuerdings nicht mehr freigab, wenn ihr Mann zurückkehrte. Überhaupt – die Familie würde auch nur mit seinem Verdienst auskommen.

     „Da kann ich ja gleich wieder auf den Bock steigen“, sagte Herr Langhans 1eise und schaute aus dem Fenster.

     Rolf zuckte zusammen. Noch nie hatte er seinen Vater in diesem Ton sprechen hören. Und er schämte sich auf einmal, mehr als je zuvor, dass er es war, über den die Eltern sich aufregen mussten. Was das Verbot anbelangte, so war dies ja noch nicht ent­schieden. Wusste Rolf doch aus Erfahrung, dass nach einer Fernfahrt die Dinge oft anders ausgingen als vorher angeordnet. Und eine vierzehntägige Tour nach Dänemark, Schweden und Norwegen lag vor Herrn Langhans.

     „Kannst ja mitkommen, Vati. Da wird schwer was los sein!“, ereiferte sich Rolf. Vielleicht konnte er auf dem Sportplatz die Scharte auswetzen? Zumindest würde der Vater auf andere Gedanken kommen und die Fünf auf dem Zeugnis vergessen.

     „Danke.“ Die Antwort klang trotzig. Herr Langhans trat auf den Balkon hinaus. Die Luft war zum Schneiden. Der Vater atmete schwer.

„Geh allein, Rolf“, bat die Mutter. Sie schob den Jungen vor sich her. Auf dem Flur flüsterte sie: „Sag den anderen, vor allem Herrn Brümmer, dass ich zu Hause zu tun habe.“

     Rolf nickte. Er griff nach seinem Trainingsbeutel. Die Mutter öffnete ihm die Tür und lächelte hilflos. Der Junge blieb neben ihr stehen. Er wies mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer: „Was hat Vati?“

     Frau Langhans strich ihrem Sohn übers Haar. Das unsichere Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand: „Wenn er sich doch bloß eine Arbeit in der Stadt suchen würde. Wer soll das aushalten ...“ Die Mutter ver­stummte.

 

     Rolf tat, als hätte er Schwierigkeiten, seinen Sportbeutel mit den richtigen Schwung über die Schulter zu werfen. Jetzt trat der Junge in den Hausflur, er winkte der Mutter noch einmal zu und jagte in großen Sprüngen die Treppen hinunter.

 

 

2

 

Die Alten im Ort können sich noch an Zeiten erinnern, da befand sich am Eingangstor ein Schild, auf dem Sägewerk Grünerode stand. Vor zwanzig Jahren waren plötzlich die Baumstämme, die über ein aufgestautes Wehr direkt zu den Männern mit Sägen und Hobeln geschwommen kamen, ausgeblieben. Der Holzeinschlag in den umliegenden Wäldern war eingestellt worden, weil das Städtchen Grünerode der Ehrgeiz packte, Kurort genannt zu werden. Und wie konnte der Rat der Stadt dies verwirklichen, wenn alle Bäume in der unmittelbaren Umgebung gefällt wurden?

     Rolfs Erinnerung an die Flöße, die von Männern mit langen Stangen dirigiert wurden, stammte nur von Fotografien, die die Mutter aufbewahrte. Und auch jene waren mit den Jahren zusehends verblasst. Aber der Tag, an dem ein anderes Schild angebracht wurde, war in Rolfs Gedächtnis haften geblieben. An diesem Tag nämlich hatte seine Mutter wieder angefangen zu arbeiten. Gegen den Willen des Vaters übrigens. Unzählige Male hatte Rolf jenen fast vergessenen Namen am Tor gelesen: VEB -plastboot-. Rolf war hier ein- und ausgegangen, seit er denken konnte. Seine Mutter hatte an einem großen Zeichenbrett im lichtüberfluteten Konstruktionsbüro gearbeitet. Heute entstanden die modernen Sportboote mit Hilfe von Computern. In einem kleinen künstlichen See schwammen später die ersten Verkaufsmuster. Dass es von Jahr zu Jahr mehr Bootstypen wurden, daran hatte Frau Langhans einen nicht geringen Anteil. Aber mit dem Umbruch im Jahr 1989 waren schier unüberwindliche Schwierigkeiten auf die Bootsbauer zugekommen und irgendwann hiess es aus dem Munde von Direktor Brümmer: unser Volkseigener Betrieb kann nur überleben, wenn wir ihn in eine GmbH umwandeln. Das war die Geburtsstunde der german shipping. Neuer Chef war der alte. Und Otto Brümmer war nicht bei allen Mitarbeitern beliebt ...

     Pförtner Fridjof hob den Kopf, als er eilige Schritte hörte. Er beugte sich aus dem kleinen Fenster und sah hinaus zum Eingangstor. Außer Atem bog Rolf um die Ecke. Der alte Mann griente.

     „Tag, Herr Fridjof", prustete der Junge. Für einen Augenblick lehnte er sich gegen die sperrende Schranke, um Luft zu schöpfen.

     „Ist dein Fliegender Teppich in Reparatur?"

     Rolf sah den Alten verständnislos an. Dann bemerkte er auf dem Tisch in der Pförtnerloge ein kleines Buch: Märchen aus Tausendundeiner Nacht. „Hat das Spiel schon angefangen, Herr Fridjof?"

     Fridjof nickte. „So wichtig bist du ja nicht, dass sie auf dich warten. Noch nicht", setzte der Pförtner hinzu. Er drückte auf einen Knopf. Die Schranke bewegte sich langsam und fast lautlos in die Senkrechte.

     „Ab morgen sitzt hier ein anderer. Damit du es weisst."

     „Für immer?" Rolf mochte den alten Mann. Mit ihm konnte er immer reden. Fridjof wusste über alles Bescheid. So einen hatte er sich als Großvater gewünscht. Rolfs Großeltern waren bereits verstorben. Die Mutter hatte ihm erzählt, wie sie im Kinderheim Klaus Langhans kennen lernte und dass sie, kaum hatte er ausgelernt, geheiratet hatten.

     „Ich fahre hoch an die See. Die Bungalows auf der Insel werden zum letzten Mal für die Betriebsferien hergerichtet. Anweisung von Otto Brümmer. Aber dass du ja den Mund hältst, mein Junge. Das ist noch geheim." Um seine Worte zu verstärken, legte der weißhaarige Fridjof einen Zeigefinger auf die Lippen. Schliesslich verriet er noch: „Wenn mich nicht alles täuscht, seid ihr die Ersten, die da einen Platz kriegen. Da freust du dich aber, was?"

     Fridjof zog verwundert den Kopf zurück, als der Junge nur stumm nickte und davonlief. Der Pförtner vergaß beinahe, die Schranke wieder herunterzulassen. Gibt es überhaupt nichts Besonderes mehr für die Kinder heutzutage, dachte Fridjof. Als hätte ich gesagt, dass für ihn die Ferien ausfallen. Vor sich hin brummend, rückte der alte Mann die Lesebrille zurecht, um in seiner Lektüre fortzufahren.

     Rolf wählte den kürzesten Weg zum Kleinsportfeld der Firma. Rechts und links neben ihm türmten sich riesige Rollen, deren weißes, wetterfestes Packpapier in der Sonne leuchtete. Rolf wusste, dass viele Meter Kunststoffmatten für den Bau der schnittigen Sportboote benötigt wurden. Damit legten die Bootsbauer Formen aus. Anschließend tränkten sie das Gewebe mit einem Lösungsmittel. Stunden später konnte die Form abgehoben werden; ein Gegenstück aus den erhärteten seidigen Kunststoffbahnen blieb stehen. Der Bootskörper war entstanden, auf seine weitere Verarbeitung zum Motorboot oder Angelkahn wartend.

     Als Rolf einem Stapel Rollen ausweichen wollte, hörte er leise Stimmen. Unbewusst verlangsamte der Junge den Schritt. Eine Lücke im gelagerten Material ausnutzend, erfasste Rolf die Situation. Zwei Jungen standen in unmissverständlich drohender Haltung vor einem dritten. Dieser trug einen dunkelblauen Overall und seine langen Haare fielen fast auf die Schultern. Rolf bedauerte, dass die anderen ihm den Rücken zuwandten. Gespannt lauschte er auf, als der Name Chris Langhans fiel.

     „Wir wollen die Gelegenheit nutzen, Fredy, um dir klar­zumachen, dass du dir das mit unserer Chris abschminken kannst. Lass sie in Ruhe, verstanden!“

     Der Wortführer ballte die Faust und hielt sie dem im Arbeitsanzug unter die Nase. Der wich zurück, prallte mit dem Rücken gegen eine Mattenrolle. Der Fluchtweg war ihm versperrt. Rolf sah, wie dieser Fredy beide Angreifer prüfend musterte. Jetzt machte er den Mund auf:

     „Ihr müsst es schon Chris selbst überlassen, ob sie sich mit euch Pfeifen oder mit mir abgibt."

     Der Kräftigere verschränkte seine Arme vor der Brust: „Für die Mädchen unserer Klasse sind wir zuständig. Da dulden wir keinen Fremden! Kapiert?"

     „Bin ja nicht taub."

     Rolf begriff endlich. Die zwei da vorn waren Chris’ Mitschüler. Aber was Rolf am meisten überraschte, war, dass er bislang überhaupt keine Ahnung gehabt hatte von der Existenz eines Freundes Fredy! Gleichzeitig rümpfte Rolf die Nase. Ein großartiger Freund! Dessen lange Mähne liess Rolf noch hingehen, aber dass er sich überhaupt nicht rührte, um für Chris zu kämpfen! Wenn der so schnell seine Liebste verrät, schloss Rolf, dann taugt er nicht viel. Aus diesem Grunde verzichtete er darauf, dem Bedrängten zu Hilfe zu eilen. Dass er etwas hätte ausrichten können gegen die beiden Oberschüler, das nahm Chris’ Bruder ohne zu zögern als Tatsache. Schliesslich war Rolf Langhans der beste Judoka seiner Altersgruppe im Trainings­zentrum.

     „Also, was ist?“, fragte jetzt drohend derjenige, der bislang kein Wort gesagt hatte.

     „Feiglinge!“ schimpfte Rolf insgeheim. Aber was hatte dieser Fredy anderes verdient, als hier in die Mangel genommen zu werden? Wo der sich so lasch verhielt, anstatt auf die beiden loszugehen. Wer sich mit allen Kräften wehrt und trotzdem unterliegt, behält wenigstens sein Selbstvertrauen. Diese Worte, die von Rolfs Trainer geprägt worden waren, fielen dem Jungen ein.

     „Nichts ist", erwiderte Fredy in diesem Augenblick. „Und wenn ihr nicht gleich macht, dass ihr Land gewinnt, bezieht ihr Dresche. Bis jetzt war es Spass."

     Rolf vernahm das glucksende Lachen der Oberschüler. Auch er konnte es sich nur mit Mühe verkneifen. Der Langmähnige da vorne sah gerade so aus, als ob er seine Widersacher auseinandernehmen könnte! Diesem Angeber tat eine Abreibung wirklich not. Und der Junge verließ ohne Ge­wissensbisse seinen Beobachtungsplatz.

     Nachdem Rolf sich auf einem Seitenweg weit genug entfernt hatte, blieb er stehen und schaute über das Werksgelände. Zur Rechten befanden sich zwei lang­gestreckte Hallen. In der ersten wurden die Bootsschalen montiert. Ein Kran transportierte sie in die zweite Halle, wo die Endfertigung begann. Von hier führten Schienen zum See, auf dem die ersten Schwimmversuche unternommen wurden. Direkt am Wasser lag auch der Kleinsportplatz, mit einem großen Fest vor zehn Jahren eingeweiht.

     Rolf sah, dass das Spielfeld noch leer war. Zu beiden Seiten standen aber bereits die Mannschaften. Eine günstige Gelegenheit haben die beiden Schlägertypen sich ausgesucht, dachte Rolf. Er wollte die Spielpause nutzen und lief auf Herrn Brümmer zu. Der sprach gerade mit dem ganz in Weiss gekleideten Schiedsrichter. Rolf blieb ste­hen. Er wartete darauf, dass Herr Brümmer ihn bemerken würde. Dann könnte er die Entschuldigung seiner Mutter weitergeben und sich nach Chris umsehen, um ihr mitzuteilen, mit was für einem Pflaumenheini sie ihre freie Zeit nach dem Abitur vergeudete.

     Während Rolf die beiden Männer beobachtete, wunderte er sich zum wiederholten Male, welche Ähnlichkeit zwischen Herrn Brümmer und seinem Vater bestand. Beide nahmen sich nichts in ihrer massigen Gestalt. Sie hatten Bizeps, fast so dick wie Rolfs Oberschenkel. Wo die hinhauten, da wuchs kein Gras mehr, verhakten sich Rolfs Gedanken. Aber mit Herrn Brümmer kam er gut aus. Auch seine Mutter sprach nur Gutes über Otto Brümmer. Vater mochte ihn nicht. Aber das lag nicht daran, dass beide vor Jahren mal wegen Rolfs Mutter aneinandergeraten waren, sondern weil Herr Langhans gegen alles war, was die Frau von zu Hause fernhielt, wenn er von seiner Tour zurückgekehrt war.

     Rolf spürte plötzlich einen festen Griff im Nacken. Er packte instinktiv das Handgelenk des Angreifers, um sich blitzschnell aus dieser Festhalte zu befreien.

     „Vorsicht, Schwarzer Dan", lachte Otto Brümmer, „du willst mich doch nicht etwa durch die Luft schleudern?"

     Rolf erwiderte das Lachen. Er bemerkte, wie die Um­stehenden aufmerksam wurden. Es gefiel ihm, wie re­spektvoll dieser kräftigte Mann auf seine Judo-Kenntnisse reagierte.

     „Ich darf so was nur im Notfall, Herr Brüm­mer. Sportlerregel." Ebenso großartig klang Rolfs Antwort. Es hörte sich an, als wollte er einem Zweizentner-Mann die Angst nehmen, besiegt zu werden.

     Herr Brümmer zog seinen Hosengurt straffer und ging zum Schiedsrichter. Rolf sah ihm nach. Brümmers Bauch verdeckte bereits die Gürtellinie. Müsste mehr Sport treiben, dachte Rolf. Da war sein Vater besser in Form. Der nahm es noch mit jedem Gleichaltrigen auf, wenn es um Ausdauer und Schnelligkeit ging. Von Kraft ganz zu schweigen. Im Spass hatten Vater und Sohn schon des öfteren miteinander gekämpft, immer war Rolf unterlegen. Aber er fieberte schon auf den Tag hin, wo er seinen Vater in den Schatten stellen würde. Und vielleicht war der Junge deshalb Judoka geworden, um alle Körpereigenschaften gleichzeitig zu schulen. Vati zu besiegen, dachte Rolf ein um das andere Mal, wann werde ich das schaffen? Wenigstens einmal im Laufen schneller sein. Oder im Schwimmen. Aber Klaus Langhans hatte in seiner Jugend den Zehnkampf trainiert. Nicht umsonst wurden solche Sportler von der Fachwelt Könige der Leichtathleten genannt.

     „Deine Mutter kommt zu spät." Herr Brümmer trat zu Rolf.

     „Sie kommt heute nicht, soll ich ausrichten."

     Otto Brümmer stutzte. Zwischen den Augenbrauen stand eine tiefe Falte: „Schade, wir liegen im Rückstand. Vielleicht hätte deine Mutter das Steuer noch herumgerissen.“

     Rolf reckte stolz die Brust. So gut war seine Mutter also im Faustball. Und er hatte immer unverhohlen gegrient, wenn sie in das Einkaufsnetz ihren Trainingsanzug und die Sportschuhe packte, um zum Übungsabend zu gehen.

     In diesem Augenblick rief die Pfeife des Schiedsrichters alle Spielerinnen auf ihre Positionen. Rolf sah, dass seine Schwester zu Beginn pausierte. Schnell lief er am Kreidestrich entlang auf die andere Seite.

     „Wo ist denn Mutti?“, fragte Chris.

     „Es gab mal wieder Krach", erwiderte Rolf.

     Beide schwiegen und verfolgten den Ball, der von den Frauen und Mädchen mit der Innenseite vom Hand­gelenk über die Schnur getrieben wurde.

     „Wir gewinnen!“, jubelte Chris.

     „Kunststück! Wenn ihr das Durchschnittsalter aus­rechnen würdet und beide gegeneinander setzt, dann seid ihr ein Kindergarten", dämpfte Rolf den Triumph seiner Schwester.

     Chris warf die langen Haare nach hinten. „Seit wann kannst du rechnen?“, parierte sie ärgerlich.

     Rolf schluckte. Dass sie ihm gerade heute mit Mathe kommen musste! Ihm reichte die Auseinandersetzung mit dem Vater. Aber konnte er ihr diese Gemeinheit nicht heimzahlen? Mit Fredys Niederlage?

     „Übrigens, Schwesterherz: wenn du deinen Fredy heil wiedersehen willst, geh mal rüber zum Lagerplatz. Da verkloppen ihn welche."

     Chris fuhr herum. Ungläubig starrte sie den Bruder an, dann aber lächelte das Mädchen überlegen: „Willst mich wohl hier weglocken? Ich habe im ersten Spiel sieben Punkte gemacht. Klasse, was?"

     Aber die offensichtliche Schadenfreude in Rolfs Gesicht liess Chris an einen Trick zweifeln. Sie drehte sich langsam um und schaute hinüber zum Materiallager. Rolf tat, als interessierte ihn nichts mehr als der aufgeregte Schiedsrichter, dessen Entscheidung das Missfallen einiger Zuschauer ausgelöst hatte. Der Mann im weißen Dress sprang von seinem Sitz herunter und diskutierte mit dem Mannschaftskapitän der Oberschülerinnen.

     „Dann wird’ ich mich mal einwechseln lassen", sagte Chris betont gleichmütig und ging.

     Rolf schaute ihr nach. Die Haltung seiner Schwester enttäuschte ihn. Wenn schon dieser Fredy nichts taugte, so war sie immerhin mit ihm befreundet und hätte etwas unternehmen müssen. Zum Beispiel ihn, den sechs Jahre jüngeren Bruder, um Beistand für ihren Fredy bitten. Aber was war das? Rolf glaubte seinen Augen nicht zu trauen: auf der anderen Seite des Spielfeldes stand Fredy und winkte Chris zu, die an der Schnur stand und voller Konzentration den gegnerischen Ball erwartete! Ohne Veilchen im Gesicht! Rolf war enttäuscht. Aber wer weiss, wie dieser Fredy die beiden herumgekriegt hatte, damit die ihn in Ruhe ließen. Nur mit Mühe widerstand Rolf dem Wunsch, kräftig auszuspucken. Pfui Spinne! So einen Waschlappen nannte sich nun Freund seiner Schwester! Rolf empfand diesen Fredy beinahe als eine persönliche Blamage. Und weil er fortan nur das Ballspiel seiner Schwester beobachtete, bemerkte er nicht, dass der alte Fridjof erregt gelaufen kam und ein zorniger Otto Brümmer mit ihm die Sportanlage verließ.

 

 

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