Bachl: Der Schlag

14,98
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Das Geheimnis um einen alten Mann und ein Unfall Teresa kehrt nach vielen Jahren zurück in ihre Heimatstadt. Hier arbeitet sie als Altenpflegerin. Im Heim begegnet sie einem unheimlichen alten Mann. Josef Bruckner schikaniert Teresa. Sie kann sich die Aggressionen nicht erklären. Schließlich entdeckt sie zu Hause ein altes Foto von ihm. Sie versucht, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Parallel dazu wird in eindringlichen Szenen ihre Kindheitsgeschichte erzählt. Das Mädchen durchlebt eine schreckliche Kindheit in den 1960er Jahren. Von ihrem Vater wird sie misshandelt, von der Mutter abgelehnt. Tessy singt gegen die Angst an. Als Kind ist sie gefangen zwischen Hass und Liebe zu ihrem Vater. Mit 16 Jahren verunglückt sie mit ihrem Vater beim Motorradfahren. Tessy bringt es nicht fertig, Hilfe zu holen. Sie sieht zu, wie ihr Vater an der Unfallstelle verblutet. Zurückgekehrt in ihre Heimatstadt, holen Teresa die vergangenen Ereignisse ein. Sie geht immer wieder zur Unfallstelle. Hier beginnt der innere Dialog mit dem verstorbenen Vater, der Teresa immer wieder in ihren Träumen heimsucht. Der alte Mann im Heim besitzt das Wissen um ein weiteres schreckliches Geschehen in Teresas Vergangenheit. Doch er hat einen Schlaganfall erlitten und kann sich kaum mehr ausdrücken.

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Sonja Bachl schrieb bereits als Kind ihren ersten "Roman". Mit 18 Jahren arbeitete sie bei der lokalen Presse und sammelte dort Erfahrungen besonders in der Gerichtsberichterstattung. Sie arbeitet als Journalistin für Fachverlage und veröffentlichte bisher folgende Bücher: "Ich liebte einen Priester (Herder), Tobias (VS) und "Trost am Krankenbett" (Echter 2009).

 

Bachl: Der Schlag, Broschur, € 14,98, ISBN 978-3-86992-019-1

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Leseprobe:

 

Der Schlag kam so heftig und unerwartet, dass keine Abwehrreaktion möglich war. Sein Ellenbogen traf sie genau an der linken Brust. Der Löffel in ihrer Hand fiel klirrend zu Boden. Tränen traten ihr in die Augen. Instinktiv griff sie mit der rechten Hand an die Brust. Sie trat einen Schritt zurück. Dann wartete sie, bis das Pochen leiser wurde und der Schmerz anfing, sich zurückzuziehen. Nach dem Schock registrierte sie ein merkwürdiges Gefühl. Sie schämte sich. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis sie es wagte, den alten Mann anzublicken, der scheinbar wehrlos in seinem Bett lag. Seine Augen blickten zum geöffneten Fenster. Draußen sorgte kalter Novembernebel dafür, dass es im Raum unangenehm kühl war. Sie schloss das Fenster und ging wieder zurück an sein Bett. Er sah sie nicht an. Er ignorierte sie, als gäbe es sie überhaupt nicht ...

... Teresa stand in der Ecke des Personalraumes und schlürfte lauwarmen Kaffee. Der Schock war immer noch da. Die Brust schmerzte. Aber sie war nicht mehr in der Gefahrenzone. Ihr Kollege Tom trat ins Zimmer.

„Na, Teresa“, sprach er sie lächelnd an, „brauchst wohl auch eine Pause, ist eine Menge los heute.“ Er sah sie schräg von der Seite an. „Du siehst ein wenig mitgenommen aus“, stellte er fest. Er holte sich eine Tasse aus der Teeküche und schenkte sich aus der Thermoskanne Kaffe ein.

Teresa sagte nichts. Der Vorfall ging nur sie etwas an, nicht Tom und nicht die Kollegen. Als Profi durfte einem so etwas nicht passieren. Sie schämte sich, rang sich mühsam ein Lächeln ab.

„Weißt du schon, dass die alte Behrens wieder beim Bader im Zimmer übernachtet hat?“

Teresa schüttelte den Kopf.

„Die weiß nicht mehr, wie sie heißt mit ihrer schweren Demenz. Sie findet ihr eigenes Zimmer nicht mehr aber das Zimmer vom Bader kennt sie ganz genau. Luise hat die Sache jetzt dem Heimleiter gemeldet. Die beiden können doch in ihrem Alter nicht mehr ...“ Tom grinste schief. Er zwinkerte ihr zu.

Teresa sah ihn an. Sein breites Grinsen erfüllte das ganze Zimmer.

„Schon das dritte Mal in dieser Woche liegt die in seinem Bett! Der kann doch gar nicht mehr mit seinen 89 Jahren! Jetzt möchten die zwei unbedingt heiraten. Stell dir das einmal vor! Die Angehörigen sind schon informiert und ganz aus dem Häuschen. Das kommt doch überhaupt nicht in Frage! Die wollen ihn doch allein beerben.“

„Und was sagt der Heimleiter dazu?“ – Teresa wusste, dass Tom sie aufheitern wollte, aber sie kannte die Geschichte mit den zwei verliebten alten Leuten bereits. Die Kollegen sprachen über nichts anderes. Es war aber besser, darauf einzugehen, weil sie nicht wollte, dass Tom mitbekam, was sich gerade in ihr abspielte.

 „Ach, der ...“, Tom winkte ab, „wenn sie es unbedingt miteinander treiben wollen, hat er gesagt, dann schmiert die Frau doch unten mit Vaseline ein. Dann flutscht es besser. Und wenn es nicht anders geht, wird eine Scheinhochzeit arrangiert!“ Tom schüttelte sich vor Lachen: „Ist schon ein origineller Typ, unser Heimleiter!“

Teresa stellte ihre Kaffeetasse ab. „Ich muss dann wieder“, sagte sie, „Frau Koller hat ihr Frühstück wieder nicht angerührt. Ich versuche es jetzt mit dem Mittagessen.“ Als Teresa das Zimmer verließ, spürte sie Toms Blicke in ihrem Rücken. Sie wusste, dass es nicht nur ein kollegiales Interesse war und er mehr für sie empfand. Aber, mein Gott, er war 15 Jahre jünger als sie. Eine Beziehung mit ihm würde nur Stress bedeuten. Und den brauchte Teresa nicht. Davon hatte sie genug. Vor dem Zimmer von Frau Koller begegnete sie der 90-jährigen Rika. Die Frau schlurfte den Gang auf und ab. Ein gewohntes Bild. Zwischen den Fingern baumelte ein Rosenkranz. „Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir, Du bist gebenedeit unter den Frauen ...“ Teresa beachtete sie nicht weiter. Als sie das Zimmer von Frau Koller betrat, lächelte die alte Dame.

„Na, Frau Koller, wie geht es Ihnen?“ Die alte Frau saß in ihrem Rollstuhl, ein Notenblatt in der Hand.

„Heute ist Singen“, sagte sie.

Teresa stimmte „Hänschen klein ...“ an. Sofort begann auch die alte Frau zu singen. Als das Lied zu Ende war, versuchte Teresa vorsichtig, der Frau Löffel für Löffel ihr Essen einzugeben. Und weil sie durch das Singen so gut drauf war, nahm sie die Nahrung auch an. Danach sangen sie weiter – zusammen.

Beim Schichtwechsel traf Teresa wieder auf Tom. Er war schon umgezogen.

„Möchtest Du heute mal mit mir Essen gehen“, fragte er. Als keine Antwort kam, setzte er sein charmantestes Lächeln auf. „Bitte! Ich koche auch für dich. Was magst du denn gern?“

„Tom ...“, setzte Teresa an.

„Bitte“, wiederholte er, „ich möchte doch nur mal einen Abend mit dir verbringen. Sonst nichts, ehrlich!“ Dabei sah er sie so treuherzig an, dass sie beinahe schwach geworden wäre.

„Wir machen das noch, aber nicht heute. Ich habe schon etwas vor“, log sie.

Enttäuscht gab er nach. „Aber ich nehme dich beim Wort“, sagte er, „und ich frage dich so lange, bis du Ja sagst.“

Teresas Weg führte sie zum Friedhof. Sie musste sich beeilen. Sie war ohnehin zu spät dran. Schichtwechsel war um 14.00 Uhr. Der Trauergottesdienst hatte ebenfalls um 14.00 Uhr begonnen und sie ging auf jede Beerdigung ihrer verstorbenen Heimbewohner. Das tat sie, seit sie vor zwei Jahren mit der Arbeit als Altenpflegerin angefangen hatte. Wann immer es ihre Zeit zuließ, nahm sie Abschied von denen, die sie gepflegt hatte. Oft waren es nur ein paar Monate, Wochen oder Tage gewesen. Sie meinte dennoch, es den Leuten schuldig zu sein. Allerdings besuchte sie nur den Gottesdienst. An die offenen Gräber ging sie nie. Während der Messe fiel ihr Blick auf die Marienstatue auf einem der Nebenaltäre. Groß und wuchtig stand die Figur vor ihr. Sie war sehr alt und glich in ihrem Aussehen mehr einer Bäuerin. Schön war sie nicht. Das hatte Teresa schon als Kind so empfunden. Das freundliche Jesuskind auf ihrem Arm erschien wie ein Fremdkörper, irgendwie nicht dazugehörig. Das Gesicht der Statue hatte eher grobe Züge. Die Augen blickten in die Ferne. Sie wirkte hart und überhaupt nicht mütterlich. Es rankten sich zahlreiche Legenden um diese Figur. Als kleines Mädchen hatte Teresa die Geschichten geglaubt, die ihr schon die Großmutter erzählt hatte. Es wurde überliefert, dass vor Jahrhunderten die Figur in einem kleinen Bach von einer schwerkranken Herzogin entdeckt worden war. Bei ihrem Anblick erfuhr die Adelige eine Spontanheilung. Danach wurde der Madonna eine kleine Kapelle errichtet. Später erhielt sie ihren Platz in der Pfarrkirche des kleinen Städtchens im tiefsten Niederbayern. Der Madonna schien das nicht zu gefallen: Vorher, in der kleinen Kapelle, hatte sie noch Wunder gewirkt. An diesem Ort aber geschah nichts mehr. Im Gegenteil, die Statue war mehrmals einfach verschwunden, jedoch immer wieder aufgetaucht.

Teresa hatte als Kind immer daran geglaubt, dass trotz allem doch noch ein Wunder geschehen könnte. Ja, trotz allem! Ganze Nachmittage hatte das Kind am Bach zugebracht, wo die Muttergottes angeblich gefunden worden war. Es war früher ein einsamer Ort, mitten im Moor. Sie hatte sich Geschichten ausgedacht und manchmal meinte sie, einen Schatten zu erspähen. Einmal hatte sie sogar gemeint, die Hand der Madonna auf ihrer Schulter zu spüren. Ein wohliger Schauer huschte damals über ihren Rücken. Noch heute meinte Teresa, dieses intensive Gefühl einer fremden Gegenwart zu spüren, wenn sie auf die Statue blickte. Natürlich war es Unsinn. Das wusste sie als erwachsene Frau. Trotzdem empfand sie die Erinnerung immer noch als tröstlich.

Auf dem Nachhauseweg fing es leise an zu schneien. Teresa schlenderte den Bach entlang und nahm eine Abkürzug über die Wiese. Wie friedlich sie dalag. Teresa blieb stehen und blickte sich um. In der Ferne sah sie die bereits erleuchteten Häuser ihrer Heimatstadt. Dann verdunkelte die Erinnerung die friedliche Szenerie: Sie sah das Motorrad, die Spuren, die die schwere Maschine hinterlassen hatte, als sie in die Wiese geschlittert war. Sie sah das sechzehnjährige Mädchen, das ratlos da stand und den Mann, der unter der Maschine lag. Ein Bein lugte unter dem Motorrad hervor. Das Mädchen sah Blut, das aus der Nase des Mannes lief. Er hatte keinen Helm getragen. War er tot?

Teresa wandte sich um. Sie wollte diese Erinnerung nicht. Sie wollte nur heim. Der Schnee wirbelte nun dichter. Sie erreichte die Straße und sah endlich ihr Haus, das dunkel vor ihr lag. Einen Moment lang dachte sie, es sei ganz und gar unbewohnt. Doch das war es nie gewesen. Schließlich war es ihr Elternhaus, in dem einige Generationen gelebt hatten. Nur sie selber hatte das Weite gesucht mit 19 Jahren, gleich nach dem Abitur. Sie hatte in München, in Bremen und Hamburg gelebt. Später in Düsseldorf. Ihr Beruf als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit hatte ihr viele Perspektiven eröffnet, damals jedenfalls. Sie war weit in den Vierzigern, als sie nach dem Tod ihrer Mutter zurückkam. Die Firma, bei der sie damals gearbeitet hatte, war pleite gegangen. Sie fand keine Arbeit mehr in ihrem Job und in ihrem Alter. So hatte sie noch einmal neu beginnen müssen Sie hatte eine Ausbildung zur Altenpflegerin gemacht und dann die Stelle im Heim angetreten. Und sie war in ihr Elternhaus gezogen.

Vor ihrer Haustür fand Teresa eine Tüte mit frischen Eiern, die sie wöchentlich von ihrer Nachbarin geliefert bekam. Ihr Kater Mikesch wartete vor der Haustür darauf, ins Warme zu kommen. Während Teresa den Schlüssel aus ihrer Handtasche kramte, strich die Katze um ihre Beine. Teresa brauchte eine Weile. Die Lampe über der Haustür war seit Monaten kaputt, so dass sie fast nichts sehen konnte. Schließlich fand sie den Schlüssel, nahm die Tüte und den Kater und trat in den dunklen Gang. Sie machte Licht, ging in die Küche und bereitete sich und dem Kater ein Abendessen zu. Später zog sie sich mit einem Buch auf ihre Couch im Wohnzimmer zurück. Aber sie war zu müde um sich auf den Krimi zu konzentrieren. Die Katze lag schnurrend und satt auf dem Teppich. Es war warm im Zimmer und gemütlich. Die Leselampe spendete ein heimeliges Licht. Teresa schlief ein.

Mitten in der Nacht erwachte sie. Sie lag noch immer auf der Couch. Doch es war stockdunkel. Sie brauchte ein paar Sekunden um sich zu orientieren. Warum war die Lampe aus? Teresa stellte die Beine auf den Boden und überlegte. Sie war sich ganz sicher, dass die Lampe gebrannt hatte, als sie sich hinlegte. Sie stand auf und tastete sich zum Lichtschalter an der Tür vor. Als sie ihn angeknipst hatte, erstrahlte das Zimmer im grellem Licht der Deckenleuchte. Wahrscheinlich ist die Birne ausgebrannt, dachte Teresa. Der Kater war verschwunden. Das Buch, in dem sie gelesen hatte, lag auf dem Boden. Plötzlich fiel ihr ein, was sie geweckt hatte. Ein Motorengeräusch. Teresa ging zum Fenster und blickte hinaus auf die Straße. Gespenstische Stille. Sie ging in den Flur, zur Haustür, öffnete sie und spähte hinaus auf den Hof. Auch hier war alles ruhig. Der matte Schein der Straßenlampe erhellte notdürftig den Vorgarten. Sie ging zurück ins Haus und rief ihren Kater. Doch der meldete sich nicht. Wahrscheinlich lag er auf ihrem Bett, dachte sie. Das war sein Lieblingsplatz. Teresa beschloss, ebenfalls nach oben in ihr Schlafzimmer zu gehen. Sie brauchte ihren Schlaf. Morgen würde sie wieder ein harter Tag erwarten. Im Schlafzimmer war es kühl. Sie hatte die Heizung nicht aufgedreht. Egal. Teresa kleidete sich aus, ging ins Bad und legte sich dann in ihr Bett. Mikesch war nicht da aber darum machte sich Teresa jetzt keine Gedanken. Er würde schon wieder auftauchen. Sie kuschelte sich unter die Decke und dachte noch einen Moment darüber nach, ob sie sich das Motorengeräusch nur eingebildet hatte. War es ein Traum gewesen? Sie schloss die Augen und versuchte einzuschlafen. Es wollte nicht klappen. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite zur anderen. Schließlich verfiel sie in einen oberflächlichen Halbschlaf. Wirre Bilder jagten durch ihren Kopf. Sie sah den Alten, der ihr den Ellbogen in die Brust gerammt hatte. Boshaft grinste er sie aus der Ecke ihres Schlafzimmers an. Gleich darauf befand sie sich auf der Wiese, neben dem Bach. Der Mann mit dem Motorradunfall hielt ihr eine Madonnenstatue vors Gesicht. Dann holte er aus und versuchte sie mit der Statue zu erschlagen. In diesem Moment erwachte Teresa. Sie spürte eine schreckliche Angst in sich hochsteigen. Schließlich zwang sie sich, aus dem Bett zu steigen. Im Bad befanden sich ihre Pillen. Sie schluckte zwei Schlaftabletten, legte sich wieder hin und schlief endlich ruhig und traumlos.

In den Sechzigern

Das Mädchen schwang lustlos auf der Schaukel hin und her. Eigentlich sollte es die Hausaufgaben erledigen, aber dazu fehlte ihr die Lust. Und in einer Stunde würde ER nach Hause kommen. Natürlich hieß er nicht ER. Er hatte einen Namen. Trotzdem sagten sie nur ER, wenn sie von ihm sprachen. Was das Mädchen selber betraf, nannten sie es immer nur „die Andere“, obwohl auch sie einen Namen trug. Das Mädchen hüpfte von der Schaukel, überquerte den Garten und kletterte dann auf den Kirschbaum. Zwischen den Blüten war sie beinahe unsichtbar in ihrem weißgeblümten Kleidchen. Tessy liebte es, auf die Bäume zu klettern. Behände wie ein kleiner Affe turnte sie dort herum und war für alle unerreichbar, denn nicht einmal ER schaffte es, sie dort herunterzuholen. Hier hatte sie den Überblick. Die Bäume waren für Tessy auch der Ort, wo sie sich Geschichten ausdenken konnte. Geschichten von Prinzen, die kleine Prinzessinnen erlösten. Oder von einem schwarzhaarigen, schönen jungen Mann, der ein armes Mädchen reich machte, weil er es innig liebte. Es gab viele verschiedene Varianten. Tessy las seit kurzem die alten Heftchenromane ihrer Mutter. Natürlich hielt sie alles für Wahrheit, was da stand. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis der schöne junge Mann sie holen würde. Tessy träumte vor sich hin, als sie ihren kleinen Bruder Hannes sah, der gerade unter den Johannisbeerstauden hervorkroch. Nein, dachte sie entsetzt, er hat es schon wieder getan! Hannes ging breitbeinig und in kurzen Hosen über den Hof.

„Hannes“, rief sie ihm zu, „warum machst du das immer. Du bist doch schon vier Jahre alt. Da macht man doch nicht mehr in die Hose!“ Sie überlegte kurz, ob sie herunterklettern sollte, ließ es dann aber. Sie wusste, dass sie ihren Bruder nicht schützen konnte und hoffte nur, dass die Folgen nicht allzu schlimm ausfallen würden. Hannes verschwand im Haus. Kurz darauf hörte Tessy das Motorengeräusch und wenige Augenblicke später fuhr der Opel Admiral in den Hof. Tessy wagte kaum zu atmen. ER war zu früh dran. Hannes hatte keine Chance, seinem Strafgericht zu entkommen. Sie hielt sich die Ohren zu, obwohl ER das Auto noch gar nicht verlassen hatte. Einige Minuten geschah gar nichts. ER war ausgestiegen und ins Haus gegangen. Tessy saß ganz still auf ihrem Ast, still und ohnmächtig. Was immer auch geschehen mochte, sie konnte es nicht ändern, denn ER war groß und stark. ER konnte sie alle umbringen, wenn er es wollte. Tessy liebte ihren kleinen Bruder sehr. Aber sie konnte nichts für ihn tun. Dann geschah es: Er kam aus dem Haus mit Hannes, den er wie einen Hasen am Genick gepackt hatte. Ihr kleiner Bruder machte keinen Mucks. Es war, als sei er in eine Art Totenstarre gefalle wie ein Tier. ER zog den Gartenschlauch zu sich heran.. „So, nun zeig ich dir, was man mit Kindern macht, die mit vier Jahren noch absichtlich in die Hose kacken“, schrie er. Hannes bewegte sich nicht. ER drehte den Wasserhahn auf. Für einen kurzen Moment ließ er das Kind los. Dann zog er ihm die Hose herunter und der eiskalte Wasserstrahl traf auf den kleinen Hintern. Hannes schrie plötzlich gellend. Tessy hielt sich die Ohren zu. Dann fing sie an zu singen. „In Montana, in den Bergen, steht ein Haus am Waldesrain und dort war ich froh und glücklich, ich und meine Caroline...“ Je mehr der kleine Junge schrie, umso lauter sang sie, die Hände an die Ohren gepresst: „oh my Darling Caroline.” Sie vergaß den Text, stimmte jedoch sogleich ein anderes Lied an:

 

„Ich will ´nen Cowboy als Mann,

ich will ´nen Cowboy als Mann“.

Auch die Fortsetzung dieses Liedes fiel ihr nicht mehr ein. So wiederholte sie abwechselnd die Bruchstücke, die ihr in den Sinn kamen:

 

 „In Montana, in den Bergen,

ich will ´nen Cowboy als Mann,

ich will ´nen Cowboy als Mann.

In Montana, in den Bergen.“

 

Teresa hatte den Wecker nicht gehört. Sie hatte eine Stunde zu lange geschlafen und war jetzt in Eile. Das Frühstück musste ausfallen. Hastig schlüpfte sie in Hose und Pullover. Ihr Kater Mikesch maunzte vor der Haustür. Teresa strich kurz über sein warmes Fell, bevor sie ihn hinausließ. Dann schloss sie von außen die Tür und machte sich auf den Weg ins Heim. Der Schnee von gestern war liegengeblieben, so dass das Städtchen aussah wie frisch gewaschen. Aus den Schornsteinen stiegen feine weiße Rauchsäulen empor. Alles sieht so unschuldig aus, dachte Teresa. Sie wählte heute nicht die Abkürzung über die Wiese, obwohl das Zeit gespart hätte. Sie würde es auch so noch rechtzeitig schaffen. Ungeduscht und ohne etwas im Magen, hastete sie die Straßen entlang, vorbei an der Kirche, dem Kindergarten und dem Rathaus. Als sie im Heim eintraf, schlug die Kirchturmuhr acht Mal. Sie eilte zu ihrem Spind um sich umzuziehen. Bevor sie die Tür öffnete, flatterte ein kleiner Zettel auf den Boden. Teresa hob ihn auf. „Heute Abendessen bei mir“, stand da, daneben befand sich ein kleines Herzchen, in dem geschrieben stand: „Ich freue mich, Tom“. Teresa schob den Zettel in ihre Hosentasche. Sie würde ihm den Gefallen tun. Vielleicht gab er dann Ruhe. Bevor sie ins Schwesternzimmer eilte, fiel ihr ein, dass Tom ja heute seinen freien Tag hatte. Er würde also genug Zeit haben, für sie beide zu kochen. Wenig später brachte Teresa ihren Heimbewohnern das Frühstück. Ihr selber knurrte der Magen. Aber da musste sie jetzt durch. Sie ging in das Zimmer von Frau Behrens. Das Bett war unbenutzt und die alte Dame nicht da. Teresa schüttelte amüsiert den Kopf. Natürlich ist sie wieder beim Bader, dachte sie. Als sie dessen Zimmer betrat, fand sie die beiden Alten friedlich aneinandergekuschelt im Bett. Er hatte den Arm fest um ihre Taille geschlungen. Sie schliefen beide. Ein Bild des Friedens. Teresa ließ sie in Ruhe. Sie stellte das Tablett auf den Nachttisch und zog sich zurück. Jetzt war der Alte dran, der sie geschlagen hatte. Teresa überlegte kurz, ob sie eine Kollegin schicken sollte. Ob er die auch angreifen würde? Oder hatte er es nur auf sie abgesehen? Es konnte aber auch nur ein Ausrutscher gewesen sein. Der Alte war erst vorgestern ins Heim gekommen. Aggressionen waren an der Tagesordnung bei den Heimbewohnern, zumindest bei den demenzkranken. Und auch sexuelle Übergriffe der alten Männer. Sie fassten den Kolleginnen an die Brust oder tätschelten ihnen den Hintern. Wenn auch das Hirn nicht mehr funktionierte. Weiter unten funktionierte es bis zum Schluss. Teresa nahm ihren Mut zusammen, klopfte kurz an und betrat dann mit dem Tablett den Raum. Der Alte schien zu schlafen. Jedenfalls bewegte er sich nicht. Sein Gesicht war zur Wand gedreht. Die Augen waren geschlossen. Er atmete ruhig. Terese stellte das Tablett auf dem Nachttischchen ab. Danach betrachtete sie ihn kurz. „Kotzbrocken“, dachte sie. „Du würdest wahrscheinlich keinem fehlen, wenn du nicht mehr aufwachen würdest“. Sie näherte sich ihm, packte ihn kurz an der Schulter und schrie in sein Ohr: „Guten Morgen, das Frühstück ist fertig!“ Er fuhr hoch, blickte irritiert um sich, bis er das Gesicht wahrnahm, das ihn angeschrieen hatte. Eins zu Null für mich, dachte Teresa. „Du schlägst mich und ich schreie dich an.“ Sicherheitshalber war sie vom Bett des Alten zurückgetreten. Bei diesem Abstand konnte er ihr nicht gefährlich werden. Aber sie täuschte sich. In Windeseile griff er nach dem Tablett und warf es nach ihr. Teresa war so erschrocken, dass sie gar nicht reagieren konnte. Brötchen, Marmelade, Butter und Kaffee vermischten sich auf ihrer weißen Dienstkleidung. Der Kaffee tropfte von ihrer Brust herunter. „Es reicht“, dachte Teresa. Sie holte aus, wollte ihm ins Gesicht schlagen. Doch er fing den Schlag geschickt ab, indem er ihren Arm festhielt wie in einem Schraubstock. „Lass mich los“, schrie sie ihn an. Der Alte dachte nicht daran. Boshaft grinste er ihr ins Gesicht. Dann sabberte er etwas, das sie nicht verstand. Teresa versuchte sich zu befreien, hatte aber keine Chance. Er zog sie zu sich heran. Dann äffte er sie laut und deutlich nach: „Guten Morgen, das Frühstück ist fertig!“

Anschließend lachte er mit seinem zahnlosen Mund. Dann ließ er sie so plötzlich los, so dass sie nach hinten taumelte und sich an einem Stuhl festhalten musste, um nicht zu fallen. Sie zitterte am ganzen Körper. Woher nur hatte dieses Monster eine solche Kraft!? Es dauerte einen Moment, bis Teresa wieder sprechen konnte. Sie wusste, dass sie sich höchst unprofessionell verhielt. Das war ihr aber jetzt egal.

„So, sagte sie, das war also dein Frühstück! Kriegst du eben nichts heute!“

Dem Alten schien es egal zu sein. Nach dem Angriff hatte er sich wieder zur Wand gedreht und die Augen geschlossen. Teresa holte Putzzeug. Sie hob Tablett, Scherben und Nahrungsmittel auf und wischte anschließend den Boden. Der Alte störte sie nicht mehr. Er befand sich im Land der Träume..

Tom brachte eine Schüssel mit grünem Salat. Teresa nahm sie ihm ab und stellte sie auf den Tisch. Vor einer Stunde war sie angekommen. Sie war sehr hungrig nach dem anstrengenden Tag im Heim. Teresa sah dem attraktiven Mann nach, der sich anschickte, wieder in der Küche zu verschwinden. Überhaupt wirkte er ein wenig fremd auf sie außerhalb ihres gemeinsamen Arbeitsplatzes. Sie war neugierig gewesen auf ihn und seine Wohnung. Es war schwer, sich von Tom ein Bild zu machen oder ihn einzuschätzen. Er wirkte auf Frauen mit seinem unwiderstehlichen Charme und seinem Lächeln, das er in sein Gesicht zaubern konnte, wann immer er es für angebracht hielt. Teresa fragte sich, warum er gerade an ihr einen Narren gefressen hatte. Sie, die 15 Jahre älter war als er. Hatte er einen Ödipus-Komplex? Teresa sah sich in dem Wohn-Ess-Zimmer um. Ikea-Möbel, dachte sie. Was sonst? Aber er hatte die Farben gut gewählt und sogar die Vorhänge passten. Tom kam wieder ins Zimmer, eine dampfende Schüssel Spaghetti in der einen Hand. In der anderen balancierte er die Soßenschüssel. Lächelnd stellte er beides auf den Tisch und setzte sich dann. Ganz Gentleman schenkte er Teresa Rotwein nach, bevor sie mit dem Essen begannen.

Warum gerade ich?, dachte Teresa. Weshalb hat er nicht eine jüngere und hübschere Kollegin eingeladen? Laut fragte sie ihn, wie lange er schon in ihrem Heim arbeitete.

„Seit drei Jahren“, antwortete Tom. „Ich brauchte nach meiner Scheidung einen Tapetenwechsel und habe aus der Zeitung erfahren, dass hier Altenpfleger gebraucht würden. Ich hab nicht lange überlegt und bin von München hierher gezogen. Der Vorteil ist, dass ich meiner Ex nicht ständig über den Weg laufe. Versteh mich nicht falsch, ich habe nichts mehr gegen sie. Wir haben uns arrangiert. Aber sehen möchte ich sie nicht mehr jeden Tag. Andererseits ist es nicht einfach, jedes Mal 120 Kilometer zu fahren, um meine Tochter zu besuchen. Wenn ich am Wochenende Dienst habe, klappt es sowieso nicht und ich muss dann wieder eine Woche warten.“ Teresa war erstaunt. Klar, vom Alter her konnte er natürlich Kinder haben – aber es passte irgendwie nicht zu dem Bild, das sie bisher von Tom gehabt hatte.

„Wie alt ist deine Tochter?“

„Sie wird 12.“ In seinen Augen lag ein trauriger Ausdruck. Teresa spürte, dass es ihm nicht leicht fiel, über dieses Thema zu sprechen. Doch einen Moment später lächelte er schon wieder.

„Magst du Musik hören?“ Er wartete die Antwort nicht ab. Stattdessen sprang er auf und suchte in seinem Ikea-Regal nach passender Musik. Wenig später erfüllte die Stimme von Elton John den Raum:

 

„It´s a little bit funny this feeling inside

I´m not one of those who can easily hide

I don`t have much money but boy if I did

I´d buy a big house where we both could live….”

“Du magst Elton John?” Der ist doch gar nicht sein Jahrgang, dachte Teresa. Oder hatte er gemeint, sie würde ihn mögen?

„Ja, ich bin ein Elton-John-Fan. Ich finde ihn einfach genial!“

„If I was a sculptor, but then again, no

Or a man who makes potions in

A travelling show.

I know it´s not much but it´s the best I can do.

My gift is my song and this one´s for you.”

 

Teresa hörte zu und aß die Spaghetti Arrabiata. Die Soße war für ihren Geschmack etwas zu scharf. Das sagte sie aber nicht. Auch Tom schwieg. Er schien tief in seine Gedanken versunken. Als er später den Tisch abräumte, fragte er sie, ob sie Lust hätte, zu tanzen.

„Später vielleicht“, meinte Teresa. Sie war so schön satt und es fühlte sich wohlig und warm an mit Tom in seiner Wohnung. Sie hatte keine Lust, jetzt aufzustehen.

Als Tom aus der Küche zurückkam, fragte er sie: „Wie bist du denn auf die Idee gekommen, Altenpflegerin zu werden? Du hast das doch nicht dein Leben lang gemacht, oder?“

„Wieso, sieht man mir das an?“ Theresa war erstaunt.

„Na ja“, meinte Tom, „du wirkst so... wie soll ich sagen, ladyhaft, trägst teuere Klamotten und hältst dich im Heim immer ein wenig abseits von den Kollegen.“

„Die halten mich also für arrogant?“ Teresa war ein wenig gekränkt. Ihr selber war das noch gar nicht aufgefallen.

„Ich meine das nicht negativ“, versuchte Tom die Situation zu retten, als er ihren Gesichtsausdruck sah.

Teresa winkte ab. Sie wollte nicht über ihr Leben sprechen. Warum hatte Tom die schöne Atmosphäre zerstört?

„Ich fühle mich ganz gut und richtig mit dieser Arbeit“, sagte sie. „Klar, manchmal ist es hart, wie heute zum Beispiel...“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Aber Tom hakte sofort nach. „Was war denn?“

„Der Neuzugang auf Zimmer 8. Er schikaniert mich. Genauer gesagt, er hat mich zweimal angegriffen.“

„Was?“ Tom schüttelte den Kopf. „Zu mir war der ganz friedlich. Wie hat er dich denn angegriffen, verbal oder körperlich?“

„Er hat mir einen Schlag auf die Brust verpasst. Und er hat nach mir mit dem Frühstückstablett geworfen.“ „Bekommt der denn keine Medikamente? Ich meine die Beruhigungsmittel?“ Tom schien verwundert. Plötzlich schien ihn aber dieses Thema nicht mehr zu interessieren. Er lächelte sie an und fragte noch einmal, ob sie mit ihm tanzen wollte. Er drehte die Musik lauter, zog Teresa von ihrem Stuhl hoch und tanzte mit ihr.

Auf dem Heimweg kam Teresa am Altenheim vorbei. Sie dachte an den alten Mann und fragte sich, warum dieser Stinkstiefel nur zu ihr so grob war, obwohl sie wusste, dass sie darauf keine Antwort finden würde. Es konnte sein, dass ihm ihre Nase nicht gefiel oder ihr Gang oder ihre Stimme. Vielleicht sogar ihr Geruch. Das erlebte man oft bei demenzkranken Menschen. Man wusste nicht, worauf sie reagierten, weil sie es selber nicht wussten oder sagen konnten. Es konnte sich um ein traumatisches Erlebnis in der Vergangenheit handeln, eine bestimmte Stimmlage, eine Farbe an ihrer Kleidung. Es würde auch in diesem Fall ein Geheimnis bleiben. Teresa wusste nicht zu sagen, was sie gerade an diesem Alten so anmachte, so verwirrte. Spontan ging sie auf das Heim zu. Um diese Zeit waren die Türen verschlossen. Teresa hatte aber einen Schlüssel und betrat über einen Nebeneingang das große, alte Gebäude. Es herrschte eine ungewohnte Stille auf den Gängen. Die Bewohner schliefen längst. Die Nachtschwester war nirgendwo zu sehen. Vor Zimmer 8 blieb Teresa stehen. Sie fragte sich, was sie hier machte, mitten in der Nacht. Obwohl sie keine Antwort auf diese Frage fand, drückte sie die Türklinke nieder und verharrte dann kurz. Völlige Stille. Nicht das leiseste Geräusch drang aus dem Raum. Teresa ließ die Tür einen Spalt offen, so musste sie kein Licht anmachen, weil die Deckenbeleuchtung im Gang den Raum so weit erhellte, dass sie die Umrisse der Möbel erkennen konnte. Sie quetschte sich vorbei an einem Rollstuhl, den eine Kollegin vergessen hatte, auf die Seite zu stellen. Dann stand sie vor seinem Bett. Sie beugte sich über den Alten, der leise und ruhig atmete. Teresa betrachtete lange seine Züge. Niemand hatte die Vorhänge zugezogen, so dass das Licht der Straßenlaterne genug Helligkeit bot, um ihn genauer ansehen zu können. Er sah so unschuldig aus. Lass dich nicht täuschen, dachte sie. Er ist boshaft und verschlagen. Etwas in ihr wollte ihn in Schutz nehmen. Vielleicht ist er tatsächlich so verwirrt, dass er nicht weiß, was er tut oder sagt. Ihr Gefühl aber sagte ihr etwas anderes. Ihr Gefühl sagte ihr, dass dieser Mann sie kannte, dass er sich absichtlich so verhielt. Sie spürte, wie kalte Wut in ihr aufstieg. Verwirrt fragte sie sich, warum sie sich von diesem alten Mann so sehr reizen ließ. Er war doch bei weitem nicht der Einzige, der sich aggressiv verhielt. Trotzdem... Teresa erschrak, als sich der Alte plötzlich mit einem Seufzer auf die andere Seite drehte. Er kam ihr nun wie der Teufel persönlich vor, unberechenbar und hinterlistig. Er sieht jemandem ähnlich, nur wem? Sie grübelte, während sie ihn weiterhin nicht aus den Augen ließ. Die Hakennase, der schmale Mund, die schütteren Haare. Alles an ihm kam ihr bekannt vor. Doch es wollte ihr nicht einfallen, woher sie ihn kannte. Wie hieß er doch gleich? Josef Bruckner. Genau. Teresa wühlte in ihrem Gedächtnis, konnte aber mit dem Namen nichts anfangen. Ich kenne ihn, ich kenne ihn, dachte sie immer wieder. Aber woher? Sie kam nicht drauf. Vielleicht gab es im Heim ja eine Biographie von ihm. Viele Bewohner hatten eine, erstellt von den Angehörigen. Das Pflegepersonal konnte dann, so weit wie möglich, den individuellen Bedürfnissen der alten Menschen nachkommen. Sie wurden in den Pflegealltag integriert. Teresa nahm sich vor, übermorgen, wenn sie wieder Dienst hatte, danach zu schauen. Ein paar Minuten blieb sie noch am Bett des Alten und sah ihm beim Schlafen zu. Sie wollte gerade gehen, als er plötzlich laut und deutlich sagte:

„Ich bringe dich um.“

Teresa glaubte, sich verhört zu haben, denn der Alte hatte seine Position nicht verändert. Seine Augen waren nach wie vor geschlossen, der Mund zu einem schmalen Spalt zusammengepresst. Sie war sich plötzlich nicht mehr sicher. Hatte er den Satz wirklich ausgesprochen oder spielte ihr ihre Phantasie einen Streich? Sie war unsicher. Sie traute sich selber nicht mehr. Sie warf einen letzten Blick auf den scheinbar schlafenden Mann. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und verließ fluchtartig das Zimmer, rannte über den stillen Gang hinaus in die frische Luft.

Daheim angekommen, suchte Teresa nach Decken. Ihr war schrecklich kalt. Sie hatte im ganzen Haus die Heizung aufgedreht, was sie sonst nie tat. Es war einfach zu teuer. Sie meinte, noch nie im Leben so gefroren zu haben. Ins Bett zu gehen, hätte jetzt wenig Sinn. Dazu war sie zu aufgedreht. Sie dachte an Tom. Sie fühlte sich geschmeichelt von seinem Interesse an ihr. Nie hätte sie gedacht, dass sie sich noch einmal verlieben könnte. Die bisherigen Beziehungen mit Männern hatten nie lange gedauert. Immer hatte sie das Gefühl gehabt, ihre Liebe würde nicht ausreichen oder umgekehrt. Und Tom? Konnte Teresa seine Verliebtheit ernst nehmen? Und wenn sie sich darauf einlassen würde. Was dann? Ging es schief, würde es schwierig werden, wenn man zusammen arbeitete. Andererseits, was hatte sie zu verlieren? Teresa wickelte sich in ihre Decken. Langsam erwärmte sich ihr Körper. Mikesch schnurrte zu ihren Füßen. Teresa träumte. Es war einfach wunderbar, wieder begehrt zu sein, sich als Frau zu fühlen. Sie wollte sich auf ihn einzulassen und alle Vernunft die gegen eine Verbindung mit einem jüngeren Kollegen sprach, beiseite wischen. Ja, es ist ein gutes Gefühl, dachte sie, bevor sie auf ihrem Sofa einschlief.

Am nächsten Tag stand der Hausputz an. Teresa fegte zuerst den Schnee, der in der Nacht gefallen war und die Einfahrt bedeckte, fort. Danach putzte sie die Küche und das Wohnzimmer. Später ging sie nach oben. Es gab einen Raum in ihrem Haus, den sie fast nie betrat. Es handelte sich um ein spärlich möbliertes Zimmer neben ihrem Schlafzimmer. Die Einrichtung bestand aus einem alten Sofa, einem Schrank, einer Kommode und einem alten Bett. Eine Musikbox aus den fünfziger Jahre komplettierte das Zimmer. Teresa nahm den Staubsauger. Nachdem sie gesaugt hatte, wischte sie mit einem Lappen über den Schrank, die Kommode und die Musikbox. Einer Eingebung folgend, öffnete sie den Schrank. In einem der Seitenfächer fand sie alte Fotoalben. Sie hatte keine Erinnerung daran, wie lange sie schon da drinnen lagen. Es musste Jahrzehnte her sein. Teresa nahm die Alben mit nach unten ins Wohnzimmer und blätterte darin herum. Ein Foto fiel heraus, das sie als Kommunionkind zeigte. Versonnen betrachtete sie das vergilbte Foto. Sie sah sich darauf überhaupt nicht ähnlich, fand sie. Aber damals war sie ja ein Kind gewesen. Sie blätterte weiter, fand eine Gruppe von Männern und Frauen, die unnatürlich in die Kamera lächelten. Im Hintergrund sah man ihr Haus, das damals noch weiß gestrichen war. Teresa hatte keine Ahnung, wer da alles abgebildet war. Sie sah sich die Gesichter genauer an. Je länger sie das Foto betrachtete, umso bekannter kam es ihr sie vor. Trotzdem konnte sie die meisten Gesichter der Personengruppe nicht einordnen. Sie meinte, eine Freundin ihrer Mutter wiederzuerkennen, war sich aber nicht sicher. Sie blätterte weiter. Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Betrachtungen. Tom rief vom Heim aus an. Teresa freute sich, seine Stimme zu hören.

„Wie geht es dir nach dem gestrigen Abend?“

„Gut“, antwortete Teresa. „Sehr gut sogar. Es ist lange her, dass mich ein Mann zum Essen eingeladen hat.“

„Wir können das jederzeit wiederholen“, meine Tom. „Ich komme auch gerne zu dir.“

Teresa lächelte. „Ich fürchte, dass du von meinen Kochkünsten nicht begeistert sein wirst. Das war noch nie meine Stärke. Aber wenn du eine Vergiftung riskieren willst...“

„So schlimm wird es bestimmt nicht werden“. Aber was ich dir eigentlich sagen wollte, der alte Bruckner ist nicht mehr da. Sie haben ihn heute Nacht ins Krankenhaus gebracht. Du wirst also in nächster Zeit deine Ruhe vor ihm haben.“

„Hoffentlich“, meinte Teresa. „Von mir aus braucht der alte Kotzbrocken nicht mehr wiederzukommen.“ Teresa war von der Nachricht erleichtert. Sie tauschten noch ein paar Albernheiten aus, bevor Tom das Gespräch beendete. Teresa blätterte weiter in den Fotoalben. Und plötzlich erkannte sie ihn! Er stand ganz hinten, links, am Rand des Bildes. Natürlich war er viel jünger und trotzdem, es bestand kein Zweifel. Der Mann, der sich halb hinter der Gruppe versteckt hielt, war Josef Bruckner. Die Hakennase, der schmale Mund, die schütteren weißblonden Haare, der listige Gesichtsausdruck. Das war Josef Bruckner! Sie hatte sich also nicht getäuscht. Sie kannte ihn. Nur, woher? Teresa suchte in ihrem Gedächtnis, fand aber keine Antworten. Und obwohl sie nach einer Weile das Album weglegte, verfolgte sie der Gedanke an Josef Bruckner den ganzen Tag lang.

 

In den sechziger Jahren

Tessy saß über ihren Hausaufgaben. Sie wäre so gerne nach draußen gegangen in den herrlichen Sonnenschein. Sie wollte spielen oder sich Geschichten ausdenken. Nur nicht hier drinnen sitzen am Wohnzimmertisch und an dem blöden Aufsatz arbeiten. Ihre Mutter hantierte in der Küche herum. Hannes war im Kindergarten. Gott sei Dank war Tessy sehr begabt. Sie musste nicht viel lernen, gute Noten flogen ihr eher zu. Sie kritzelte weiter auf ihrem Blatt herum. Plötzlich steckte ihre Mutter den Kopf durch die Tür, die, wie immer, einen Spalt breit offen stand.

„Wenn du fertig bist, gehst du nach oben und staubst dein Zimmer ab. Ich muss in einer halben Stunde wieder im Geschäft sein. Nachher holst du Hannes vom Kindergarten ab.“

Die Leute sagten, sie sähe ihrer Mutter ähnlich. Sie hatte die gleichen intensiven blauen Augen, die schmale Nase und die dunkelbraunen Haare wie sie. Das hatte ihr den Spitznamen „Schneewittchen“ eingebracht. Tessy packte ihre Schulsachen zusammen und rief ihrer Mutter zu.: „Ich bin fertig“. Das war gelogen. Aber sie musste keine Angst haben aufzufliegen, denn niemand zu Hause kontrollierte ihre Schulaufgaben. Das Kind hüpfte in die Küche zu seiner Mutter, holte sich Staubwedel und Putztücher ab und ging die Treppe hoch in sein Zimmer. Zimmer war ohnehin zu viel gesagt. Es war mehr eine Kammer mit Bett, Schrank, Kommode und einer Musikbox, in der Tessy ihre Schallplattensammlung aufbewahrte. Sie nahm den Staubwedel und wischte über das Fensterbrett. Das ist so langweilig, dachte sie, ging zur Musikbox und öffnete sie. Die Schallplatten lagen unordentlich auf einem Haufen. Tessy fing an, sie zu sortieren. Es konnte nicht mehr lange dauern bis ihre Mutter weg war und dann hatte sie freie Bahn und konnte Plattenhören. Rex Gildo, Gitte und Roy Black gehörten zu ihren Lieblingsinterpreten. Als die Haustür ins Schloss fiel, legte Tessy die erste Platte auf. Sie nahm den Staubwedel und hielt ihn sich wie ein Mikrophon vor den Mund. „Geh´n Sie aus, im Stadtpark die Laternen“, sang sie lauthals und war überzeugt davon, dass sie eine große Karriere als Schlagersängerin machen würde. Reich und berühmt würde sie werden. Sie müsste sich nie um Geld streiten wie ihre Eltern das regelmäßig taten. Besonders ihre Mutter klagte stets über Geldnöte. Ihren Mann nannte sie einen „faulen Sack“, der nichts als Weiber im Kopf hatte, der rechthaberisch und zornig war und nicht kapieren wollte, was sie, seine Frau, alles für ihn tat. Ein herrschsüchtiger Tyrann, sei er. Als Frau hätte man leider nicht viele Möglichkeiten, meinte ihre Mutter. Und die Männer hätten das Sagen. Sie herrschten über die Frauen, seit Gott sie geschaffen hatte. Schließlich sei die Frau aus der Rippe des Mannes erschaffen worden. Frauen seien halt nicht viel wert. Über mich herrscht niemand, wenn ich erwachsen bin, dachte Tessy. Sie würde niemals das Eigentum eines Mannes sein so wie ihre Mutter. Sie würde nie, niemals auf einen Ernährer angewiesen sein und die Lebensweisheiten ihrer Mutter: „Das Leben ist ein Kampf. Und machen kann man sowieso nichts“, würden in ihrem Leben nie Gültigkeit besitzen. Reich und berühmt werden, war das, was Tessy anstrebte. Natürlich würde sie einen Mann finden aber der würde sie nur lieben, ganz und gar. Er würde ihr nicht widersprechen, sondern vor ihren Füßen knien und ihr jeden Tag rote Rosen schenken. Tessy hatte sogar schon einen Verehrer. Kurti, so hieß der Nachbarjunge, drückte sich ständig in ihrer Nähe herum. Neulich hatte er gefragt, ob er sie küssen dürfe. Aber Tessy hatte abgelehnt. Kurti war weder schön noch reich. Er würde ohnehin für sie nicht in Frage kommen.

Tessy vergaß die Zeit. Sie vergaß auch, ihren kleinen Bruder vom Kindergarten abzuholen. Erst zwei Stunden später fiel es ihr wieder ein. Verdammt, es war zu spät! Tessy fiel beinahe die Treppe hinunter, so eilig hatte sie es. Der Weg zum Kindergarten dauerte zehn Minuten. Tessy rannte. Als sie endlich ankam, traf sie dort kein Kind mehr an. Wo war Hannes? Tessy lief den Weg zurück, konnte ihn aber nirgends entdecken. Sie drehte um und lief noch einmal zurück zum Kindergarten, dann über einen anderen Weg nach Hause. Ihr kleiner Bruder musste doch irgendwo sein! Nach dem vierten Versuch gab sie auf. Vielleicht war Hannes ja allein heimgegangen und sie machte sich umsonst Sorgen um ihn. Als sie am Küchenfenster vorbeiging, hörte sie von drinnen das Geschrei ihrer Mutter. Tessy spähte vorsichtig durch das Glas. Drinnen sah sie ihre Mutter, wie sie mit einem Waschlappen die Stirn des kleinen Hannes abtupfte.

„Das Knie hat er sich auch aufgeschlagen“, lamentierte sie. „Warum hat dieses Luder den Kleinen nicht abgeholt!“ Aus einer Ecke des Zimmers kam Er plötzlich zum Vorschein.

„Das hält der Hannes schon aus“, sagte er. „Ein richtiger Mann kennt keinen Schmerz!“

„Schuld ist nur sie“, schrie die Mutter. „Dabei habe ich ihr ausdrücklich gesagt, dass sie Hannes abholen muss!“

„Die kann was erleben, wenn sie heimkommt.“

Er blickte auf und sah Tessy geradewegs in die Augen. Auf dem Absatz drehte das Kind sich um. Flüchten, nur weg! Er würde sie umbringen! Tessy rannte auf die Straße. Hinter ihr fiel die Haustür ins Schloss. Sie wusste, dass Er sie verfolgen würde. Aber sie wusste auch, dass sie sehr schnell rennen konnte. Er würde sie mit seinem Bierbauch und seiner Kurzatmigkeit nicht so schnell einholen. Tessy rannte die Straße hinunter. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen. Von der Ferne drang das Geräusch eines fahrenden Autos zu ihr vor. Ohne sich umdrehen zu müssen, wusste sie, was es für ein Auto war. Sie erkannte dieses spezielle Schnurren des Opel Admiral. Sie erhöhte noch einmal ihr Tempo. Niemand war zu sehen. Kein Mensch außer ihr war auf der Straße. Es war nicht viel los hier, am Stadtrand. Wenn sie es schaffte, das Ende der Straße zu erreichen, konnte sie sich in einem Maisfeld verstecken. Tessys Lungen stachen. Und sie bekam auch Seitenstechen. Das Auto hinter ihr fuhr langsam. Tessy drehte den Kopf. Der Wagen war ganz nah und er bremste nicht ab! Tessy lief zum Straßenrand, stolperte und fiel in den Straßengraben. Das Auto hielt an. Er stieg aus. Er schien keine Eile zu haben. Das Kind lag im Straßengraben, zusammengekrümmt vor Angst. „Das Leben ist ein Kampf und machen kann man eh nichts“, dachte Tessy.

 

Auf dem Bett türmten sich Hosen, Jacken, Pullover, Blusen. Teresa hatte ihren Kleiderschrank leergeräumt. Sie nahm eine blaue Bluse, betrachtete sie und warf sie dann zurück auf den Kleiderstapel. Sie brauchte dringend neue Klamotten. Seit Jahren lief sie nur noch in Jeans und Pulli oder im Sommer in Jeans und T-Shirts umher. Nicht, dass sie jemals eitel gewesen wäre. Aber dass sie so gar nicht mehr auf ihr Äußeres geachtet hatte, war ihr nie so sehr aufgefallen wie jetzt. Sie stellte sich vor den Spiegel. Zum Friseur müsste ich auch mal wieder, dachte sie. Sie nahm ein Haargummi und band die schulterlangen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Neuer Mann, neue Klamotten, neues Glück, sinnierte Teresa. Glück? Glaubte sie wirklich daran? Schicksalsergeben nahm sie ihre beste Jeans vom Stapel und wählte dazu einen dunkelblauen Pullover. Es war noch das Beste, was sie finden konnte. Nicht die neueste Mode, aber es ging noch. Sie ließ den restlichen Stapel unbeachtet, schnappte sich die Handtasche und ging nach unten. Wild entschlossen griff sie zum Telefon und ließ sich einen Friseurtermin geben. „Schneiden und Strähnchen“, sagte sie der Friseurin am anderen Ende der Leitung. Sie bekam den Termin, sogar heute noch am späteren Nachmittag. Vorher wollte sie in die Innenstadt und sich neu einkleiden. Am Abend würde sie Tom treffen. Er hatte einen Tisch beim „Griechen“ reserviert. Teresa freute sich. In der vergangenen Woche waren sie dreimal beim Essen gewesen. Tom hatte sich gemerkt, dass Teresa nicht gerne kochte und deshalb immer einen Tisch bestellt. Sie waren beim Italiener, beim Griechen und im „Heuschuppen“ gewesen. Dort servierte man gehobene bayerische Küche. Auch im Heim lief alles bestens, seit der Alte in der Klinik war. Verdacht auf Schlaganfall, hatten die Kollegen erzählt. Es konnte dauern, bis Josef Bruckner wieder zurückkam. Noch dazu war es ja nicht der erste Schlaganfall. Teresa war es recht. Von ihr aus hätte der Alte nie mehr auftauchen müssen. Bevor sie das Haus verließ, nahm sie ihren Kater in die Arme. Sie legte sich die schnurrende Katze über die Schulter, drehte das Radio an und tanzte mit ihr durch die Küche zu dem Song „Unchained Melody“, ein uralter Schlager, den Teresa schon als junges Mädchen gekannt hatte. Unchained Melody und ihre erste Liebe, waren unzertrennlich miteinander verbunden:

„Oh, my love my darling I´ve hungered for your touch al long lonely time and times goes by so slowly and time can do so much are you still mine? I need your love I need your love

Godspeed your love to….”

 

 

 

 

 

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