Jesse: Licht und Schatten I

18,98
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Erleben einer Epoche aus der Sicht eines Genies

Der Maler Claude Monet – Impressionist der ersten Stunde – erwacht wieder zum Leben. Auch seine Freunde und Feinde kommen hervor aus ihren ruhmreichen Mausoleen – oder aus ihren vergessenen Gräbern, – gesellen sich ihm zu und machen sich mit Monet, dem ›Prinz der Impressionisten‹, noch einmal auf den gemeinsamen Weg zu dem größten Abenteuer ihres Lebens. Der Leser sitzt mit Monet und seinen Zeitgenossen aus Kunst, Literatur und Politik am selben Tisch; er hungert mit und er tafelt mit; er zecht mit und er streitet mit; er hasst mit und er liebt mit; er sieht Monet beim Malen über die Schulter; er erleidet die Ängste, die Ungewissheit und die Verunglimpfungen der frühen Jahre mit, er erlebt aber auch den späten Durchbruch Monets zu Ruhm und Reichtum mit. Claude Monet und alle seine bekannten und berühmten Wegbegleiter seiner Zeit werden in diesem raffinierten Werk wieder zum Leben erweckt.Mit Rezepten der alten französischen Küche, wie Claude Monet sie genießen konnte – zum nachkochen.

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Dr. Reiner Jesse

Nach seinem ›ersten Leben‹ als Facharzt für Herz- und Gefäßkrankheiten und nach seinem ›zweiten Leben‹ als Maler begann der Autor 2007 (geb. 1941) sein ›drittes Leben‹ – als Schriftsteller.›Licht und Schatten‹ ist – nach mehreren Buchveröffentlichungen – nun sein erster Roman, ein Roman um das dramatische Leben des Malers Claude Monet als Mensch und als Künstler in einem bewegten Jahrhundert. Nicht unbedacht hat der Autor gerade dieses Sujet gewählt. Zum einen sind ihm Krankheit, wie sie das Leben des Protagonisten in seinem letzten Lebensjahrzehnt verdunkelte, als Arzt bestens bekannt; zum anderen hat er sich als Maler vornehmlich von Monet und dessen ›wunderbarstem Auge‹ stets tief bewegt gefühlt. 

 

Reiner Jesse: Licht und Schatten, ca. 646 S., Broschur, € 18,98, ISBN 978-3-86992-045-0

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Leseprobe:

Prolog

DER SPIEGEL 18/1966 vom 04.04.1966, Seite 156

MONET

Wasserrosen unterm Dach

 

KUNST

Der Millionenschatz lag seit Jahrzehnten auf dem Dachboden – unbesehen und lediglich bewacht von einem alten Gärtner mit Hund. Doch vor kurzem war im nordfranzösischen Dorf Sorel-Moussel (Departement Eure et Loire) Wachablösung. Seither patrouilliert ein Aufgebot von Gendarmen um das Haus des alten Michel-Jaques Monet, der in seinem Leben für zweierlei berühmt war – als Sohn des impressionistischen Meister – Malers Claude Monet ( 1840 - 1926 ) und – als passionierter Automobilist. Letzten Februar raste er sich, Monet junior, 87, in seinem Auto zu Tode.

Als der Testamentsvollstrecker Yves Bourdon nach dem fatalen Unfall in Michel Monets Haus Inventur machte, fand er einen Schatz. Auf dem Dachboden waren insgesamt 91 Gemälde gespeichert, darunter ein Delacroix, mehrere Bilder von Auguste Renoir, Paul Signac und Edgar Degas sowie 42 Monets – 6 davon gehören zur Serie der „Wasserrosen”-Bilder, die auf dem Kunstmarkt besonders hoch im Kurs stehen. Ein „Wasserrosen”-Werk wurde vergangenes Jahr von der Londoner National Gallery für 1 600 000 Franc (etwa 1,3 Millionen Mark) erworben.

Wert der Gemäldestapel nach vorsichtiger Expertenschätzung: zwölf Millionen Franc.

Damit war noch nicht genug entdeckt. Vergangenen Monat inspizierte Maître Bourdon in Giverny (Departement Eure) das Haus Claude Monets, das der Maler in seinen letzten Lebensjahrzehnten bewohnt und gleichfalls seinem Sohn Michel hinterlassen hatte.

Und abermals wurde in aller Eile ein Polizeikordon angefordert. Bourdons neue Trouvaille: 46 Monets mit einem Schätzwert von 11 Millionen Franc. Der alte Gärtner hatte, zwischen den benachbarten Flecken Sorel-Moussel und Giverny pendelnd, auch diesen Schatz vierzig Jahre lang bewacht.

Ob während dieser vier Jahrzehnte die Bilder vollzählig blieben, ist ungewiss. Jedenfalls hat Monet-Sohn Michel nie eine Liste von ihnen angefertigt und konnte das auch nicht tun: Dank väterlicher Fürsorge ist er, ebenso wie sein 1914 verstorbener Bruder Jean, zeitlebens ein Analphabet geblieben. Vater Claude, ein guter Freund des „Tigers” Georges Clemenceau: „Ich bin in die Schule gegangen. Warum sollen das meine Söhne?”

Statt Lesen und Schreiben lernte Michel Monet Autofahren. Er ließ sich ständig neue Spezialkarosserien anfertigen, handelte mit Motoren und bestritt im Übrigen seinen Lebensunterhalt, indem er gelegentlich einen Claude Monet verkaufte. Für Malerei hat er sich nie interessiert.

Bisweilen allerdings gab sich der Auto-Fex von Sorel-Moussel, der in der Nachbarschaft den Ruf eines bösartigen Alten hatte, als Bilder-Experte: Besuchern, die sich ihm mit einem Monet unterm Arm präsentierten und ihn um ein Gutachten baten, versicherte er: „Das Bild ist echt. Ich werde es Ihnen bescheinigen.” Daraufhin hieb er einen Stempel mit der Inschrift „Gefälscht” mitten auf die Leinwand.

Dennoch wird Michel-Jaques Monet fortan als Wohltäter der schönen Künste gelten. In seinem endgültigen Testament, seinem zwölften, hat er die Pariser Académie des Beaux-Arts zu seiner Universalerbin eingesetzt.

Eine letzte Infamie freilich hat sich Michel Monet auch in seinem allerletzten Willen nicht verkneifen können: „Die größte und schönste Monet-Kollektion”, so forderte er, „muss im Musée Marmottan untergebracht werden.”

Das Pariser Marmottan-Museum, ein düsteres kleines Gebäude, ist nur von Juni bis Oktober geöffnet – und auch dann nur samstags und sonntags.

 

Erster Teil: Jahre des Glücks

 

 

Giverny – Vendig

1905 – 1908

 

 

 

»… Es gibt in diesen Gewässern die auf

dem Kopf stehende Spiegelung von Bäumen,

die wir selber nicht sehen, und dann wird

einem am Ende ein bisschen schwindelig und

man ist überrascht, dass man nicht an der

Decke geht und die Leute nicht auf dem

Kopf stehen sieht, die wie wir gekommen sind,

um diese irgendwie magischen Portraits von

zerbrechlichen Blumen, trügerischen Gewässern,

sich ständig ändernden Reflexionen,

rasch vorübereilenden Stunden und

flüchtigen Augenblicken zu bewundern.«

 

(Gérard d’Houville, anlässlich der Nympheas-Ausstellung 1909 in der

Galerie Durand-Ruel)

 

 

Kapitel 1
Im Zauber des Seerosenteiches

 

Die Schleier der Morgennebel, rauchblaue und durchsichtige Finger der schwindenden Nacht, lagen noch zwischen dem tief herabhängenden Geäst der Trauerweiden, das wie schwarzgrüne Kaskaden das Ufer des Sees einrahmte und bis auf den Wasserspiegel reichte. An einigen Stellen tauchten die schlaffen Zweige wie Arme von Wassernixen durch die spiegelnde Oberfläche des Sees, so als suchten sie in dessen Tiefe sich in den smaragdgrünen Fäden der Schlingpflanzen zu verkrallen, die vom dunklen, schlammigen Grund aufstiegen und unter der spiegelnden Oberfläche, dem rettenden Licht nahe, in langen Strähnen treibend der trägen Bewegung des Wassers wie wabernde, grüne Lohe folgten; – geheimnisvolle, – blaue, – grüne, Geister des Wassers, die Beschwörungsformeln lispelten und mit ihren langen, dünnen Armen aus der Tiefe heraufwinkten. – 

Ein kühler Hauch wehte an diesem frühen Morgen aus den Schatten unter den Bäumen, gesättigt mit dem Geruch nach feuchtem Kraut und kürzlich gemähtem Gras. Hinter dem Gitterwerk aus Baumgeäst stieg eine noch vom Morgendunst verhangene, vanillefarbene Sonne auf, in deren geschwächtem Licht die Laubmassen der Baumkronen dem bereits geblendeten Auge wie eine massive Wand aus gesättigtem, dunklem Ultramarin erschienen. Unter dieser blauen Schattenwand lag die Oberfläche des Teiches noch unbewegt. Das Wasser spiegelte dunkles, kühles Blau, aus dem in dieser frühen Morgenstunde schon hie und da die Teichrosen wie Inseln von silbrigem, saftigem Grün aufstrahlten. In der Kühle des Morgens waren ihre Kelche noch geschlossen.

Gegenüber der Schattenwand, bereits vom Abglanz der aufgehenden Sonne erfasst, spannte sich über den westlichen Abfluss des Teiches eine Japanische Brücke. Die Geländer, welche die elegante Schwingung des Bogens begleiteten, und die Spaliere für die üppig rankenden Glycinien muteten in der Umgebung fast fremd an. Es wollte scheinen, die Brücke sei aus einem japanischen Farbholzschnitt Utamaros oder Hiroshiges herausgeschnitten; Farbholzschnitte, wie man sie ehedem in der »Galerie Durand-Ruel« gesehen hatte. Ein mit der Vorgeschichte vertrauter Besucher mochte durchaus dem Eindruck erlegen sein, die Brücke sei tatsächlich einem solchen Farbholzschnitt entrissen worden und wie etwas Künstliches an diesen fremden, ihrer Form wie ihrem fernöstlichen, exotischen Charme unangemessenen Ort gewaltsam verpflanzt worden. Dieser Eindruck der ursprünglich kahlen Konstruktion – ehedem von einem nahezu giftig und künstlich anmutenden Grün »à la Paolo Veronese« – wurde jetzt allerdings durch die üppig rankenden, die Brücke gänzlich überwuchernden Glycinien gemildert, die mit den Kaskaden ihrer Blütendolden das tragende Gerippe verhüllten. Im ersten Tageslicht wirkten die Farben der Blütentrauben noch kraftlos und blass. Die weiße und mauve Färbung der Blütenkatarakte hatte im matten Widerschein der sich gerade hebenden Sonne noch eine fahle, fast graue Tönung ohne jenes Leuchten, wie es Blüten ansonsten im Lichte eignet. Nur die Blütendolden der hellblauen Glycinien erstaunten das Auge mit einem ungebrochenen Leuchten lichter Farbe wie Himmelsluft an einem klaren Sommersonnentag; an einem Tag, wie dieser noch frühe Morgen ihn zu bescheren versprach, auch wenn auf den breiten Blattfächern des Pestwurzes wie auch in den Schilfgräsern und im Bambus an den Teichufern, seitlich der Brücke, sich noch reichlich Tauperlen niederschlugen.

Das war die Stunde des Malers. Mit ihr begann sein Tagwerk. Ein Leben lang hatte diese Morgenfrühe mit ihren weichen Formen und mit ihren noch von den Schatten der Nacht gesättigten Blaus in kühlen, bis ins Violette und ins Grünliche reichenden Tönen sein Auge verzaubert. In Argenteuil und auch in Vétheuil war der Maler in solcher Morgendämmerung zu seiner Arbeit aufgebrochen; in jenen Jahren, da die Mesdames Not und Sorge noch seine ständigen Begleiterinnen waren; in jenen lange zurückliegenden Jahren, da er, von Feinden und Gläubigern gehetzt, kaum noch zu arbeiten vermocht und nicht gewusst hatte, wie er für das Brot des nächstens Tages sorgen  konnte.

 Die Welt da draußen glaubte, er liebe nur die hellen, satten, ungebrochenen Farben des Sonnenlichtes; das Zinnoberrot der Geranien und das dunkle Kadmiumrot der voll erblühten Rosen im hohen Mittag; das helle, an Zitronen erinnernde Gelb der Schwertlilien, oder das sattere und dunklere, oft schon ins Goldene spielende Gelb der seidigen, fast durchscheinenden Blütenblätter der zerbrechlichen Wasseriris. Diese Bilder, von farbigen Signalen stigmatisierte Gesichte, fesselten das oberflächliche, flüchtige Auge des Betrachters. Das hatte er immer wieder erfahren müssen. Die stillen Bilder aber, jene teils im Skizzenhaften verbliebenen, teils zum Tableau ausgearbeiteten Gemälde der Morgen- und der Abenddämmerung auf dem Wasser der Epte, ihre stumpfen, an Pastell erinnernden und wie Perlmutt irisierenden Blaus und Grüns der Bäume, die sich mit ihrem Laub über die Flussufer bis auf das Wasser neigten, jene Gesichte im fahlen Mauve der Morgennebel, die über der Flusslandschaft lagerten – jene stillen Bilder, die er vor acht oder vor neun Jahren von seinem Atelierboot aus gemalt hatte, diese nicht nur das Auge reizenden, sondern auch die Seele zu einem harmonischen Schwingen bringenden Gesichte – diese Gemälde wurden vom Betrachter meist einfach nur hingenommen, wenn nicht gar übersehen. –

 Der Maler hatte fünfzehn dieser Gemälde im Juni 1898, also etwa auf den heutigen Tag genau vor sieben Jahren, in der Galerie von Georges Petit ausgestellt. Die Gemälde brachten keinen Aufsehen erregenden Erfolg, auch wenn sein Freund Gustave Geffroy sie im »Le Journal« gefeiert hatte mit Worten wie: »Großartige Übergänge der Helligkeit« – »Tiefen des Himmels und des Wassers« –  »bläuliche Abdunkelungen und grünliche und goldene Aufhellungen des Blattwerkes« – »dunkle Formen« – »ferne Geister« – »geheimnisvolle Beschwörungen« – »transparente Spiegel«. Als Wortgeklingel ohne jeden nahrhaften Inhalt, als flache Lobhudelei ohne wirklichen Bezug zu den Bildern, als blutlose, intellektuelle Pflichtübung aus Freundschaft hat der Maler diese Auslassungen seines Freundes und Biografen abgetan. Niemand hatte genau hingesehen! Niemand hatte den Maler wirklich verstanden; sein Anliegen nicht, und seine mit seinen angestrebten Aussagen eng verknüpften, maltechnischen Probleme nicht. – 

Da wurde von ideologisch verblendeten Schreiberlingen behauptet, seine Palette kenne keine Erdfarben, gewissermaßen als höchste, reinste Farbdisziplin jener Malerei, die sie, übrigens völlig unsinnig, als »Impressionismus« zu bezeichnen pflegten. Für die Palette von Seurat und Signac – Freunde, die sich einst mit ihm auf den Weg in das Abenteuer eines neuen Sehens aufgemacht hatten – mochte dies gelten. Sie waren fast zu Theoretikern, zu Puristen geworden. Ihnen galten die fast an physikalisches Vorgehen gemahnenden Regeln mehr als das Ziel. Ihm galten die Regeln nichts! Er war als Maler empirisch veranlagt. Die Reinheit der Lehre, die Regeln galten ihm nichts! – Das Ziel zu erreichen: das war ihm alles, mit welchen Mitteln und Tricks auch immer. –

  Das Ziel? Das war für ihn der Erfolg, den flüchtigen Augenblick, der sich vor seinem Auge als Bild und in seiner Seele als Stimmung klar aufgebaut hatte, so genau und naturnah für alle Zeit auf die Leinwand zu bannen, dass auch Auge und Seele des Betrachters noch nach hundert Jahren zwingend das nacherleben und nachfühlen mussten, was ihn selbst einst flüchtig erregt und vergänglich verzaubert hatte. Dieses Ziel zu erreichen war ein schwerer, oft leidvoller und enttäuschender Kampf mit flüchtigen Gebilden; ein Kampf mit der »Augenblicklichkeit«, wie er das von ihm entdeckte Phänomen einst getauft hatte. – So, wie der erfolgreiche Sieg sich in seiner Phantasie darstellte, so konnte er ihn allerdings nahezu nie einfahren. Stets blieb zwischen dem Gebilde, das er auf die Leinwand zu bannen suchte, und seinem inneren Erleben – seiner Verzückung – stets blieb zwischen seinem Vermögen des Auges und seinem Traum der Seele ein Quäntchen Verlust, eine Kluft des Mangels an ersehnter, vollkommener Übereinstimmung. Daher rührte seine stetige Unzufriedenheit mit dem Erreichten. Daher rührten seine oft an Verzweiflung grenzenden, tiefen Depressionen, in denen er alles hinschmeißen wollte, in denen er nicht arbeiten konnte, in denen er sogar seine Werke – seine aus ihm in Kämpfen und Schmerzen geborenen Kinder – mit dem Messer, mit dem Pinsel und sogar mit dem Feuer wieder vernichtete, nur um nach einer Pause der Erholung und der Tröstung durch seine Familie und seine Freunde nochmals von Neuem den Kampf zu beginnen. Glücklich und zufrieden war er nur sehr selten. Die Dinge leicht zu nehmen war ihm nicht gegeben. Ein verbissener Ernst war sein hervorstechender Charakterzug. Lächeln, oder gar lachen, sah man ihn nie, oder nur sehr selten. –

Wenn doch die Schreiberlinge ihre blassen Nasen aus den Journalen und Folianten zögen! Wenn sie das, über was sie so gelehrt schrieben, einmal wirklich betrachten würden! Die ausgestellten Bilder, seine Gesichte der Morgen- und Abenddämmerung auf der Seine und auf der Epte! Dann hätten sie sehr wohl feststellen können, dass er durchaus Erdfarben benützte. Ja, dass er dieser bräunlichen, schmutzigen Farbtöne sogar dringend bedurfte! Obgleich ja nun wirklich keiner dieser Kritiker und Kunsthistoriker bestreiten mochte, dass er ein »Impressionist« sei, dass seine Malerei gewiss zum Inbegriff des »Impressionismus« geworden sei! Hätten diese Parasiten, so wollte er meinen, die von seinem Schweiße und von seinem Blute lebten – von jenen Säften, die er bei seiner Arbeit im Regen, in Kälte und in sengender Sonne so reichlich vergossen hatte – hätten sie richtig hingesehen, hätten sie – zum Beispiel auf einigen dieser Bilder der Morgenstimmungen auf der Seine oder auf der Epte – die linke Uferpartie genau betrachtet, diese Schattenmasse der überhängenden Bäume und deren vom Ufer nicht abgesetzte Spiegelung gleicher Färbung im Wasser, die von einzelnen hellen, grünblauen und fliederfarbenen Akzenten verwaschen aufgelockert wurde – hätten diese Schreiberlinge diese Schattensilhouette nur einmal genau betrachtet! Sie hätten sehr wohl die teils flächig gewischten, teils scharf gezwirbelten Pinselspuren von gebrannter Siena und grünlichem oder rötlichem Umbra wahrgenommen. Diese erdigen Töne, die das reine Blau, Violett und Grün der Schattenzonen jener Bilder durchpflügten! Jener Bilder, die er in den von mäandernden Armen der Seine und der Epte durchsetzten Niederungen 1896 und 1897 gemalt hatte! Erst diese erdigen Farben ließen als milder Kontrast das Blau, das Grün, das Violett und das Mauve aus sich heraus leuchten und schillern. Durch ihren Kontrast erst konnten die blauen, violetten und grünen Töne im Auge und in der Seele zur Symphonie reiner Farben werden. Dieser simple, von keinem der gelehrten Herren wahrgenommene, dieser ganz einfache maltechnische Trick: das waren die »fernen Geister«, die »geheimnisvollen Beschwörungen«, die »transparenten Spiegel«, denen sein Freund Geffroy so abgehoben von der handwerklichen, alltäglichen Wirklichkeit des Malers huldigte. Der Maler aber kannte sehr wohl den Rat des großen Tizian: »Beschmutze Deine Farbe!« –

 

Als die Sonne ein wenig höher gestiegen war und erste, golden gleißende Lichtkringel durch das immer noch dunkelblaue Laubwerk und Geäst der Trauerweiden auf dem Wasserspiegel des Teiches aufglühten – zaghaft zwischen den Inseln der Seerosen – öffnete sich die Türe des Hauses jenseits der Straße und der schmalen Schienentrasse der kleinen Eisenbahn von Gisors am Oberlauf der Epte nach Vernon, die den Teich und den Wassergarten von dem einst von steinernen Mauern, jetzt aber von immergrünen Hecken umgrenzten Garten trennte. Dieser Garten, ehemals ein typisch normannischer Bauerngarten der Gegend um den kleinen Weiler Giverny – ein »clos normand« – war in strengeren Formen als der Wassergarten angelegt. Der Maler hatte das einst von Mauern umgrenzte und mit Obstbäumen wahllos bepflanzte Feld, das von den Einheimischen »Le Pressoir« – »Die Kelter« – genannt wurde, zu einem Garten mit zu allen Jahreszeiten abwechselnd blühenden Gewächsen umgestaltet. Die überalterten, fast dürren Bäume mit Cidre-Äpfeln waren gefällt worden. Auch die Nadelgehölze, insbesondere die großen Thuja, die der Hausherr absolut nicht mochte, waren Axt und Säge zum Opfer gefallen. Nur die beiden schwarzen Eiben neben dem Eingang zum Hause hatte er mit Rücksicht auf den Wunsch seiner Frau belassen.

In der Morgenstille hörte man die sich öffnende Haustüre in den Angeln knarren und nach kurzer Zeit wieder ins Schloss fallen. Ein Mann trat zwischen den Eiben hindurch vor das in weißer und rosa Farbe gehaltene Haus, mit seiner in »Grün à la Paolo Veronese« lackierten Türe und mit seinen Fensterläden gleicher grüner Farbe. Der Mann ging gemächlichen Schrittes den leicht abschüssigen Hauptweg hinab. Er schritt unter den zahlreichen, weit ausgreifenden Rosenbögen wie unter einem Gewölbe hindurch. Das Laub, das sie in dichter Fülle überrankte, glänzte dunkelgrün und wie von Wachs überzogen. Auf den Blättern perlte noch der morgendliche Tau. Pralle Rosenknospen lugten aus dem Laube, und an einigen der Bögen hatten schon die dunkelroten Rosen ihre Blüten voll entfaltet. Der Mann trat am Ende des Hauptweges durch ein Tor, überquerte Straße und Eisenbahntrasse etwas unsicheren, vorsichtigen Schrittes, trat jenseits dieser Hindernisse wieder durch ein Tor und gelangte über die Japanische Brücke in den Wassergarten. Am jenseitigen Teichufer angelangt, wandte er sich nach links und folgte dem Ufer einige Schritte, nicht ganz bis zur Mitte des Sees.

 

 

 

Kapitel 2

Das Auge Frankreichs

 

Der Mann war der berühmteste und verehrteste Maler seiner Zeit. Sein Name war Oscar Claude Monet. Man schrieb den späten Juni des Jahres 1905. In knapp einem halben Jahr, am 14. November, wird er sein vierundsechzigstes Lebensjahr vollenden. Sein vertrauter Freund, Georges Clemenceau, Senator im französischen Oberhaus, hatte ihn »das Auge Frankreichs« genannt; er reihte ihn unter die »größten Künstler ein, die die französische Erde je geboren habe« – Und in der Tat: so etwas wie Erde und Wasser haftete der Erscheinung des Malers auch an. Er war meist in braune oder graue Farben gekleidet. Heute trug er wie üblich einen zerbeulten, weichen Hut aus hellbraunem Filz; eine weite Jacke aus khakifarbener Kashmirwolle und aus dickem, grauem Stoff gefertigte Hosen »à la Coster«, die sich oberhalb der Fußknöchel röhrenartig verengten und von polierten Hornknöpfen zusammengehalten wurden; dazu einen groben, breiten Ledergürtel und feste Stiefel aus ungegerbtem Rindsleder. Jedermann, der ihn nicht kannte, hätte ihn leicht für einen Bauern – für  einen »cultivant« – oder für einen normannischen Seemann halten können, auch für einen Fischer oder für einen Matrosen. Solches war auch seinem späteren Freund und Biografen, Gustave Geffroy, widerfahren, als dieser dem Maler zum ersten mal 1886 zufällig auf den Klippen des winzigen Dorfes Kervilahouen im südwestlichen Landzipfel der Belle-Île vor der bretonischen Küste begegnet war. Monet hatte sich diese Küstenlandschaft für eine seiner Malkampagnen erwählt, nachdem ihm der Romancier Octave Mirbeau, mit dem der Maler befreundet war, die Atlantikküste der Bretagne, an der er ein Haus besaß, als malerisch interessant ans Herz gelegt hatte. Monet hatte hier seine bis dahin bewegtesten Gemälde geschaffen, überbordend an vordem ungekannter Wildheit und an kühner Leidenschaft.

Geffroy hatte Monet zunächst für einen Schiffssteuermann gehalten, der sich auf Landurlaub begeben hatte. Für einen solchen hätte man ihn auch heute halten können, wäre da nicht das fliederfarbene, an der Knopfleiste und an den Manschetten mit Rüschen besetzte Seidenhemd gewesen, das der Kleidung des Malers etwas Dandyhaftes hinzufügte. Auch die Gestalt des Mannes hätte die eines Bauern oder Seemanns sein können. Von eher kleinem Wuchs, war sie doch kräftig, starkknochig und aufrecht; die Beine wie Säulen in den Knien gestreckt, muskulös, kräftig und standfest. Mit solchen Beinen stand man seinen Mann, auf dem Deck eines Schiffes, aber auch vor der Staffelei in Wind, in Regen und in sengender Sonne; oder auch in eisiger Gischt vor der Mole von Le Havre oder auf den Klippen an der Küste bei Etretat – der Brandung, dem Sturm und der Gischt beim Malen trotzend – ohne die Arbeit zu unterbrechen. Auf solchen Beinen hatte der Maler auch fest im Leben gestanden, wenn die Stürme des Misserfolges, des Spottes, der Verachtung, ja sogar wenn die Wogen des Hasses ihm entgegengepeitscht waren, wenn die Drangsal der Not und des Hungers oder der Vereinsamung nach dem Tod lieber Menschen ihn niederzuwerfen gedroht hatten.

 

Auch das Antlitz des Malers erinnerte eher an einen normannischen Seemann an als einen sensiblen Künstler. Der Schädel war rund und wirkte im Vergleich zur Größe des Körpers etwas zu massig. Das Gesicht aber entsprach nicht dieser Rundung. Das Antlitz war kantig, wie aus Stein gemeißelt, mit einer starken, geraden Stirne unter dem eisgrauen, sehr kurz geschnittenem Haupthaar; mit den kräftig gewölbten Augenbrauenbögen und mit den etwas kantig hervorspringenden Jochbeinen über den Wangen, die in den Jahren der Jugend und des mittleren Alters straff gefüllt waren, jetzt aber bereits zu erschlaffen und – längs der Nasolabialfalten – bereits leicht zu hängen begannen und fast den Oberlippenbart berührten. Überhaupt war die untere Partie des Gesichtes kaum zu beurteilen; der Bogen des Unterkiefers und die Rundung des Kinns wurden von einem dichten, nicht gestutzten Vollbart verborgen, früher schwarz wie Kohle, jetzt von grauen und weißen Fäden reichlich durchzogen, sodass die Umrahmung des Gesichtes fast weiß wirkte, während der Oberlippenbart noch anthrazitfarben oder bleifarben war. Ein accéssoire gehörte zu diesem Bart, ohne welches das Gesicht eigentlich nicht vorgestellt werden konnte: der orange Punkt einer in dessen Mitte glühenden Zigarette. Auch jetzt, im noch fahlen Morgenlicht, leuchtete die Glut einer solchen Zigarette als rotglühender Punkt inmitten des Bartes auf, wenn der Maler an ihr zog und den inhalierten Rauch seitlich aus dem Mund zwischen den schmalen, geschlossenen Lippen in kleinen, blauen Wölkchen wieder entweichen ließ. Auffallend war die Form der Nase, da sie wie aus zwei nicht zusammengehörigen Teilen gebildet schien; im oberen Teil – aus einer tiefen, kurzen Querfalte zwischen den Augenbrauen entspringend – ein lang gestreckter, scharf gegrateter Nasenrücken, der dann aber im unteren Teil in einer eher etwas klobigen, fleischigen Nasenspitze auslief.

     Die von noch dunklen, starken Brauen überschatteten Augen standen im Vergleich zur Breite der kräftig ausgebildeten Wangenknochen etwas eng beieinander; eine auffällige Eigenheit, die den Eindruck erwecken mochte, als betrachte der Maler einen Gegenstand oder ein Motiv aus sehr naher Distanz, auch wenn der Blick in die Ferne gerichtet war. Böse Zungen könnten behaupten, Claude Monet habe leicht geschielt, oder habe zumindest an einem Silberblick gelitten. Den Augen haftete daher etwas Stechendes und Kleines an. Solche Augen mussten einen erwartungsvollen Besucher enttäuschen; einen Besucher, der etwa mutmaßte, diese Augen – die das Bild der Welt aus dem Kolorit der bleichen Lokalfarbe in ein so glühendes, so farbiges, so von Licht durchflutetes, in ein neues, zuvor noch nie geschautes Universum haben erheben können – solche Augen müssten groß sein, in unendliche Fernen blicken und strahlen wie die Sonne selbst. Aber nichts dergleichen war den Augen Claude Monets zu Eigen. Es waren ganz gewöhnliche, nicht einmal schöne Augen, die stets ernst, fast freudlos, unablässig misstrauisch und stets aufsässig und angriffsbereit dreinblickten. Sogar die Farbe der Augen war ungewiss. Der mit ihm befreundete, amerikanische Maler John Singer Sargent, der Claude Monet 1885 in London portraitiert hatte, schilderte Monets Augen als pechschwarz und funkelnd. Sein Freund Auguste Renoir hingegen hat die Farbe seiner Augen eher als Blau oder als sehr helles Grau empfunden. Er selbst, Claude Monet, wusste nicht einmal, welche Farbe seine Augen hatten. Es interessierte ihn einfach nicht. –

 

     Der Maler wandte sich stehend zunächst nach Nordosten, entgegen der Kulisse aus dichtem Laubwerk, das vor der aufgehenden Sonne immer noch als blaue Schattenwand stand. Vor dem dunklen Ultramarin zeichneten sich jetzt, mit zunehmendem Abglanz des bereits fahlgelb und fliederfarben aufleuchtenden Himmels, die mächtigen Trauerweiden ab. Ein filigraner Vorhang von dunkelblauer Spitze, von sich hernieder senkenden Zweigen, in fahlem Blaugrün über dem Wasser. Diese Kulisse jedoch war nicht das Motiv, das Monet gestern, bereits um diese frühe Stunde, begonnen hatte auf die Leinwand zu bannen. Die Wand aus Blau und Grün, vor der sich hebenden Sonne und unter dem von ihrem Abglanz fahl erhellten Morgenhimmel, diente nur dazu, das eigentliche Motiv in der von ihm gewählten Beleuchtung zu erfassen: die Geheimnisse des Wassers! – Nur in dieser theatralischen Beleuchtung, und nur für eine kurze Weile, traten – wie durch Zauberhand erweckt – jene  Blaus und Grüns, besonders aber jene fliederfarbenen Grautöne hervor, die sein Auge aus der flüchtigen Wirklichkeit entführten und seine Seele aus der »Augenblicklichkeit« in jenes dauerhafte Traumland entschweben ließen, das er für alle Zeit in seinem Bild bannen wollte.

 

Das eigentliche Motiv war ein kleiner Ausschnitt des Wasserspiegels, der Blick nach unten gerichtet, unterhalb und vor der Schattenkulisse der Bäume, ohne Uferhorizont, mit der Spiegelung der Laubmassen in kaltem Blau und in gedämpftem, bräunlichem Violett; vornehmlich aber die Spiegelung des Morgenhimmels im Wasser, zum oberen Bildrand hin, in Rosa und in fahlem Gelb, und in der Bildmitte und zum unteren Bildrand hin in stumpfem, durchsichtigem Ultramarin und in malvenfarbigem und vanillegelbem Grau. Einige breit hingelagerte Inseln von Seerosen festigten das Bildgefüge, festigten die Fläche des Wasserspiegels durch ihre Perspektive. Sie erweckten durch ihre Form – in  der Nähe scharf konturiert – den Eindruck, dass es sich bei den blauen, violetten und farbig grauen, lockeren Farbgebilden im Wasser, das von Seerosen nicht bedeckt wurde, wirklich nur um Spiegelungen der Ufervegetation und des Himmelsgewölbes handelte. Zwischen den Spiegelungen nahmen die Blätter der Seerosen ein eigenartig leuchtendes, kaltes Zinkgrün an, wie es im Licht keiner anderen Stunde zu sehen war. Aus den Blätterinseln stiegen die großen, jetzt bereits voll entfalteten Kelche der Seerosenblüten auf. Die Mehrzahl der Blüten war weiß, zur Teichmitte hin auch hellrosa im Herzen und mit einem äußeren Kranz dunklerer, rotvioletter Blütenblätter. Wenige Blüten, in größerer Entfernung, den oberen Bildrand fast streifend, waren von hellem Zitronengelb. Die Seerosenblüten waren dem Maler als farbige Akzente willkommen. Aber sie sollten nicht dominieren, sie sollten nicht das Motiv sein! – Das Motiv, die Bildidee, die Bildaussage – das sollten das Ineinanderwirken und Durchdringen der Spiegelungen der Ufervegetation und des Himmels in gedämpften, verwandten Farben zwischen den hervorstechenden, hellgrünen Seeroseninseln sein; ein kleines Universum an gegenseitigem Durchdringen von Wirklichem und Gespiegeltem in einer Bildfläche, auf der die Illusion eines Wasserspiegels erweckt wurde. Ganz bewusst – gewissermaßen als Programm – hatte daher der Maler diese Gemäldeserie, an welcher er schon seit einigen Jahren – etwa seit Beginn der Jahrhundertwende – gearbeitet hatte, nicht etwa unter das begrenzte Thema »Seerosen« gestellt. Nein: er hatte sein gewaltiges Werk unter das umfassendere Thema »Seerosen« und »Wasserlandschaften« – »Nympheas« und »Paysages d´eau« – gestellt, da es sein Vorhaben in dieser Breite am besten zu charakterisieren vermochte.

 

     Die Zigarette war erloschen. Monet nahm den kalten Stummel aus dem Mund, warf ihn aber nicht weg, sondern steckte ihn in die Seitentasche seiner Jacke, nachdem er den Rest der erkalteten Asche mit dem Finger abgestreift hatte; eine Angewohnheit, die seine Frau Alice und seine Schwiegertochter Blanche seit Jahren unduldsam rügten. Obgleich er Zigaretten abgöttisch liebte und sich eingestehen musste, dass er bereits seit Jahren als Nikotinsüchtiger und Kettenraucher gelten musste, konnte er den Anblick weggeworfener Zigarettenstummel in seinem gepflegten und gehegten Garten nicht ertragen; insbesondere nicht auf den sauber gerechten Wegen und schon gar nicht an den Ufern des Seerosenteiches. So hatte er die Taschen seiner Jacke zu bequemen Aschenbechern umfunktioniert. Allerding musste er einräumen, dass die Überprüfung, ob die Asche der Stummel tatsächlich erkaltet war, nicht immer sorgsam genug von ihm vorgenommen worden war. Daher hatte das eine oder

andere, kleinere oder größere Brandloch die so missbrauchten Seitentaschen in dem ursprünglich haltbaren Gewebe mehrerer Jacken schwer geschwächt.

 

Bevor er sich eine neue Zigarette zwischen die vom Barte eingerahmten, gespitzten Lippen schob und mit einem Sturmfeuerzeug vorsichtig anzündete, wandte er sich nach links und blickte jetzt in westlicher Richtung zum Abfluss des sich dort verschmälernden Teiches und zur Japanischen Brücke hin. Wenn die Sonne gegen Mittag höher stehen würde – wenn dieser Teil des Wassergartens an seinem rechten Ufer im hellen, steil einfallenden Sonnenlicht goldgrün aufscheinen würde, während das linke Ufer mit seinen hohen, ausgebreiteten Weidenkronen und schlank aufragenden Pappeln in tiefen, braunvioletten und stumpfen, braungrünen Schatten liegen würde, wenn der linke Teil des Laubes sich schwer und dunkel im Wasser spiegeln und zugleich Schlagschatten auf die Wasseroberfläche legen würde – dann wollte er dieses Motiv wieder bearbeiten, das er ebenfalls am Vortage bereits auf der Leinwand in seinen wesentlichen Partien in flüchtigem und lockerem, die pastosen Farben wie Ziselierungen aufgetragenem Pinselduktus skizziert hatte. In diesem steil einfallenden, in diesem scharfen und klaren Licht des hohen Mittags würde dann die Brücke, würde dann dieser Teil des Sees – mit seinen tief herabhängenden Laubschleiern der Trauerweiden – auf der rechten Seite im vollen Sonnenlicht liegen, während links die hohen Pappeln den krautigen, durch Pestwurz, Bambus und Pfeilkraut in abwechslungsreichen Formen gestalteten Ufersaum und die vor dieser dunklen Kulisse hingebreitete Wasserzone in tiefe, nur gelegentlich durch Flecken scharfen Sonnenlichtes aufgehellte Schatten tauchen würden.

     Die Problematik, die der Maler bei diesem Motiv bewältigen musste und die Bildaussage, die er unbedingt erreichen wollte, waren auch in diesem Gemälde nicht die zahlreichen, teils in runden, teils in wie von schwingenden Girlanden begrenzten Inseln auf dem Teich treibenden Wasserrosen mit ihren weißen, rosa und gelben Blütenkelchen. Die Problematik war vielmehr die Kunst, die Teichoberfläche so zu gestalten, dass der Wasserspiegel in der Bildmitte das steil einfallende Sonnenlicht in blendenden, fast flächig in Weiß und in hellstem Gelb aufgesetzten Reflexen widerspiegeln und daher undurchsichtig wirken würde, wohingegen rechts und insbesondere links – in den von den Bäumen beschatteten Uferzonen – durch die perspektivisch aufgelagerten Wasserroseninseln der Wasserspiegel zwar als Illusion evoziert würde, gleichzeitig aber das Auge die imaginäre Wasseroberfläche wie einen durchsichtigen Spiegel zu durchdringen vermeinte und den schlammigen Grund mit den braun aufsteigenden Stängeln der Seerosen und den moosig grünen, schmalblättrigen Bewuchs des Teichgrundes als geheimnisvolle Schemen wahrzunehmen glaubte.

 

Monet erinnerte sich, dass er ein maltechnisch ähnliches Problem bereits früher mehrfach erfolgreich, wenn auch, wie er dies stets vermeinte, nicht zu seiner gänzlichen Zufriedenheit zu lösen vermocht hatte. Er erinnerte sich mehrerer Bilder, deren Entstehungsjahr ihm entfallen war, deren Einzelheiten er aber noch genau vor sich sah. Auf einem Bild trieb eine menschenleere Barke unter tiefhängenden Zweigen auf dunklem, beschattetem Wasser. Auf anderen Bildern fanden sich zwei oder auch drei seiner Stieftöchter, angetan mit sommerlichen, weiß leuchtenden Kleidern. Die Mädchen ruderten ein schmales Boot auf der teils besonnten, teils vom Uferbewuchs überschatteten Ru und auf der Epte. Durch die Perspektive der Boote und durch die im Sonnenlicht aufscheinenden weißen Kleider der darin kauernden Mädchen hatte er die Illusion der Wasseroberfläche zu geben vermocht. In der Schattenzone am oberen Bildrand und im Vordergrund jedoch vermeinte der Betrachter in die Tiefen des Flusses mit seinen smaragdgrünen, langblättrigen Schlingpflanzen einzutauchen, die sich von der trägen Strömung unter der Oberfläche wiegen ließen. Monet erinnerte sich auch zweier Gemälde, auf denen er ähnliche Gegensätze versucht hatte darzustellen: den reflektierenden, undurchsichtigen Wasserspiegel im Sonnenlicht neben der durchsichtigen Wasseroberfläche im Schatten. Beide Gemälde gaben den westlichen Teichablauf unter der Japanischen Brücke wieder, also genau jenen Ausschnitt seines Wassergartens, den er auch für das Bild im Mittagslicht des heutigen Tages gewählt hatte. An die Entstehungsjahre dieser Bilder vermochte er sich im Gegensatz zu den Gemälden mit den Mädchen in den Barken und Booten allerdings genau zu erinnern. Das frühere der beiden Gemälde hatte Monet, nahezu auf den Tag genau, vor sechs Jahren gemalt, im Sommer des Jahres 1899. Mit Ausnahme der Wasserrosen, der Brücke und des Uferbewuchses hatte er das Kolorit des Wassers fast gänzlich in Erdfarben angelegt; die Uferzonen in grüner Umbra und den schlammigen Teichgrund in natürlicher und gebrannter Umbra, aufgelockert durch einige kleine Partien in gebrochenem Zinkgrün, den Unterwasserbewuchs andeutend. Der Pinselduktus bestand aus teils kurzen, teils längeren parallelen, stets aber senkrechten Strichen, welche die Tiefe des Wassers simulierten. Die auf dem Wasser breit gelagerten Seeroseninseln hingegen hatte er mit kräftigem, horizontal gelagertem Farbauftrag wiedergegeben, um durch ihre so gestaltete materielle Struktur und Perspektive die Illusion des an sich unsichtbaren, durchsichtigen Wasserspiegels hervorzurufen. Das zweite Gemälde hatte er vor fünf Jahren geschaffen, im Sommer der Jahrhundertwende. Auf diesem Bild hatte er eine horizontale Zweiteilung der Szenerie gewählt. Hinter der Japanischen Brücke glühten die Seeroseninseln golden im scharf zentrierten, steil einfallenden Sonnenlicht. Der Bildhorizont, gegeben durch die überhängenden Trauerweiden im violettbraunen, tiefsten Schatten, war im Vergleich mit anderen Bildern des Seerosenteiches tief gelagert, etwa auf Höhe der Bildmitte, so dass die nach hinten entrückten Teile des Teiches sehr flach gesehen wurden. Die Wasseroberfläche bestand im belichteten Ausschnitt, jenseits der Brücke, daher nur aus streifig gelagertem Seerosenbewuchs in gleißend aufscheinendem Weiß und sehr hellem Gelb, ohne dass Blätter und Blüten scharf unterschieden werden konnten. Wasser war auf diesem Gemälde erst in der Bildmitte zu sehen, im Schatten unter der Brücke. Der Maler erinnerte sich genau, welchen Mut es ihm gekostet hatte, diesen schmalen, horizontal gelagerten Streifen des Wasserspiegels, der von der Brücke beschattet wurde, in einem recht hellen, glühenden Rot auszuführen, aufgehellt in der Mitte durch vier gelbweiße, senkrecht gestrichene Reflexe, hervorgerufen durch die Spiegelung eines fokussierten Lichteinfalles auf die hinter der Brücke herabhängenden Laubkaskaden der in anderen Teilen beschatteten Trauerweiden. Diese Reflexe sollten den beschatteten Wasserspiegel undurchsichtig machen. Die untere Bildhälfte lag am linken, schilfigen Ufer im Halbschatten, zum rechten Bildrand hin aber ohne Uferbegrenzung im vollen Schatten nicht sichtbarer, überhängender Bäume. Die in Kobaltblau und Türkis gehaltenen Seeroseninseln dieses beschatteten Vordergrundes waren in stärkerer Draufsicht gegeben als jene in der Bildmitte oder im Licht jenseits der Brücke. Der Maler vermochte sich genau zu erinnern, welches Ziel er mit diesem gewagten, abrupten Sprung der Perspektive angestrebt hatte. Die steile Draufsicht im Vordergrund war nötig, um, wie in den anderen Gemälden mit ähnlicher Gegenüberstellung, die Illusion des durchsichtigen Wasserspiegels zu erwecken. Um diesen Effekt zu erreichen hatte er nicht nur einen Bruch der Perspektive gewagt; er hatte auch einen Bruch des Kolorits der horizontal abgesetzten Bildhälften gewagt. Anstelle des glühenden Rots der reflektierenden, undurchsichtigen Wasseroberfläche in der Bildmitte hatte er im Vordergrund dunkles Violett und gebrannte Umbra in senkrechten Strichlagen verwandt, um so im Auge des Betrachters die Illusion zu erwecken, es blicke in die Tiefe des Wassers bis auf dessen schlammigen Grund.

 

 
Kapitel 3
Blanche

 

Während der Maler seinen Gedanken über die anstehende Arbeit des herauf dämmernden Tages nachgehangen hatte, war auch die zweite Zigarette dieses frühen Morgens aufgeraucht und erloschen. In gewohnter Weise streifte Monet den bereits erkalteten Aschenrest ab und steckte den Zigarettenstummel in seine Jackentasche. Dabei schüttelte er kaum merklich wie in Resignation den Kopf, schob seinen Hut, diesen mit zwei Fingern an der Krempe fassend, etwas aus der Stirne, schräg zur Seite und in den Nacken, so als sei er auf ein keckes Abenteuer aus; eine Mutmaßung, die seiner ernsten, mürrischen Miene hingegen absolut widersprach.

 

Inzwischen war eine bereits gereifte, dennoch aber jugendlich anmutende Frau neben den Maler getreten. Sie trug die beiden am Vortage begonnen Leinwände, deren Farben in weiten Partien noch feucht waren. Sie hatte die auf Keilrahmen gespannten Leinwände sehr vorsichtig, mit der bemalten Fläche in beiden Händen von ihrem schleppenden, weiten Rock nach außen gekehrt und mit leicht angewinkelten Armen weit abhaltend, den Weg vom Hause unter den Rosenbögen hindurch, über Straße und Eisenbahntrasse und schließlich über die japanische Brücke getragen. Der Name der Frau war Blanche Hoschedé-Monet. Die vierzigjährige Blanche war Monets zweitälteste Stieftochter und zugleich auch seine Schwiegertochter. Sie hatte 1897 Jean geheiratet, den ältesten der beiden Söhne aus seiner ersten Ehe mit Camille-Leonie Doncieux. Sie nannte sich seither Blanche Hoschedé-Monet. Seit der Heirat lebte sie mit ihrem Mann in Rouen, dann in Beaumont-le-Roger, kam aber häufig zu Besuch nach Giverny.

Blanche, die zweite Tochter des mit dem Maler ehedem eng befreundeten Ehepaares Ernest und Alice Hoschedé, war ihrem späteren Stiefvater vom ersten Moment an, da sie ihm gegenüber getreten war, ungewöhnlich zugetan. Das damals elfjährige Mädchen hatte sich geradezu leidenschaftlich verliebt in Claude Monet, als sie dem damals sechsunddreißig Jahre alten Maler 1876 erstmals begegnet war. Diese ihr unvergessliche Begegnung, die Blanche entscheidend prägte, hatte sich im Parc de Monceau in Paris und etwas später auf Château de Rottembourg ereignet, dem Landhaus ihrer Eltern in Montgeron, südöstlich von Paris.

Ernest Hoschedé, ein Sammler impressionistischer Malerei und früher Gönner und Förderer Monets, hatte den Maler für einige Monate auf seinen Landsitz eingeladen, um das Château mit vier großformatigen, dekorativen Paneelen ausstatten zu lassen. Blanche erinnerte sich genau an eines dieser vier Gemälde. Sie sah noch heute die weißen Truthähne mit ihren zinnoberroten Köpfen und Hälsen auf der sattgrünen Wiese unter einem fast schon dämmrigen, bewölkten Abendhimmel vor sich; so wahrhaft und lebendig, als schaue sie dem geliebten Mann beim Malen über die Schulter. Zu ihrem großen Kummer hatte Monet das an Farben und Formen prächtige Gemälde nie vollendet. »Die Truthähne« sollten in seinem frühen Werk einen herausragenden und ungewöhnlichen Platz einnehmen. – 

Die damals elfjährige Blanche war außerordentlich begabt. Sie interessierte sich ernsthaft für Malerei und hatte bereits selbst zu malen begonnen. Ohne Zweifel war diese Veranlagung eine der Triebfedern, die ihr Gefühl inniger Zuneigung und Verbundenheit mit dem Maler gespeist hatten. Später aber musste Blanche sich eingestehen, dass – neben  dieser platonischen Schwärmerei eines vorgereiften, warmherzigen, ernsten Mädchens – sie einer erotischen, fast sexuellen Anziehung des bereits reifen, verheirateten Mannes mit seinem wüsten, schwarzen Vollbart und mit seiner ungebändigten Mähne krausen, rabenschwarzen Haares erlegen war. Diese hatte sie in ihren Mädchenträumen wie in einem Bann gefangen gehalten; in Träumen, die sie auch hinfort in ihrem Inneren lebte, ungeachtet ihrer kurzen Liebesromanze mit dem Maler John Leslie Breck, die sich in ihrem äußeren, biografischen Leben der Erfüllung versagt hatte. – 

 

     Blanche Hoschedé-Monet war von gedrungener Gestalt, an Größe Claude nicht überragend. Ein mit seinem Saum bis zur Erde reichender, tabakbrauner Rock mit breitem Faltenwurf über dem Gesäß und eine an den Unterarmen in langen Bündchen eng geraffte, hellblaue Bluse – der Farbzusammenstellung von Monets Kleidung nicht unähnlich – verhüllte außerordentlich weiche, üppige Formen, die eine Taille vermissen ließen. Der kurze, fleischige Hals und das runde Gesicht mit den gut gefüllten Wangen und mit dem etwas flachen Kinn entsprachen der gesamten Körperbildung. Das dichte, rehbraune Haar trug Blanche straff hochgesteckt rund um den Kopf, die kleinen, wohlgeformten Ohren unbedeckt lassend. Die Frisur endete in einem kronenähnlichen chignon auf der Mitte des Scheitels. Sie hatte eine sehr kleine Nase, zur runden Spitze hin leicht hochgewölbt; eine Nase, die – mit Verlaub gesagt – als  Stupsnase beschrieben werden konnte. Aus diesem an sich nicht sehr schön gebildeten Gesicht strahlten jedoch große, warmherzige Augen von einer unbeschreiblich dunklen, blauen oder fast violetten Farbe; von einer so gesättigten, azurblauen Färbung, als spiegele sich in ihnen das Wasser des Seerosenteiches, an dessen Ufer in dieser frühen Morgenstunde die beiden Menschen standen.

 

     Bald schon bekam das Paar hilfreiche Gesellschaft. Zwei junge Gärtner, angetan mit blauen, kittelähnlichen Jacken, näherten sich ihm auf demselben Wege, den Claude und Blanche kurz zuvor selbst zurückgelegt hatten. Einer der Männer trug eine Feldstaffelei und einen dreibeinigen, aufklappbaren Hocker mit einem ledernen Dreieck als Sitzfläche. Der andere Gärtner zog einen kleinen Handwagen nach sich, in welchem ebenfalls eine Feldstaffelei, zusätzlich aber mehre Holzkisten angefüllt mit Farbtuben, Flaschen, Paletten, Pinseln, Malmessern und Lappen mit bereits vom früheren Pinselabstreifen anhaftenden Farbresten verstaut waren. Außerdem befand sich in dem Wagen ein verbeulter, maisgelber Panamahut mit sehr breiter, flacher Krempe. Dieser Hut war für den Maler ein unverzichtbares Utensil. Er würde seinen Filzhut gegen diesen breitrandigen Hut austauschen um seine Augen zu beschatten, wenn ihn die höher stehende Sonne gegen Mittag unangenehm zu blenden und seine Arbeit zu stören drohte.

Sobald die Gärtner die Feldstaffeleien an jenen Stellen des Teichufers fest verankert hatten, die der Maler ihnen bezeichnet und an welchen er bereits am Vortage die Arbeit auf den Leinwänden begonnen hatte, stellte Blanche die den bereits begonnenen Motiven zugehörigen, mit Leinwänden bespannten Keilrahmen auf die Staffeleien. Sie befestigte die Bilder, die sich noch im Skizzenstadium befanden, mit hölzernen, drehbaren Haken auf den Gestellen, die in leichter Schräge errichtet waren. Nachdem die beiden Gärtner den kleinen Leiterwagen entladen hatten und mit einem freundlichen Nicken, begleitet von einem kurzen Anlegen von gestrecktem Zeigefinger und Mittelfinger an die Stirne, sich zu verabschieden gedachten um sich wieder an ihren Arbeitsplatz zu begeben, bedeutete Monet ihnen noch kurz zu verweilen. Er fragte sie nach ihrem Auftrag für den Tag.

„Monsieur le patron”, gab der ältere der beiden Gärtner zur Antwort, „der Chef, Monsieur Breuil, hat uns beauftragt, heute die weißblühenden Tuberosen und die blauen Agapanthus, die präcox orientalis und die africanus, einzusetzen, oben am Teichzufluss, an der Brücke über die Ru, nahe am Ufer, aber nicht in zu feuchtem Boden. Keine Staunässe! Wir passen schon auf! ... Die Kisten, die Monsieur le patron bestellt hat, sind gestern und vorgestern angekommen ... unglaublich viele Wurzelstöcke und Zwiebeln.”

Monsieur Breuil war der Chefgärtner, den Monet vom Besitz seines Freundes Mirbeau übernommen hatte. Der Romancier Mirbeau wie auch der mit Monet eng befreundete, impressionistische Maler Gustave Caillebotte waren leidenschaftliche Gartenfreunde. Zu Beginn ihrer Leidenschaft nur Dilettanten, waren sie mit den Jahren durch gegenseitigen Austausch an Erfahrung und durch das Studium von Fachbüchern zu wahren Spezialisten der Gartenbaukunst und der Pflanzenpflege geworden. Insbesondere die botanischen Kenntnisse Caillebottes waren erstaunlich, aber auch die gärtnerischen Erfahrungen Monets waren bewundernswert. 

„Gut … sehr gut!“, murmelte Monet in seinen Bart, „ … die Pflanzen aus Mexiko ...?“, erinnerte er sich daraufhin wie beiläufig.

„Die aus Mexiko, ja, Monsieur le patron”, gab der ältere der beiden Gärtner zur Antwort.

     „Na, da werden die um ihr Waschwasser und um ihr Vieh bangenden Wäscherinnen und Bauern, die Naturliebhaber und mittelalterlichen Teufelsaustreibe … ach, wie ich diese böswillige Brut hasse, diese Blutsauger, die mich all die Jahre quälen, seit ich in Giverny bin, … da werden sie wieder Eingaben an den Bürgermeister machen, er solle mir solche Pflanzen in meinem Garten verbieten. Die Wurzelsäfte würden das Wasser verpesten und vergiften, das aus meinem Teich in ihre Wiesen und Felder läuft! … allen voran jener Renier Tonnelier, der nach seinem Unfall mit einem Pferdefuhrwerk, mit seinem nie völlig geheilten, lediglich noch von einem strammen Gummistrumpf zusammengehaltenen rechten Unterschenkel nur noch wie ein Storch herumstaksen kann, den man allgemein nur als »Renier le lapin« kennt. »Renier der Hase«! Weil er massenweise Kaninchen züchtet, sie verkauft und auch selbst mit seiner Frau verspeist. Nicht schlecht, übrigens, Kaninchenragout in Wacholderrahm! Wenn diesem »Renier le lapin« der nächste Karnickelwurf eingeht, dann wird er … wie schon so oft …behaupten, das könne nur von dem Wasser aus meinem Teich kommen, das meine teuflischen, ausländischen und völlig nutzlosen Pflanzen vergiftet hätten.“

Kopfschüttelnd winkte Monet nach dieser Prophezeiung mit der Hand den Gärtnern zu gehen, worauf er sich etwas schwerfällig mit gekrümmtem Rücken auf seinem dreibeinigen Feldstuhl niederließ, sich eine Zigarette in den Mund steckte, diese in Brand setzte und sich endlich entschloss, auf der ersten Leinwand die am frühen Morgen des Vortages begonnene Arbeit fortzuführen. 

„Störe ich euch, Papa Claude?” fragte Blanche, die seitlich hinter dem Maler stand und ihre linke Hand leicht auf dessen rechte Schulter legte. Es fiel auf, dass Blanche ihren Schwiegervater in der dritten Person ansprach, wie dies ehedem in vornehmen Familien Frankreichs Brauch war. 

„Wo denkst du hin, Blanche … in keiner Weise … liebste, liebste Blanche, mein Engel. Ein solch unsinniger Gedanke! Wie kommst du überhaupt darauf? Wie oft hast du schon neben mir gestanden, neben mir gesessen, mit mir zusammen gemalt, Staffelei an Staffelei, Herz an Herz, Auge in Auge! ... Hundert Mal? Tausend Mal? Habe ich jemals dir das Gefühl gegeben, du würdest mich stören?“, antwortete Monet mit seltsam leiser, etwas flacher Stimme, während er sich kurz rückwärts wandte um Blanche anzusehen.

„Nein, niemals … niemals, Papa Claude … entschuldigt …”, gab Blanche zu und schob eine herabgefallene Haarsträhne mit dem rechten Handrücken wieder nach oben in den Haarkranz über der rechten Schläfe – Blanche hatte eine auffallend kleine, aber breite, fleischige Hand mit kurzen Fingern –

„Kann ich noch mit euch reden, oder lenkt euch das ab?” fuhr Blanche fort zu fragen. Mit gestreckten, übereinandergeschlagenen Beinen saß sie auf dem Rand des Leiterwägelchens. Wie gelangweilt begann Blanche am weichen, saftigen Ende eines ausgerissenen, langen Grashalms zu saugen –

„Du kannst mit mir reden, Engel. Du weißt doch, ich liebe das sogar. Aber nur zu Beginn meiner Arbeit. Und jetzt arbeite ich ja noch nicht, ich bereite ja nur vor, wie du siehst …”

Monet presste die Worte fast lautlos zwischen den kaum geöffneten Lippen hervor; er huldigte der Gewohnheit, die Zigarette auch beim Sprechen nicht aus dem Mund zu nehmen. Er hatte die Palette auf seine Knie gelegt und drückte aus Tuben, mit beiden Händen kräftig pressend, Farbhäufchen auf das Holz. Am rechten Rand, knapp über dem Daumenloch, pastöses, fast trockenes Bleiweiß; er liebte Titanweiß nicht, da dies ihm zu flüssig und zu fett war. Links neben den weißen Klecks setzte er zitronenfarbenes Brillantgelb, daneben Neapelgelb, schließlich lichten Oker. In der Mitte der Palette, zum oberen Rand hin, richtete er sich beträchtliche Mengen von reinem Kobalt, Ultramarin und Kobaltviolett in langen, dicken Würsten ein, alles in satten, dunklen Tönungen; weiter nach links, von den Blaus abgesetzt, dunkles Krapp und Manganviolett. An den linken Palettenrand setzte er endlich kleine Mengen verschiedener Grüns, gebrannter Siena sowie ungebrannter und gebrannter Umbra. Schließlich fasste er die Palette mit der linken Hand, ergriff mit der Rechten einen langstieligen Pinsel mit schon ziemlich abgeschrubbten Borsten und begann mit weichen, sehr duftigen, horizontal gelagerten Strichen Ultramarin unter die Seeroseninsel inmitten des Vordergrundes in das Wasser knapp über dem unteren Bildrand zu setzen. Nachdem diese schmale Strichlage vollendet war, klemmte er den noch mit Ultramarin benetzten Pinsel zwischen Palette und Daumen der linken Hand, nahm mit einem neuen Pinsel Kobaltblau auf und setzte einige wenige Drucker dieser Farbe auf den Wasserspiegel unter die kleine Seerosengruppe, die in der Mitte des linken Bildrandes angeschnitten war. Auch etwas weiter oben und rechts der Seeroseninsel, am oberen Bildrand, setzte er in die in grünlichem Grau und bräunlichem Manganviolett bereits am Vortage angelegten Spiegelungen der schattigen Laubmassen im von Seerosen nicht überlagerten Wasser – vorsichtig und kaum wahrnehmbar – einen Hauch kobaltblauer Spuren.

„Die verdammten Blaus”, stieß er während dieser Tätigkeit gepresst zwischen seinen um die inzwischen erkaltete Zigarette fest geschlossenen Lippen hervor. „Besonders das verfluchte, dunkle Ultramarin! Ich sage dir, Engel, Blau ist die verfluchteste Farbe im Öl. Im Öl … besonders wenn du Leinöl oder Mohnöl gebrauchst … werden die Blaus alle fett, speckig, glitschig. Das Blau glänzt dann und reflektiert an seiner Oberfläche nur das auffallende Licht. Es leuchtet nicht mehr von selbst, nicht mehr aus sich heraus. Schönes, aus sich leuchtendes Blau gelingt dir eigentlich nur im Pastell, allenfalls noch in Guache. Aber so will ich es auch im Öl … trocken, … kreidig, … puderig, … wie immer du willst … aber aus sich selbst leuchtend, unbedingt …”

Blanche erhob sich vom Rand des Wägelchens, trat zu Monet, nahm ihm den kalten Zigarettenstummel aus den Lippen und legte diesen in eine kleine Blechschachtel, verborgen auf dem Boden des Handwagens.

„Ihr raucht zu viel, mon cher”, sagte sie liebevoll. „Ihr wisst, ich gönne euch die Zigaretten von ganzem Herzen … aber ihr raucht zu viel, wirklich zu viel!”

     Ungeachtet dieser ganz ohne Zweifel berechtigten Vorhaltung griff Blanche in des Malers rechte Hosentasche, zog das Sturmfeuerzeug nebst einer fast gänzlich zerdrückten Zigarettenschachtel heraus, und schob Monet eine Zigarette in den Mund, die sie, während er heftig an dieser sog, vorsichtig anzündete, die gekräuselten Barthaare sorgsam schonend. Monet hatte selbstredend sehr schöne, wertvolle Zigarettenetuis. Das Füllen der Etuis und ihre Handhabung waren ihm jedoch zu umständlich. Er bevorzugte, der Bequemlichkeit halber wie seit eh und je, die Zigarettenpackungen einfach in den Taschen seiner Hose oder Jacke zu verstauen. Das ermöglichte ihm auch während des Malens mit nur einer freien Hand an seine Zigaretten zu gelangen, sogar ohne das Päckchen aus der Tasche nehmen zu müssen. Blanche setzte sich wieder wie zuvor auf die Seitenwand des Leiterwägelchens und versuchte ein warmes, liebevolles Lächeln zu verbergen, das um ihre vollen Lippen spielte –

     „Blau darfst du im Öl immer nur in den dunkelsten, reinsten Tönungen nehmen. Du solltest Blau kaum, nur wenn es unbedingt sein muss, mit Weiß mischen. Dann wird es stumpf, trüb und bricht … es wird eher ein bläuliches Grau, aber kein klares, aus sich leuchtendes, helles Blau. Wenn du es heller haben willst, dann helle Blau nicht durch Zumischung von Weiß auf. Trage es stattdessen immer nur sehr dünn und sehr trocken auf, lieber in mehreren Lagen … lass die weiße Leinwand durchscheinen! … so, siehst du? …” Er deutete mit der Spitze des Pinselstieles auf die blauen Pinselspuren, die er soeben mit streichelnden, fast nur über der Leinwand schwebenden Bewegungen seiner leichten Hand erschaffen hatte; fast wie in schnellenden, burlesken Tanzschritten, die die Leinwand kaum berührten. „Das ist einer der Gründe, die der Welt da draußen, die den aus eigenem Recht ernannten Kritikern und den von ihrem unberechtigten Anspruch auf Unfehlbarkeit verblendeten Schreiberlingen … wie etwa Paul Mantz oder Charles Bigot, der meine Bilder vom Bahnhof Saint-Lazare runtergemacht hat, … oder Louis Leroy, der 1874 meine Morgenstimmungen über dem Hafen von Le Havre verspottet und als »Tapetenmuster im Urzustand« gebrandmarkt hat, … oder sogar einen Mann wie Émile Zola, obwohl ich Zola eigentlich ausnehmen muss, … also, meine mir eigene Art Blau im Öl zu behandeln, die ist einer der Gründe … aber nur einer, es gibt noch ungezählte andere! … die all diesen Blinden, Unbelehrbaren und oft wirklich Böswilligen … Zola nehme ich aus! … den verrückten Vorwand geliefert haben und immer noch liefern, ... den bösartigen Vorwurf, meine Bilder seien zu flüchtig, zu unausgereift … nicht vollendet … unfertig und verwildert … stümperhaft! Wenn ich der abfälligen, vernichtenden, wenn ich der nicht nur den Maler, sondern auch den Menschen Claude Monet beleidigenden Worte erinnere, die Zola für meine Bilder von Vétheuil auf der Impressionisten-Ausstellung 79 und von dem Eisstoß und von dem Treibeis auf der Seine bei Vétheuil 80 übrig gehabt hat, und die, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, sogar übersetzt in einer russischen Zeitung erschienen waren, dann kommt mir noch heute nicht nur die Galle hoch, dann habe ich nur noch Verachtung übrig! … Verachtung auch für Zola! Auch wenn Zola wenigstens von seinen Worten überzeugt war, was man bei den anderen Tintenklecksern meist nicht hat annehmen können. Hatten die denn vergessen, dass wir unsere Familien, unsere Frauen und Kinder ernähren mussten? Und dass wir selbst wirklich grimmigen Hunger litten?”

Bei den letzten Worten war Monets zunächst gepresste Stimme laut und heftig geworden, und er blies den Rauch seiner Zigarette wild und heftig nach links und unten in seinen an dieser Stelle leicht vom Tabakqualm gegilbten Vollbart.

„Aber Père Claude, mon cher Père, das ist doch Vergangenheit! Beruhigt euch wieder. Das liegt doch alles längst hinter euch!“, versuchte Blanche Monet mit ihrer warmen Stimme zu besänftigen.

„»Längst hinter mir«? Ich soll mich beruhigen?“, erregte sich Monet mit höhnischer Stimme von neuem. „Das glaubst nur du, mein Trost, mein Engel! … Nichts hat sich geändert … nichts … aber auch gar nichts! … Die Welt versteht mich immer noch nicht. Ach Quatsch, … die Welt! Die Menschen verstehen mich nicht. Sie wollen mich nicht verstehen … aus Hass, … aus Neid, … aus … aus ...  ach, was weiß ich ...!“

„Cher Père”, unterbrach Blanche den aufgebrachten Redefluss Monets, „mag sein, dass die Menschen euch nicht verstehen wollen. Das glaube ich aber gar nicht. Ich glaube, dass sie euch schon verstehen wollen, aber … vielleicht können sie euch nicht verstehen … noch nicht …”

„Nichts hat sich geändert!“, fuhr der Maler unbeirrt fort, so, als hätte er Blanches Einwurf gar nicht gehört, obgleich Blanche sicher war, dass Monet jedes Wort nicht nur vernommen, sondern auch verstanden hatte. „Nicht nur die Gleichgültigen, nicht nur die Hasser verstehen mich nicht … auch meine Freunde, selbst meine Sammler, sie verstehen mich nicht! … Du erinnerst dich doch des Seerosenbildes, das ich vor zwei Jahren gemalt habe, die Teichlandschaft mit dem sich im Wasser spiegelnden Himmel, mit seinem lichten Kobaltblau und den in Mauve und hellem Oker angelegten Wolken des späten Nachmittages, steil gesehen, … ohne Horizont? … Erinnerst du dich?”

„Ja, Père Claude, sicher. Sicher erinnere ich mich … ganz genau sogar erinnere ich mich. Aber wie ihr es beschreibt, so ist es nicht ganz richtig. Der Himmel schon … aber am oberen Rand habt ihr doch einen Horizont angedeutet, nämlich einen sehr schmalen Streifen grünen Schilfes oder Bambus´ am Ufer.” 

„Ja, du hast Recht! … Wie gut du dich erinnern kannst … Du weist aber vielleicht nicht, oder nicht mehr, dass ich dieses Bild an einen Amerikaner, an einen gewissen Mr. Sutton verkauft habe. Leider! … Leider habe ich mich breit schlagen lassen! Der Idiot hat das Bild verkehrt herum … auf dem Kopf stehend … betrachtet und aufgehängt, sage ich dir! Du wirst es nicht glauben, sage und schreibe! Na klar … bei diesen Ignoranten ist natürlich der Himmel auf einem Bild immer oben! … Wenn ich nur an diese Amerikaner denke, die Durand-Ruel und mich selbst pausenlos bedrängen, Bilder mit Seerosen und Teichlandschaften zu verkaufen. Wenn ich nur an diese »Yankees« denke, dann wird mir schon übel und ich muss kotzen … An dem Beispiel Sutton siehst du doch, dass sie meine Bilder kaum wirklich betrachten und schon gar nicht verstehen. Ich bedaure überhaupt, dass ich das Bild verkauft habe ... Es ist nicht gut, nicht gut genug! ... Ich hätte es zerklopfen sollen, so wie die anderen, die ich neulich zerschlitzt habe …”

„Ihr seid zu streng mit euch! … Ihr seid zu selbstkritisch! …”, warf Blanche überzeugt ein, während sie die erneut herabgeglittene Haarsträhne mit dem Handrücken zurück in den Haarkranz über ihre rechte Schläfe schob.

      

Ohne auf ihre als ehrlichen Trost gedachten Worte einzugehen, fuhr der Maler wie im Selbstgespräch mit sich befasst fort:

„Sie sind gar nicht wirklich an meinen Bildern interessiert … sie sind an mir interessiert! ... und das auch nur wegen der gestiegenen Preise! … nur, weil ich jetzt etwas koste, etwas wert bin, auf dem Markt, versteht sich! Nur deshalb! … Meine Bilder und die Schönheit, die ich darauf einzufangen suche, die sind den Leuten eigentlich partout gleichgültig ... scheiß egal! ... um ehrlich zu sein! … entschuldige, Blanche, … aber ich werde alles, was nicht gut ist, noch vernichten, immer aufs Neue vernichten, solange ich noch atme! Das schreckliche Schicksal Édouards steht mir stets vor Augen … Es verfolgt mich bis in meine Träume und ängstigt mich im Schlaf… ”

„Manet meint ihr?”

„Na selbstredend, Édouard Manet! Welchen Édouard denn sonst?“, gab Monet etwas unwillig zur Antwort. „Nach Édouards Tod 83, vor zweiundzwanzig Jahren, da rissen Händler und Antiquare jeden Fetzen Papier, jeden Fetzen bemalter Leinwand wie irre an sich, gleichgültig, ob Experiment, Studie, Skizze oder misslungenes Gemälde. Wie die Geier! Sie warfen den Mist … den Manet übrigens zu Lebzeiten nie auszustellen, schon gar nicht zu verkaufen gewagt hätte, … sie warfen diesen Mist zu irren Preisen auf den alles verschlingenden Markt, auf diesen Moloch. Vieles von diesem Mist hängt heute in Galerien und Museen und wird als Meisterwerk dem Publikum angedient! … Übrigens von denselben Schreiberlingen, denen es eben noch eine Lust gewesen war, Édouard vor seinem Tode zu verhöhnen und zu verreißen. Und an diesem Mist, an dieser Messlatte aus merde, an dieser gemessen zu werden, das wird sein Werk hinfort und in alle Zukunft ohne Gegenwehr erdulden müssen! Solange man sich seines Namens erinnern wird! Solange diese Welt bestehen wird! … Das werde ich nicht riskieren. Alles wird vernichtet, was nicht gut und was nur mittelmäßig ist, vernichtet von meiner eigenen Hand. Und ob etwas gut ist, oder nur mittelmäßig ist … oder ganz einfach schlecht ist? … wer kann das beurteilen, wer kann das entscheiden? Nur ich kann das. Nur der Schöpfer kann das! … Der Schöpfer ganz allein …”

     „Dort hinten kommen die Gärtner”, versuchte Blanche den Maler aus seinen ihn immer noch bedrückenden und erregenden Erinnerungen zu reißen. Sie zeigte auf die beiden Männer in ihren blauen Kitteljacken, die weit entfernt, am Zufluss der Ru in den Teichgarten, mit dem Pflanzen begonnen hatten.

„Wenn ihr euch durch sie gestört und abgelenkt fühlt, gehe ich hinüber und schicke sie an eine andere Stelle, die nicht in eurem Blickfeld liegt.”

„Nein, Blanche, die stören mich nicht. Ich sehe sie ja gar nicht. Ich blicke doch viel weiter nach links, und nicht über den Teich, sondern auf den Teich, wie durch einen Tunnel, der alle Nebensächlichkeiten rechts und links, oben und unten, ungesehen macht …”

Sogleich aber verfiel Monet wieder in seinen Monolog, wobei er den Anschein zu erwecken suchte, es sei kaum von Bedeutung, ob Blanche seinen Worten überhaupt noch folge:

„Die verstehen mich alle nicht. Und die, die mich verstehen würden, all die Freunde und Helfer, die sich mit mir auf den ungewissen Weg in das Abenteuer einer neuen, ehrlicheren Malerei gemacht hatten, die haben mich verlassen … die sind tot, oder sie haben mich verraten! … alle haben mich verlassen ...  Frédéric ist schon lange dahin, gefallen ist er mit nur neunundzwanzig Jahren, Bazille meine ich, … 70, in der Schlacht von Beaune-la-Rolande … von den scheiß Preußen erschossen ... Courbet ist nun auch schon sechsundzwanzig Jahre … nein, entschuldige! … achtundzwanzig Jahre tot ... dein Vater, mein Freund und früher, treuer Gönner und Förderer, Ernest, ist vor vierzehn Jahren gestorben ... Camille, … nein, nicht meine Frau, Camille Pissarro, ... warte mal, ja, Camille ist seit zwei Jahren tot ... Gustave Caillebotte ist vor elf Jahren gestorben, glaube ich … ja, vor elf Jahren. Caillebotte hat uns alle ernährt. Er hat unsere Bilder zu inflationären Preisen gekauft, obgleich er selbst Maler war, und nicht einmal ein schlechter. Ohne seine Hilfe wären wir alle längst an Unterernährung gestorben … oder an Auszehrung … oder an der Schwindsucht … oder an was weiß ich! … Weißt du das, mein Engel? Gustave hat uns alle am Leben erhalten! Bazille übrigens … Frédéric Bazille hast du ja nie kennengelernt, das war ja vor deiner Zeit … Frédéric war auch sehr großzügig, sehr selbstlos. Er hat mir viel gegeben, sehr viel! Immer wieder hat er mir geholfen! … Wie oft hat er uns, Camille und mir, Geld geliehen, ja, sogar geschenkt. Ohne Frédéric wären wir schon damals verhungert, bevor noch alles angefangen hat … Édouard Manet war auch ein wirklicher Freund. Auch er hat mir oft geholfen. Besonders 75, als es mir denkbar schlecht ging, hat Édouard mir Geld geliehen. Bei der Versteigerung im »Hôtel Drouot« hat er sogar Bilder gekauft, nur um uns, Renoir und mir, etwas Geld zukommen zu lassen … wirklich großzügig! … 78, im Januar und im März, hat mir Manet wirklich selbstlos und großzügig geholfen. Ohne sein Geld hätte ich weder den Umzug von Argenteuil nach Paris im Januar noch die Anschaffung der nötigsten Dinge für Camilles Niederkunft und Michels Geburt im März bezahlen können. Diesen Freundesdienst habe ich Manet nie vergessen …”

Nach einer kurzen Pause, während der Monet mit einem neuen, breiteren Pinsel, ausgestattet mit längeren und weicheren Borsten, Krapprot und Spuren von Weiß und hellem Oker auf der Palette zu mischen begann – nur flüchtig, sodass die einzelnen Farbkomponenten in feinen Fäden noch erkennbar blieben – fuhr Monet in seinem Jammern fort und bemitleidete sich mit klagender Stimme selbst. Blanche, die ja fast alle seine Erinnerungen schon auswendig kannte, empfand seine Worte als maßlos übertrieben.

„Sisley ist auch schon tot. Kurz vor der Jahrhundertwende, 99, hat er sich aus dieser Welt davon gemacht. Hätte ich nicht geholfen, dann wäre seine Familie nach seinem Tode verhungert … Eugène Boudin, mein frühester Freund aus den Tagen meiner ersten Versuche im Freien zu Malen … ihm verdanke ich alles … Boudin ist vor neun Jahren … nein, warte, 1898 ... vor sieben Jahren gestorben. Du hast ihn nie richtig kennengelernt, ich meine nicht so wie Manet oder Renoir … Johan Bartold Jongkind ist auch schon seit vierzehn Jahren tot, ja, 91 hat er sich davon gemacht … von ihm habe ich das Meiste gelernt. Er war es, der mein Auge eigentlich geschult hat, denn von dem mir eigentlich nachgesagten Lehrer Charles Gleyre … der übrigens bezeichnenderweise genau während unserer ersten Gemeinschaftsausstellung bei Nadar am Boulevard des Capucines im Mai 74 verstorben ist, … von Gleyre habe ich nichts lernen können, aber auch gar nichts …” Der Maler hielt in seiner Rede einen Augenblick inne, um sich erneut eine Zigarette zwischen die Lippen zu klemmen und anzuzünden. Danach fuhr er fort seine traurigen Erinnerungen wiederzubeleben und sich seinem larmoyanten Selbstmitleid zu überlassen: „Von Manet und Courbet habe ich lernen können. Courbet hatte gegen Ende seines Lebens ein trauriges Schicksal. Er war in die Schweiz geflohen, da man in Frankreich ihm mit Schuldhaft gedroht hatte. Er war ein gebrochener Mann ... Er starb, ohne die Heimat wiedergesehen zu haben … über einen der größten seiner Maler, über Gustave Courbet, verlor Frankreich bei dessen Tod 77 kein einziges Wort …” 

 

Monet legte für einen Augenblick Palette und Pinsel auf das Gras zu seinen Füßen und zündete sich eine neue Zigarette an, nachdem er den erkalteten Stummel, wie es seiner beklagenswerten Gewohnheit entsprach, in seiner Jackentasche hatte verschwinden lassen, ohne dass seine Schwiegertochter es bemerkt hatte. Blanche hatte den Blick gesenkt und spielte mit ihren Füssen im Gras. –  

„Woran denkst du?” verlangte Monet zu wissen. Offenbar hatte er bemerkt, dass Blanche seinen Klagen nicht mehr folgte und mit ihren Gedanken – in  Schweigen versunken – in  andere Gefilde abgedriftet war.

„An nichts … ich träume so vor mich hin. Aber ich höre euch schon noch zu, glaubt es mir nur …”

Natürlich dachte Blanche an etwas. Bei dem vertrauten Verhältnis, das seit ewiger Zeit zwischen ihr und Claude bestand, hätte sie ihm durchaus ihre Gedanken beichten können. Aber heute wollte sie das nicht. Blanche erinnerte der leidenschaftlichen Stunden vor ihrer Heirat mit Jean Monet. Stunden, die sie mit ihrem Geliebten John Leslie Breck durchlebt hatte, einem Maler der amerikanischen Kolonie in Giverny. Sie gedachte der Stunden an warmen Sommersonnennachmittagen am Ufer der Epte – neben den gelben Wasseriris, mit dem bittersüßen Duft von Gras, von frischem Heu und von algigem Wasser; Stunden, in denen ihr Liebhaber wie von Sinnen zwischen ihren weit gespreizten, schon damals gut gerundeten Schenkeln ihren Schoß genoss, immer und immer wieder, bis sie beide, schweißbedeckt, gesättigt und ermattet, nebeneinander lagen und in den unendlich hohen, lichtblauen Himmel oder auf das träge, flaschengrüne Wasser des Flusses blickten und zufrieden schwiegen. – 

Breck hatte Giverny 1892 für immer verlassen, fünf Jahre vor ihrer Heirat. Claude hatte ihr Verhältnis bewusst zerstört; ob aus Eifersucht, oder in der Hoffnung, nach der Vertreibung ihres Liebhabers eine Ehe zwischen ihr und seinem ältesten Sohn Jean stiften zu können – selbstsüchtig, nur um sie danach immer in seiner Nähe zu haben – das hat Blanche nie in Erfahrung bringen können, vielleicht auch gar nicht in Erfahrung bringen wollen –

„Wie unbarmherzig, wie selbstsüchtig Claude doch sein kann …”, sagte sich Blanche im Stillen.

Wirklich geliebt hatte sie John Leslie Breck nie, er sie aber wohl, dessen war sie sich sicher. Deshalb war die Trennung von ihm für sie auch kaum schmerzhaft gewesen. Was Blanche an ihn gebunden hatte, das war die Erfüllung ihrer Wunschträume nach körperlicher Vereinigung mit einem sie leidenschaftlich begehrenden Mann, der ihre Lust immer und immer wieder zu erregen und zu befriedigen vermocht hatte. Die wirklichen, die geheimen Träume, tief in ihrem Inneren vergraben, hatten aber nicht John Leslie Breck gegolten, sondern einem anderen Manne. Diese Träume waren erfüllt von einer verzehrenden Sehnsucht nach ihrer ersten Liebe: Claude Monet. Die Stunden mit Breck waren für Blanche nur ein kümmerlicher Ersatz für das, was sie mit Claude zu erleben vermocht hätte: wenn sie sich mit ihm – ihre nackten Körper ineinander verschmolzen und seine Hüften von ihren Beinen umschlungen und an sie gefesselt – wenn sie sich abseits ihrer beiden Staffeleien auf der Erde und im Gras geliebt hätten, bis sie sich beide in einem Farbrausch aus irrsinnigem, wildem, aufschreiendem Rot ineinander verströmt hätten, wie glühende Lava zweier Vulkane. Danach würde sie mit Claude, immer noch vereint und sich einander mit ihren Gliedern fest umschlingend, Mund an Mund gepresst, im Blau einer rauschhaften Befriedigung tiefer und tiefer sinken; tiefer und tiefer sinken in das Blau des Wassers, tief und wohl geborgen zwischen die smaragdgrünen Stängel und Blätter der Schlingpflanzen auf den Grund des Seerosenteiches. Nie mehr loslassen würden die Schlingpflanzen ihre beiden miteinander verschmolzenen Körper – verloren für die Welt, aber gewonnen für einander bis ans Ende der Zeiten! –

Während Blanche sah und fühlte, wie sie, vereint mit dem geliebten Mann, tiefer und tiefer in dessen blaues und grünes Universum glitt, vermeinte sie feenhafte Klänge einer Musik zu hören. Eine Musik, herbeiflutend wie aus den Sphären einer anderen Welt, die ihre Seele und ihre leibliche Hülle umgarnte und erbeben ließ: Tristan starb, und Isolde starb. –

Bei den Klängen dieser für ihre – ansonsten durchaus gesunde und widerstandsfähige – Seele gefährlichen, bei den Klängen dieser saugenden, von allem Besitz ergreifenden, ihr Inneres wie eine Krankheit anfallenden und infizierenden Musik – die sie als Malerin als Violett , oder als Blau, oder als nie gesehenes Schwarz empfand – bei diesen Klängen trat das Bild ihres Schöpfers Richard Wagner wie eine flüchtige Erscheinung aus der Reihe der vielen Bildnisse hervor, die sie lebhaft in der Erinnerung ihres Auges zu speichern gelernt hatte: das Bildnis eines Mannes mit einst wohl blondem, jetzt aber falbem oder weißem Haar, und mit seltsam zusammengekniffenen, etwas verschleierten, obgleich sehr dunklen Augen unbestimmter Farbe. Das Porträt hatte Blanches väterlicher Malerfreund Auguste Renoir 1882 in Palermo in nur einer halben Stunde gemalt. Sie wusste, dass Renoir die Musik Wagners leidenschaftlich liebte, ja, dass er diesen Klängen nahezu wie einer Droge verfallen war. Überhaupt, so jedenfalls meinte sie bei mehreren Gelegenheiten bemerkt zu haben, bestand zwischen Renoir und Wagner eine überraschende Übereinstimmung der charakterlichen Besonderheiten, unabhängig von der nicht unbedingt gegensätzlichen äußeren Erscheinung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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