Kagel: Geschenksendung, keine Handelsware - Chronik einer langen Flucht

15,98
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Eine Arztbiographie so ganz anderer Art.

Im August 1988 gelang einem Hochschulprofessor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald mit seiner Familie eine spektakuläre Flucht in den Westen. In ungewöhnlicher Offenheit schildert dieser in "Geschenksendung, keine Handelsware" das Leben, Erleben und Überleben im sozialistischen Alltag der DDR, die filmreife Flucht, die Wende und die Nachwendezeit. Eine Arztbiographie so ganz anderer Art.

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Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Otto Kagel, Jahrgang 1942, wurde in Greifswald geboren, wo er auch die Schule besuchte und Medizin studierte. Als Facharzt für Chirurgie und Radiologie wirkte er bis 1988 als Hochschullehrer an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Im August 1988 gelang ihm mit seiner Familie eine spektakuläre Flucht in den Westen. In ungewöhnlicher Offenheit schildert er in “Geschenksendung, keine Handelsware” das Leben, Erleben und Überleben im sozialistischen Alltag, die Wende und die Nachwendezeit.

 

Karl Otto Kagel: Geschenksendung, keine Handelsware - Chronik einer langen Flucht 340 Seiten, Broschur, € 15,98, ISBN 978-3-86992-047-4

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Leseprobe:
 
Vorwort

 

„Geschenksendung, keine Handelsware“ – so mussten Päckchen und Pakete, die millionen- und abermillionenfach von West nach Ost – von Westdeutschland nach Ostdeutschland, also von der Bundesrepublik Deutschland (BRD) in die Deutsche Demokratische Republik (DDR) – und umgekehrt verschickt wurden, deklariert sein. So wollte es die DDR.

Vom 8. Mai 1945 bis zum 9. November 1989 waren das vierundvierzig Jahre, sechs Monate und ein Tag. Vierzig Jahre existierte die DDR. Mit der Anzahl der Tage gerät man rasch ins Schlingern – die Schaltjahre.

Bevor aber diese DDR zu existieren begann, ist sie frühzeitig gescheitert – frühzeitig in historischen Dimensionen. Sie machte ihrem Namen, Deutsche Demokratische Republik, keine Ehre, wohl brachte sie aber durch ihre Ideologie reichlich Schande: Diktatur des Proletariats. Diese Ideologie hat Menschen manipuliert, ideologisch missbraucht, entmutigt, erniedrigt, erpresst, verfolgt, eingesperrt und sogar getötet. Sie hat versucht, vierzig Jahre lang etwa 17 Millionen Menschen zu diktieren. Sie hat Lebensläufe beeinflusst, geprägt, verändert und zerstört – und hat doch verloren. Gescheitert ist die DDR-Ideologie, weil sie ihrem eigenen Anspruch nach einer humaneren Gesellschaft nicht gefolgt ist. Die Blätter des Geschichtsbuches beginnen, das Geschehene zu verwehen und zu beschönigen.

Wie aber Menschen lebten und leben mussten, überleben mussten und überlebten, und vor allen Dingen auch überlebt haben, ohne sich dem SED-Regime angedient zu haben, soll den Seiten des Geschichtsbuches zugefügt werden.

Nach anfänglich eher normaler Nachkriegsentwicklung ohne Marshall-Plan scheiterte im Osten das Experiment Sozialismus. Der Mauerbau 1961 konnte daran nichts ändern, nur das Ende verzögern. Es wurde eine lange Agonie. Vielen ist der Traum, das Ende der DDR zu erleben, nicht in Erfüllung gegangen. Sie sind einfach gestorben und haben die Hoffnung mit ins Grab genommen. Auch ihrer soll gedacht sein.

Die eigene Biographie ist nur ein roter Faden. Im Lichte der Motivation einer langen Flucht ist das Erlebte eine Biographie des gescheiterten Sozialismus unter autobiographischer Navigation.

Für mich endete die Biographie des Sozialismus durch unsere illegale und vor allem erfolgreiche Flucht aus der DDR – am 26. August 1988. Wir ahnten nicht, dass dieser Sozialismus fünfzehn Monate später Geschichte sein könnte – am 9. November 1989 fiel die Mauer.

In diesem Jahr erinnern wir uns nun des berüchtigten 13. August 1961, des 50. Jahrestages der Errichtung der Berliner Mauer, dem Synonym für die endgültige Teilung Deutschlands, die keine endgültige wurde und die für unendliches Leid und tragische Einzelschicksale in der DDR steht.

Auch in dieser Hinsicht ist „Geschenksendung, keine Handelsware“ eine Erinnerung und Mahnung zugleich.

                            

    Karl O. Kagel                                                                    Lübeck, 2011            

         

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

August 1997 im ICE

 

Die Schüsse an der Mauer sind verhallt – am 9. November 1989. Und doch wird heute der 13. August 1961 wieder gegenwärtig – 28 Jahre hat die Mauer gestanden. Dagegen ist ihr Verschwinden in Schallgeschwindigkeit erfolgt, so wie oftmals die Schüsse verhallt sind – äußerlich. Der 13. August hat so vieles verändert; nicht, dass es zuvor besser gewesen wäre, ganz bestimmt nicht. Der Ausweg war nur leichter: Wenn es mir nicht mehr passt, dann haue ich eben ab!

An jenem 13. August 1961 saß ich ab 4.00 Uhr früh auf einem Traktor der MTS[1] und pflügte Felder der LPG[2]. Es waren Semesterferien und irgendwann in diesen Ferien wollte ich doch einmal nach Westberlin, einen Prädikatfilm ansehen – egal welchen, die Karten gab es eins zu eins für Ostmark. Ja, und dann auch eine Niethose kaufen – Umtauschkurs vier oder fünf Ostmark für eine Westmark. „Westmark“ war schon ein Zauberwort.

Der 13. August hat verhindert, dass ich zu einer Niethose kam. Ich habe nie eine besessen, was eigentlich nicht ganz stimmt. Nie eine passende, wäre korrekt gesagt. War ich doch einmal während der Oberschulzeit nach fleißiger Ferienarbeit mit meinem Freund nach Berlin gefahren. Gerhard besaß bereits ein Motorrad, Marke MZ[3], und da sein Bruder in Berlin studierte, war die Unterkunft kein Problem. Nicht so sehr war es das primäre Ziel, eine Niethose zu kaufen. Vielmehr war es die Neugier auf den verwerflichen Kapitalismus. So begann etwa vier Wochen vor Ferienbeginn die vorsichtige Vorbereitung auf die Ferien durch manche Lehrer: „Macht auch in den Ferien etwas Vernünftiges.“

 Harmlos war das am Anfang. Dann wurde es konkreter: „Nicht nach Westberlin, dort ist nur Schund und Schmutz.“

Jedenfalls gelang es, uns so neugierig zu machen, dass Westberlin zu einem Muss in den Ferien wurde. Mit mühsam verdienten zweihundert Ostmark zogen wir los. Zuerst einen Prädikatfilm, Eintrittspreis eins zu eins, wie oben erwähnt. Trotzdem waren das fünf Mark Ost, auch in der ersten Reihe, Rasiersitz sagte man. Windjammer auf Breitwand, das war anstrengend, aber eins zu eins! Am nächsten Tag wurde dann endlich Westgeld eingetauscht. Fünf Ostmark für eine Westmark.

Jugendliche Neugier wollte befriedigt werden. Einen Horrorfilm mussten wir uns wenigstens ansehen. In der Yorck-Straße fanden wir ein kleines Kino, Yorck-Theater, in dem ein Film lief mit dem Titel: Das schwarze Museum. Wir setzten uns gegenüber in einen Hauseingang und sahen uns das Publikum an, kaputte Typen, wenige nur, die vorher im Stadtbild gar nicht aufgefallen waren. Das Kino total heruntergekommen. Dann endlich der Film! Ein rotes Postauto fuhr durch London. Buckingham-Palast, toll. Und dann immer wieder das rote Postauto. Es hielt vor einem wunderschönen Haus. Ein Zusteller überbrachte zwei reizenden jungen Damen ein Päckchen. Spaßiges Gezänk beim Öffnen. Ein Fernglas war drin, Absender unbekannt, ein heimlicher Verehrer?

„Es ist meins, ich habe doch das Päckchen bekommen, ich darf zuerst!“, und entreißt der anderen das Fernglas, hält es an die Augen.

„Ich sehe ja gar nichts.“

„Du musst das Fernglas scharf stellen!“

Da klickt es laut hörbar, und zwei dicke Nägel schießen aus dem Fernglas in die Augen. Die junge Frau ist sofort tot. Dann Großaufnahme, wie das Blut aus den Augen schießt. So ging es bis zum Ende des Films. Der Täter war der ermittelnde Kommissar.

Wir erzählten niemandem von dem Film, nur heimlich stimmten wir dem Lehrer zu, das war wirklich Schund und Schmutz. Aber man hatte die Wahl, die Freiheit. Man brauchte sich so etwas nicht anzusehen. Seither aber laufen solche Filme im Fernsehen. Die kaputten Typen sitzen zu Hause und ziehen sich diese Filme rein. Und ich denke seit damals: Der Umgang mit der grenzenlosen Freiheit ist doch schwer.

Dann endlich einkaufen. Gleich am S-Bahnhof Gesundbrunnen ging es in ein riesiges sowie ungewöhnlich großes und teures Kaufhaus für die Boys aus dem Osten. „Dieser Boy ist aus dem Osten, er will wissen, was die Sambalatschen kosten“, sang man schon für die „Brüder und Schwestern“ im Osten. Vom besonderen Status des Kaufhauses Gesundbrunnen wusste ich da noch nichts. Gerhard auch nicht. Schon an der Tür wurden wir freundlichst begrüßt: „Die Herren wünschen, bitte?“

Oh, Herren! Mein lieber Mann, das ist doch eine andere Welt.

„Eine Niethose.“

„Aha, die Herren wünschen eine Jeans.“

Ach so, Jeans heißen die hier. Kann man sich merken.

Ein Bandmaß wurde angelegt, Beinlänge, Umfang und was sonst noch wichtig schien, fertig. Kein Anstehen.

„Die Herren, bitte, die Rolltreppe hinauf und dann gleich rechts.“

„Danke.“

Rolltreppe hoch, nur vorsichtig, unauffällig, niemand soll merken, dass wir eine Rolltreppe noch gar nicht kannten. Aber das Staunen wurde schnell und jäh unterbrochen. Ein ebenso freundlicher Herr empfing mich mit einem in wunderschönes Papier eingehüllten Päckchen.

„Mein Herr, Ihre Jeans wollen Sie bitte dort an der Kasse bezahlen.“

Das kann es doch wohl nicht geben, Niethosen vorrätig und überhaupt, ohne anzustehen, schon passend verpackt. Die Welt schien in Ordnung.

 „Zwanzig Mark, bitte.“

Aua! Hundert Ostmark weg, aber Jeans! Leider konnte man die schöne Verpackung nicht lange genießen, denn ein auffälliges Paket ließ sich nicht über die Sektorengrenze in den Osten schmuggeln. Dieser verdammte Osten! Also trennte man sich schweren Herzens von der Verpackung: Die Jeans einfach in einen unauffälligen Campingbeutel gestopft, obendrauf die letzten Parteitagsdokumente, ab in den Osten, verdammter Osten, zweite Klasse, was? Aber endlich einmal Jeans, die ersten. Übrigens, die Jeans haben nie gepasst, die waren so eng, dass sie nicht über die Waden gingen.

Die ersten zwanzig Westmark, die ich besaß, waren weg.

Nur zu einer Herausforderung waren diese Jeans geeignet. Beim Verlassen des Demokratischen Sektors von Berlin waren scharfe Kontrollen vorgesehen: Aha, zwei junge Leute auf dem Motorrad, rechts heraus, Motor abstellen. Hier in den Kontrollraum, warten. Ich konnte kaum gerade gehen dank der Jeans, die nicht über die Waden passten und dadurch im Schritt zu tief hingen – Kunstlederhosen darüber, eben Motorradkleidung Marke Ost. Im Kontrollraum lagen allerlei Broschüren – wieder dieses Parteitagsmaterial. Also alles eingesammelt und in die Brusttasche gesteckt. Da geht auch schon die Tür auf.

„Kagel, reinkommen!“

„Waren Sie in Westberlin?!“

„Nein, wir haben den Bruder des Freundes besucht, der an der Humboldt-Universität studiert.“

Wir hatten uns abgesprochen, beide sollten die gleiche Auskunft geben. Nur nicht identische Sätze. Das bekannte Katz- und Mausspiel.

„Ausziehen!“

Pulsfrequenz mindestens 160. Sorgsam legte ich die eingesammelten Parteitagsdokumente auf den Tisch.

„Was wollen Sie damit?“

„Die brauche ich für die Schule.“

„Sie können sich wieder anziehen. Gute Weiterfahrt.“

Kann man sich zwei glücklichere Oberschüler der fünfziger Jahre vorstellen als hier an der Sektorengrenze in Schildow, so hieß der Kontrollpunkt in Richtung Norden?

Nach wenigen Kilometern mussten wir in einem Wäldchen rasten, ich musste mich der lästigen Jeans entledigen. Übrigens fand ich niemanden, dem diese Jeans gepasst hätte. Ich besaß also nie eine West-Jeans, später, in den siebziger Jahren dann eine Ost-Jeans – nachgemacht. Das sollte Freiheit symbolisieren und – ausreichen.

Großer Zeitsprung – die Flucht, 1988, zweiter Versuch geglückt. In ein unglaubliches Loch bin ich gefallen, gleich nach der Landung in Frankfurt, Frankfurt am Main natürlich. Fünfzehn Monate später sind die Menschen mit Hammer und Meißel dabei, die Mauer abzureißen. Vor dem Fernseher sitze ich mit Inge, wir weinen, wir können uns nicht freuen, wir sind fassungslos. Auch bei Inge kullern die Tränen. Freudentränen sind es nicht, wir sitzen seit unserer Ankunft im Westen noch immer in dem verdammten Loch, und ein BND-Mann kommt alle vier Wochen und warnt uns vor eventueller Entführung eines der Kinder. Nie in ein fremdes Auto steigen! Sie sind hier in Lübeck zu nahe an der Grenze. Und dann die aufdringliche Frage, wie denn der Fluchtweg war. Wie hatte man Hans in Bonn gesagt?

Wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Fluchtweg bekannt wird, dann sollten Sie es niemanden erzählen, vor allem nicht in Gießen.“

Ich sehe ihn wieder vor mir, den Pykniker hinter dem Schreibtisch des BND in Gießen am zweiten Tag meines unfreiwilligen Rundgangs von Schreibtisch zu Schreibtisch. Am 22. September 1988 sitze ich dem BND-Mann gegenüber.

Inge ist der ruhende Pol seit unserer Ankunft im Westen. Solange war ich es gewesen, kaum zu erklären und doch wunderbar, wie wir uns ergänzen konnten.

Die Gedanken wollen sich nicht zähmen lassen, sie kreisen, wollen in die Zukunft und enden doch immer wieder in der Vergangenheit, und dann immer durcheinander in diesem ICE. Die Mauer ist doch weg, was willst du denn noch? Natürlich, wissen will ich es, endlich mehr über die eigene Geschichte erfahren. Gibt es denn eine eigene Geschichte, die ich noch gar nicht kenne? Kann es das überhaupt geben, eine eigene Geschichte, die man nicht kennt? Gibt es das wirklich?

Nach sieben Jahren Wartezeit haben wir heute einen Termin bei der „Gauck-Behörde“ in Berlin, Inge und ich. Die Stasi-Akte liegt zur Einsicht bereit. Eine Akte, von der man nichts wusste. Ein Archiv, von dem man eine Ahnung hätte haben müssen. Wir haben doch da gelebt und das wieder nicht gewusst? Natürlich haben wir es geahnt, die Stasi stand doch oft genug vor der Tür. Schon mit achtzehn Jahren hatten sie mich vor, erst freundlich, dann auch drohend und fordernd. Nur nicht umfallen. Eine einzige Unterschrift hätte genügt. Nur nicht der Stasi dienen! Natürlich, er machte sich Notizen, und er wird sie nicht weggeworfen haben. Es wäre also logisch gewesen zu folgern, dass man eine entsprechende Akte hat. Aber richtig drüber nachgedacht habe ich nie. Kokettiert hat man im Freundeskreis schon mal. „Wahrscheinlich haben die von mir auch eine Akte!“

Ja, wirklich. Akte sagte man, ohne darüber nachzudenken.

Krenz und Konsorten sind frei, und die Toten von der Mauer sind schon verfault. Pech hatten sie, die armen Kerle. Es gab ja keinen Schießbefehl, behaupten die Strolche. Der langjährige Vorsitzende des Staatsrates, Honecker, ist seiner Verantwortung entgangen. Er hat den Untergang seines real existierenden Sozialismus noch erlebt, aber nicht begriffen. Nicht nur, weil er schon todkrank war, nein, andere haben die Schuld, wie immer der Klassenfeind. Dabei befand Honecker sich bereits auf dem Abstellgleis, die DDR wirtschaftlich am Ende. Ideologisch war das Lügengebäude sowieso schon seit Jahrzehnten nur noch eine Fassade. Aufgeben wollten die Bonzen nicht, und etwas ändern, dazu waren sie nicht fähig. Vorsichtig intrigieren vielleicht gegen Honecker, aber immer recht freundlich, bitte. Als dieser bei seinem letzten Staatsbesuch in Rumänien plötzlich an einem Gallensteinleiden erkrankte, notfallmäßig nach Berlin geflogen und operiert werden musste, konnte man die Ursache des Gallenwegsverschlusses beseitigen. Hinter vorgehaltener Hand wurde aber bald bekannt, dass man intraoperativ einen Nierentumor gefunden hätte. Aber niemand hätte sich getraut, es ihm zu sagen. Andere Gerüchte verlauteten, dass der Nierentumor entfernt worden sei. Genaues wusste man nicht. Das war wohl teilweise auch ein Frohlocken, so unmenschlich können Genossen untereinander sein, Menschen eben. Nun ist Honecker tot, seine Urne steht in Chile, wohin man den Todkranken flüchten ließ. Mit bundesdeutscher Staatsrente in Chile gestorben – welch eine Ironie. Auch mit bundesdeutschem Pass?

Den Nachfolger Honeckers, Egon Krenz, hat die SED am 20.01.1990 aus ihrer Partei ausgeschlossen. Diese Partei nannte sich nun SED-PDS. Wollten die anderen sich damit retten, mit einem Bauernopfer? Es läuft ein demokratischer Prozess gegen ihn, trotzdem oder deswegen? Weil er nun alle Schuld auf sich laden soll? Nein, kein Mitleid, aber der eine ist zu wenig. Und ob er verurteilt wird?

Die demokratisch-juristischen Spätschüsse sind auch verhallt. Der Steuerzahler hat sie bezahlt und muss weiter zahlen. Ob er, der bundesdeutsche Steuerzahler, sich dessen bewusst ist, dass seine Demokratie gar nicht in der Lage ist, eine Diktatur abzuwickeln? Ich habe mich daran gewöhnt, dass Scharen von Juristen bei Fuß standen, um Honecker zu verteidigen und Mielke auch, weil er vor 150 Jahren einen Polizisten erschossen haben soll. Ihn für seine Verbrechen in den letzten vierzig Jahren juristisch zu belangen, ginge nicht, fanden seine Verteidiger. Dazu sei er zu alt. Wenigstens hat er noch einmal einen DDR-Knast von innen gesehen, sicher modernisiert. Um alles zu begreifen, dazu war er doch schon zu alt.

Nun bin ich bereits seit neun Jahren bundesdeutscher Steuerzahler, und ihr seid es noch viel länger, ihr Demokraten. Ist das der Preis für die Freiheit? Ich zweifle oft oder bin ich immer noch auf der Flucht? Einmal auf der Flucht, immer auf der Flucht? Man muss wohl erst lange in einer Diktatur gelebt haben, um sensibel für die Gefahren zu werden, die der Demokratie drohen. Sollte einfach die Genugtuung reichen, dass dieses Experiment Sozialismus gescheitert ist? Für immer?

Fragt ein Mütterchen während einer Diskussion den Parteisekretär: „Sagen Sie mal, wer hat eigentlich den Sozialismus erfunden – die Politiker oder die Wissenschaftler?“

„Natürlich die guten Politiker“, lautet die Antwort.

„Dachte ich es mir doch, denn hätten die Wissenschaftler ihn erfunden, hätten Sie ihn zuvor an Ratten ausprobiert.“

Krenz und Konsorten sagen, nach 1945 wären NS-Täter nicht bestraft worden, nichtsdestoweniger seien Sozialisten bzw. Kommunisten heute Opfer einer Siegerjustiz. Plötzlich solidarisieren sie sich sogar mit den Nazis – na endlich.

Ja, die Schüsse an der Mauer sind verhallt. Was aber ist denn mit den vielen Schüssen, den Demütigungen, Bevormundungen und Repressalien innerhalb der Mauern der größten DDR der Welt? Natürlich, diese Schüsse waren nicht laut hörbar, aber ihre Druckwelle im übertragenen Sinne war gewaltig. Doch, einen Knall gab es auch, nur andere hörten ihn nicht, schon gar nicht die im Westen. Viele Schüsse machen taub, das wird es gewesen sein. Geknechtet, getreten, betrogen, verraten – was macht das schon? Ihr seid doch jetzt frei, was zählt da ein bisschen Geschichte? Die Historie, die Mutter des Vergessens, des Beschönigens, die Mutter nostalgischer Hingabe, deckt alles wieder einmal zu. So schlimm war es ja nicht – und übrigens, du hast doch Glück gehabt.

Da sitze ich im Zug nach Berlin im August 1997 – vom Westen in den Osten. Ich kenne bislang die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße nicht, also doch Glück gehabt. Dort hätte man auch nicht eingesessen. Der Stasi-Knast war in Berlin-Hohenschönhausen. Trotzdem ist es eine Reise in die Vergangenheit – heute im ICE. Eine Reise in ein Kapitel unbekannter, eigener Geschichte? Über sechs Jahre nach meinem Antrag auf Akteneinsicht, eigentlich in Rostock, sind vergangen aber die haben nichts gefunden, angeblich. Zufällig lernte ich eine Mitarbeiterin der Gauck-Behörde aus Berlin kennen: „Was, aus Greifswald, da komme ich auch her, habe dort studiert! In Rostock den Antrag gestellt, da können Sie lange warten.

Ich werde mir Ihren Vorgang mal auf den Tisch holen.“

Vier Wochen später haben wir, Inge und ich, einen Termin in Berlin. Viel Zeit mitbringen, es ist ein ganzer Stapel, hat unsere Gewährsfrau gesagt.

Aufgeregt und zugleich bewegt sitzen wir im ICE. Mensch, genieß doch dein Glück und bleibe zu Hause! Bleib doch, wo du bist, verdammte Erinnerung! Aber sie will nicht weichen. Würde ich sonst schreiben, in einem Zugabteil? Es ist kein Problem, in diesem ICE zu schreiben, weil er so lautlos daher gleitet, nicht ruckelt, wie der alte D-Zug im alten Osten von Greifswald nach Berlin. In Berlin besuchte ich Inge all die Jahre. Ähnlich fuhr ich vorher nach Glauchau bei Karl-Marx-Stadt. Daraus wurde wieder Chemnitz. Dorthin hatten sie Inge geschickt. Auch, weil sie wussten, dass wir seit zwei Jahren unzertrennlich waren, und diese Unzertrennlichkeit haben sie benutzt. Vor allem aber, weil auch Inge bei der Stasi nicht unterschrieben hat, das war der Grund. Weichklopfen wollten sie Inge, aber es gelang nicht. Wir nahmen die zehn Stunden Bahnfahrt in Kauf, umsteigen in Berlin, Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Zwickau. Ein privates Telefon gab es nicht für kleine Leute. Aber Liebesbriefe konnten sie nicht unterbinden.

Fang an, fang doch an, Menschenskind, fang endlich an zu schreiben, haben schon so viele zu mir gesagt, wenn ich über unsere Vergangenheit erzählte. Und plötzlich schlägt die Erinnerung mit voller Wucht zu, besonders heute: die vielen lautlosen Schüsse, deren Treffer noch immer schmerzen. Aber sie sind auch nichts im Vergleich zum persönlichen Glück. Geglückte Flucht, kein DDR-Knast. Und ich denke an Freunde, denen die Realität eines DDR-Zuchthauses nicht erspart geblieben ist.

 Gedanken gegen Gedanken – vergangene und gegenwärtige, gegenwärtige und zukünftige, gegeneinander, miteinander, geordnet, ungeordnet, spontan oder gezielt, beinahe schon vergessen und plötzlich wieder da. Aufwühlend in jedem Fall.

Du bist doch schon ganz schön alt, mein lieber Mann. Merkst du eigentlich, dass du von West nach Ost fährst? Wessi und Ossi, so blöd habe ich mir die Formulierungen nach der Wende nicht vorgestellt. Aber, ich fahre nach Berlin. Nach Berlin war einst ein Zauberwort. Gegen die Bestimmungen des Viermächtestatus nannten die Ulbrichts und Honeckers diese Stadt: „Berlin-Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik.“

„Ich muss morgen nach Berlin“ – das war einst ein Zauberwort. Es klang nach Beziehung, hatte Bedeutung, löste Ängste aus, schüchterte ein. Immer? Alle? Lass die Klinkenputzer ruhig fahren, war mein Argument. Nicht käuflich werden. Keine Angst zeigen. Angst haben, ist etwas anderes, aber nie zeigen. Eine gute Waffe. Allen Mut zusammennehmen, keine Angst zeigen, dabei immer sachlich bleiben und hellwach. Überlegen sein. Es war ihr Machtinstrument, Angst zu verbreiten, um die Menschen im Lande zu beherrschen.

1975. Unfallchirurgenkongress in Bratislava. Prima gelaufen. Vortrag über Gefäßdiagnostik bei bösartigen Knochentumoren gehalten. Der Knochenpapst Poppe aus Göttingen, aus dem Westen, möchte das Manuskript zur Publikation. Toll, ganz stolz – ätsch! Glückliche Rückfahrt mit der Eisenbahn, die noch rattert. Liegewagen geleistet, ist ja eine Dienstreise. Fahrkostenerstattung war nie ein Problem. So schlecht war es doch gar nicht in der DDR, oder? Mitternacht Bad Schandau, Grenze. Da ist sie wieder, die Angst! Nicht zeigen! Der Grenzer durchwühlt alles und wird fündig. Nicht die vielen Hochglanzprospekte der Westfirmen. Nein, die Deutschstunde von Siegfried Lenz. 1968 erschienen. Schund- und Schmutzliteratur aus dem kapitalistischen Westen. Beschlagnahmt. Wo arbeiten Sie? Aha, an einer sozialistischen Universität? Und dann westliche Druckerzeugnisse?! Da ist sie wieder mit ihrer Fratze, diese Methode: Angst machen.

„Ihren Dienstausweis, bitte, und Ihre vorgesetzte Dienststelle!“, fordere ich schroff.

Ein Blickwechsel. Angst auf beiden Seiten. Ich spüre, die Sache funktioniert. Er kann seine Angst nicht verbergen, hat es ja auch nie gelernt. Dazu braucht es Training.

„Ihren Dienstausweis, aber zügig!“, wiederhole ich meine Forderung.

„Ein Zollbeamter der DDR, der die wichtigste Nachkriegsliteratur der Bundesrepublik nicht kennt, zumal auch in der DDR verlegt, hat auf diesem Posten nichts zu suchen. Wenn ich nicht spätestens in Dresden mein Buch wiederhabe, sind ihre Tage als Grenzsoldat der DDR zu Ende!“

Der Grenzer zieht seinen Dienstausweis, ich schreibe Name, Dienstbuchnummer und Dienststelle auf – keine Angst zeigen. Kommentarlos geht er. In Dresden dann ein vorgesetzter Genosse mit dem Grenzer im Schlepptau und entschuldigt sich für das Verhalten. Ich hatte meinen Lenz wieder. Gute Weiterfahrt! Na, also, geht doch. Der real existierende Sozialismus, nicht kalkulierbar. Ich denke, die Genossen werden sich noch lange den Kopf darüber zerbrochen haben, was das wohl für ein hohes Tier war, dem sie da begegnet waren.

Heute sitze ich also im ICE nach Berlin – dieser nun wirklich großen Stadt – und niemand schaut mich ängstlich an. Dabei trage ich doch einen Schlips. Krawattenträger im D-Zug nach Berlin wurden vor Zeiten immer beargwöhnt. Beziehungen? Wer weiß?

Bald muss die Zonengrenze von Helmstedt kommen, Entschuldigung, die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik. Ach ja, beides gibt es ja seit fast acht Jahren nicht mehr. Was wohl mein Grenzer von 1975 gerade macht? Ist er noch General geworden oder hat ihn die Zeit einfach überrollt? Versonnen schaue ich aus dem Fenster des Zuges, Verzeihung, aus dem Fenster des ICE.

Da, war das eben nicht die ehemalige Grenze? Sie ist kaum noch als solche erkennbar. Nicht einmal eine Gedenksekunde ist möglich. Dabei hätte ich ein kurzes Innehalten verdient! Ach nein, ich doch nicht! Ich hatte ja Glück! Und außerdem, ich fahre von West nach Ost. Da muss sich heute keiner verstecken. Aber die Angst fuhr früher auch in dieser Richtung mit, war Begleiter auch der Menschen, die aus einem freiheitlich demokratischen Umfeld kamen, um ihre Verwandten zu besuchen. Manchem im Westen galt dennoch die DDR als Alternative zur BRD. „Diese doofen Achtundsechziger“, fährt es mir durch den Kopf. Immerhin gestanden sie ein: aber die Mauer! Falsch, ganz falsch, der Sozialismus war das Übel. Die Mauer, diese Haustür für unser Zuhause hätte legitim sein können, wenn sie nicht gegen uns gerichtet gewesen wäre. Ich wie die meisten anderen auch konnte „unser Haus“ nie verlassen, zumindest nicht in Richtung Westen zu Kongressen, was so wichtig gewesen wäre. Und ich hatte doch so viele Einladungen, war aber im eigenen Haus eingesperrt. Warum habt ihr Demokraten eigentlich immer Angst gehabt an der Grenze? Ich weiß, ihr habt den Umgang mit der Angst nicht geübt, ihr konntet sie nicht verbergen. Keine Angst zeigen, Junge, das war es! Und früh habe ich die Lektion gelernt. Ich war gerade im ersten Semester. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft war im April 1960 erfolgreich beendet worden – freiwillig natürlich. Falls ich jemals schreibe schreib das alles doch einmal auf – dann muss ich die Zeit der Zwangskollektivierung unbedingt in allen Einzelheiten erwähnen.

Um eine Erklärung werde ich dann ringen müssen, warum die Eltern damals, 1960, nicht schon abgehauen sind. Dieses Abhauen ist der feine rote Faden, an den man sich so viele Jahre geklammert hat.

In diesem ICE von Westfalen nach Berlin kreisen die Gedanken durch die erlebte Geschichte. Wo soll da noch verborgene Geschichte existieren?

Mein Blick fällt auf Schmierereien an den Wänden und auf den Sitzen. Ich kann es nicht fassen, wer macht so etwas? Wo fängt Freiheit an – vor allem – wo muss sie enden? Für eine stattliche Zahl von Menschen, so scheint mir, besteht Freiheit darin, sich von Verantwortung zu befreien. Demokratie bedeutet doch wohl, bitteschön, auch Disziplin und Selbstdisziplin zu wahren. Oder? Aber würde ich mich trauen, solch einen Schmierfinken zur Rede zu stellen? Oder eher Angst haben, eins in die Fresse zu bekommen? So ein wunderbarer Zug, denke ich. Die zweite Klasse der Bundesbahn, viel besser ausgestattet als die erste Klasse der Deutschen Reichsbahn einer nicht mehr existierenden DDR. Erste Klasse, Deutsches Reichsbahn, im Sozialismus. Ja, es gab eine erste Klasse im Sozialismus. Es war aber besser, nicht dazuzugehören.

Warum waren sie vierzig Jahre möglich, diese Schüsse innerhalb der Mauer? Schüsse, die niemand hörte, oder doch? Aufschreiben, Junge, schreibe das endlich auf. Ja, ich höre euch, ich schreibe doch gerade!

In einem wunderschönen ICE fange ich nun an. Im Zug, der nur so dahin gleitet, nicht rattert. Eher holpern meine Gedanken! Bequem sitze ich an einem Tisch im Großraumwagen zweiter Klasse.

„Du in deiner Position fährst zweiter Klasse?“

Mein Gott. Ist denn das so wichtig?

Heute soll ich meine Stasi-Akte sehen, das ist wichtig. Vierzig Jahre Schüsse innerhalb der Mauer. Hatte jemand auch auf mich angelegt, auf meine Familie? Oder haben viele nur angelegt und gar nicht gezielt? Oder zur Täuschung gezielt und bewusst danebengeschossen? Versöhnliche Gedanken schleichen sich ein, berechtigt. Ich hatte ja Glück, immer.

 Ein demokratischer Staat versucht nun also seit Jahren, diese Diktatur abzuwickeln und findet nur Biedermänner. Wo sind sie denn geblieben, die unser Leben geprägt und vergiftet haben? Ich kannte solche, treffe ich heute wohl auf neue Namen in meiner Akte? Hilflosigkeit steigt auf in mir. Soll ich umkehren? Nein, Rachegefühle habe ich nicht. Eine persönliche Aufarbeitung vielleicht einmal. Mir hilft wieder das alte Ventil des politischen Witzes, das im Volk gut funktionierte und oft drastisch Heiterkeit auslöste.

Im Biologieunterricht wird die Entwicklung der Schweine durchgenommen. Fritzchen soll aus der letzten Biologiestunde referieren. Er fängt forsch an: „Wenn Schweine geboren werden, heißen sie Ferkel und werden von der Mutter, die man Sau nennt, gesäugt. Wenn die Ferkel etwas gewachsen sind, heißen sie Läufer.“

Da endet sein Wissen und die Lehrerin will helfen.

„Na, Fritzchen, was wird denn mit den Schweinen, wenn sie groß sind?“, will sie wissen.

„Dann werden sie (G)genossen!“, verkündet Fritzchen freudig.

Waren viele Schweine Genossen oder zu viele Genossen Schweine? Vergeben und vergessen? Heute wird womöglich eine Teilgeschichte lebendig, meine eigene, die mir bisher gar nicht vertraut war. Oder soll ich sie ruhen lassen?

Nein, ich bin entschlossen. Ich will meine Akte sehen! Für heute habe ich den Termin und die Bundesbahn, der ICE bringt mich nach Berlin, in die Normannenstraße, die alte Stasi-Zentrale.

Am 26. August 1988 landeten wir Fünf in Frankfurt am Main. Heute wird alles noch einmal lebendig werden: Akteneinsicht mit einem persönlichen Betreuer der Gauck-Behörde. Wenn nur der Zug mich endlich in Berlin-Zoo ausspucken würde! Dann könnte ich über meinen Weg wieder selbst bestimmen. Die Normannenstraße liegt im Ostteil der Stadt. Soviel ist klar. Aber erst einmal Berlin-Zoologischer Garten – für meinen ICE heute Endstation. Wieder öffnet sich das alte Ventil, ein politischer Witz kommt mir in den Sinn bei dem Stichwort Endstation.

Bald nach Kriegsende, damals, als viele glaubten, dass es nur besser werden würde, und noch mehr zweifelten, ob es denn überhaupt jemals wieder besser werden könnte, und erste Züge und Straßenbahnen schon wieder verkehrten, die aber niemand vollschmierte, stammt einer der wohl ersten Witze. Aus der Zeit also, als man mit Holzbänken noch sehr zufrieden war, sogar mit einem Stehplatz vermutlich. Aus einer Zeit, als man das Stehen auch noch viel länger durchgehalten hätte als heute: „Meine Herrschaften, Endstation, alles aussteigen, meine Herrschaften“, ruft eine freundliche Schaffnerin. Da tritt ein Fahrgast auf sie zu und sagt: „Hören Sie mal, Genossin, das mit den Herrschaften ist jetzt vorbei, wir bauen einen Arbeiter- und Bauernstaat auf.“

Auf einer der nächsten Fahrten hört dieser Genosse Fahrgast die Schaffnerin rufen: „Arbeiter und Bauern aussteigen, wir sind am Ende!“

Gut vierundvierzig Jahre hat das Warten auf das Ende gedauert, vierzig Jahre davon DDR.

Bahnhof Zoo. Die Riesenschlange ICE hält und speit Hunderte von Menschen aus. Sie eilen davon, als würden sie einer Gefahr entfliehen wollen. Hektik überall. Auf in die Zukunft oder nur zum Shopping für einen Tag Berlin? Oder zur Arbeit. Verfluchte Arbeit? Ob noch einer hier auf dem Bahnsteig weiß, dass die DDR eine Verfassung hatte, die das Recht auf Arbeit garantierte? Ich habe den Eindruck, man müsste für manchen Zeitgenossen heute daraus eine Pflicht zur Arbeit machen, jedoch Respekt haben vor denen, die tatsächlich aber keine Arbeit finden.

Ich will zurück in die Vergangenheit. Wie lang wird diese Reise? Und wem soll ich davon erzählen? Es ist ja nur ein Steinchen aus dem großen Mosaik der Nachkriegszeit, der Zeit des geteilten Landes. Aber will denn noch jemand zuhören? Ich bin voller Zweifel. Oft wurde ich gefragt, warum ich so spät abgehauen sei, da ich doch unversöhnlich mit den Genossen da drüben gewesen sei. Natürlich, es ist eine späte komplette Offenbarung dieser Unversöhnlichkeit gegenüber einem System, das nur daran arbeitete, die Unentrinnbarkeit aus diesem zu perfektionieren. Und doch konnte ich ihm entkommen – im August 1988. Heute werde ich erfahren – im August 1997 – ob und wie weit man mir auf den Fersen war. Auch – wer mir und wann man mir konkret auf den Fersen war? Hatte Vernichtung gedroht durch Menschen, mit und neben denen ich einige Jahrzehnte auf Erden ganz zufällig das Dasein teilen durfte oder musste? Alles kommt wieder hoch, die innere Wut und der versteckte Stolz, das Unkalkulierbare im DDR-Alltag. Bloß keine Angst zeigen, dann bist du verloren! Die Verhöhnung und Vernichtung der Individualität war angestrebt – Leistung zählte wenig.

Ein schlechter Genosse ist besser als ein guter Arzt, hatte Krempin während einer obligaten vierwöchentlichen Maleweibi gesagt. Maleweibi, so nannten die wissenschaftlichen Mitarbeiter unter sich die marxistisch-leninistischen Weiterbildungen. Krempin meinte es verdammt ernst. Das war der Grund, weshalb wir diese Veranstaltungen sehr locker nahmen. Deshalb fühlten wir uns überlegen und taten, was wir für richtig hielten, und sagten, was sie hören wollten. Diese Überlegenheit ließ uns Demütigung, Ungerechtigkeit und sogar Verrat ertragen. Ein ungebrochener Stolz hat auch mich am Leben erhalten. Eine Überlebensstrategie, die Schüsse innerhalb der Mauer zu ertragen und eine kleine Ecke Herz zu bewahren. Ich hatte mich eingerichtet, im Privaten meine eigene Mauer gebaut und mich so gut es ging abgeschirmt. Wir hatten uns eingerichtet, unsere Familie hatte sich eingerichtet. Das war der starke Pfosten, an den man sich lehnen konnte.

Nun bin ich im sicheren ICE. Nicht nur mich schmerzen noch immer Erfahrungen aus dem DDR-Alltag. Sie werden auch andere Betroffene wie ein chronischer Rheumatismus durch ihr Leben begleiten. Mein Kumpel, der ICE von Westfalen nach Berlin, hört mir geduldig zu. Wer sonst noch?

Zeit soll ich mitbringen, viel Zeit, sagte die Dame am Telefon bei der endgültigen Terminabsprache zwecks Akteneinsicht. Es sei ein ganzer Stapel. Vielleicht bin ich deshalb heute so aufgewühlt.

Das leise Summen und Rauschen meines ICE bringt mich zurück in die Realität. Heute macht dieses Summen und Rauschen gar nicht müde. Ich bin nicht nur aufgeregt, sondern auch bedrückt. Plötzlich wird mir bewusst, was mich belastet. Nicht meine Stasi-Akte und nicht die Vergangenheit mit der Angst, die ich nie zeigte. Das kostete Kraft. Nein, heute bin ich besorgt und beklemmt. Manchmal fühle ich mich sogar bedroht. Besorgt und beklemmt, das ist es, bedroht wäre zu egoistisch, und es ist ja auch keine persönliche Bedrohung. Richtig, die Demokratie, die ich seit neun Jahren erleben darf, die freiheitlich-demokratische Ordnung ist bedroht. Aber durch wen? Zuallererst durch die tägliche Sorglosigkeit – durch eure Sorglosigkeit, ihr Demokraten! Jetzt habe ich es – eure Sorglosigkeit, ihr Demokraten, ist die Ursache dafür, dass Gefühle einer Bedrohung wieder aufkommen können. Ihr oder wir passen nicht mehr auf. Es geht uns zu gut. Hurra! Der Kalte Krieg ist vorbei, wir haben gewonnen! Wir vergessen sogar, an einen Regenschirm zu denken, wenn dunkle Wolken aufziehen. Der Kalte Krieg ist schließlich vorbei. Hurra!

Dabei war er nur kurz zu Ende, der Kalte Krieg, oder gar nie ganz zu Ende. Die Glut hält sich lange, und so viele holen schon wieder Luft, um hineinzublasen in diese Glut. Sie wollen Flammen sehen, die Flammen einer Revolution. Zugegeben, an manchen Stellen gibt es schon wieder überreichlich, das macht neidisch. Und Neid lässt sich schüren. Nebenbei – die Neidgesellschaft ist längst etabliert, der Krieg vergessen. Wohlstand individualisiert die Menschen.

 Bedrohung, ja, Bedrohung ist das richtige Wort. Endlich habe ich es. Eine saturierte Gesellschaft ist auch eine Bedrohung, sie bedroht sich selbst. Sogar im Schlaf oder gerade weil sie schläft – einen satten, wohligen und tiefen Schlaf. Oh, Freiheit, die ich meine, sagte der Klassiker. Wahlfreiheit, die ich liebe, sagt der heutige Bürger und versteht darunter die Freiheit, nicht zur Wahl zu gehen und sich von Verantwortung freizumachen. Die Linken werden eines schlechten Tages allein zur Wahl gehen und gewinnen – weil die anderen zu Hause geblieben sind. Dann wird verteilt, was es zu holen gibt. Zum Glück reicht das nicht ewig. Dann sind die Linken wieder weg. Kuba gibt es ja noch und Nordkorea. Die ewigen Nörgler müssten nur einmal genau hinschauen, besser noch einmal hinfahren – und dann doch besser zur Wahl gehen. Dass zu wenige hinschauen, macht mir Sorgen.

Mein ICE gleitet noch immer sanft dahin. Ich bin wirklich nicht müde. Warum eigentlich nicht? Ich bin doch so glücklich, so zufrieden – Glück gehabt! Bin ich ungerecht, weil ich mich bedroht fühle? Aber es geht doch gar nicht um mich! Alter, was redest du da, die Evolution hat dich längst abgeschrieben. Die Evolution hat dich nur auf die Welt gebracht, damit du den Fortbestand deiner Art garantieren hilfst. Das ist längst vollbracht. Die Evolution hat nicht vorgesehen, dass du dich noch wohlfühlst auf dieser Welt. Sie, die Evolution hat nie danach gefragt, ob es dem Individuum auf der Welt gut geht, nur Fortpflanzung war wichtig. Siehst du, jetzt habe ich es. Die Fortpflanzung funktioniert auch nicht mehr so, wie die Evolution sie wollte, unkontrolliert und so oft es geht. Wir haben uns auf antievolutionäres Leben eingerichtet. Keine Seuche, kein Krieg, keine Bedrohung konnte den Bestand der Menschheit wirklich gefährden, weil die Fortpflanzung stets weiter funktionierte. Andererseits sind Gesellschaften auf dem Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung plötzlich zusammengebrochen. Und der Hauptgrund war immer ihr antievolutionäres Verhalten. Es wurden keine Kinder mehr geboren, oder zu wenig, um das Volk zu erhalten. Die Sterberate überstieg die Geburtenrate – Mathematiker und Statistiker könnten darüber Bücher schreiben. Wir brauchen sie aber gar nicht, nur zwei Fakten sind wichtig: Wann ist der Punkt erreicht und wer kompensiert das? Die Mongolen vertrieben die Araber, die Osmanen die Mongolen. Und nie kamen sie mit wirtschaftlicher, wissenschaftlicher oder kultureller Überlegenheit. In unseren Breiten vollbrachten Ähnliches einst die Ost- und Westgoten. Sie kamen nur mit der Masse Mensch – und ihrer Brutalität. Ist das die Evolution oder ist das unser Gott? Wäre es die Evolution, dann wäre ihr Produkt Mensch in weiten Teilen ein evolutionärer Fehlgriff. Wäre es Gott, dann hätte man ihm Besseres zutrauen können.

Dreieinhalb Stunden ICE, welch unendlich lange Zeit, eine Zeit, in der sich die Gehirnzellen austoben können – ein Produkt der Evolution.

Hier in Berlin soll ein Teil meiner Geschichte liegen? Wer will sie denn noch wissen? Schreibe alles auf, schreibe endlich alles auf, ehe noch mehr vergessen wird. Viel habe ich ja nicht geschafft, denke ich, als ich meine Seiten in der Tasche verstaue.

„Du hättest während der Fahrt ruhig mal mit mir reden können“, sagt Inge.

 

 

Wege ins Leben

 

Aus dem Fenster des alten Bauernhauses schaut eine Frau von zweiunddreißig Jahren auf zwei sorglos spielende Knaben. Sie ist die Mutter, trägt die Verantwortung für die Buben, und teilt demzufolge die Sorglosigkeit ihrer beiden Jungs, wie sie diese immer ruft, nicht. Beide sind im Krieg geboren. Und diese Mutter mag sich fragen, ob es richtig war, mitten in einem Krieg eine Familie zu gründen. Aber die Gedanken führt sie nicht zu Ende, wie das Abertausende, ja, Millionen und Abermillionen, nein Milliarden von Müttern vor ihr in eben solchen schlechten Zeiten ebenfalls nicht getan haben. Auch denkt sie kaum über die Konsequenzen nach, wenn Menschen in schlechten Zeiten keine Familien gegründet hätten – dann wäre nämlich die Menschheit längst ausgestorben. Der evolutionäre Urtrieb zur Erhaltung der Art brauchte solche Überlegungen nicht. Sie wären diesem Urtrieb abträglich gewesen. Aber auch darüber denkt die Mutter nicht nach, wie ihr auch Gedanken fremd sind, dass sich der Mensch doch als das vollendete Ergebnis der Evolution betrachtet; die Kirche sagt dazu Krone der Schöpfung. Stimmte das alles so?

Das Bauerhaus liegt in Vorpommern, etwa da, wo Deutschland in seiner östlichen Ausdehnung einst anfing. Vorpommern, Hinterpommern, Westpreußen – dann kam Ostpreußen. Und die Nazis hatten großen Teilen des Volkes vermitteln können, dass das noch nicht reichen würde. Der Mensch wieder einmal als Schmierfink in einer eigentlich so schönen Welt. Der Mensch mache sich die Erde untertan, so lehrt die Bibel. Darf man das so sagen? Auch ich, Karl Otto, der ältere der beiden Knaben, werde in meinem Leben viel darüber nachdenken müssen.

 In dieser frühen Nachkriegszeit ist mir das alles noch egal. Mein kleiner Bruder, Henning, und ich sind glückliche Kinder auf diesem alten Bauernhof, der allerdings noch keine so lange Familientradition hat. Der Großvater hatte den Hof 1911 von einer Familie Grünwald gekauft und dazu die dreißig Hektar Ackerland. Es sei ein einvernehmliches Geschäft gewesen, erzählte unsere Mutter immer. Nach dem Ersten Weltkrieg wäre aber die große Inflation gekommen und Grünwalds hätten ihr angelegtes Geld verloren. Da strebten sie einen Prozess gegen den Großvater an mit der Begründung einer Aufwertung des Kaufpreises aus dem Jahre 1911. Dabei lag doch der Verkauf eine Ewigkeit zurück – seltsame Gedankengänge. Großvater gewann den Prozess und hatte keine weiteren Kosten, aber es hätte ihn sehr belastet, so die Mutter.

„Dei ganze Tid wier mit em gor nich tau räden,“[4] schildert die Mutter diese Zeit.

Um sichtbar etwas für die Nachwelt zu hinterlassen, pflanzten die Großeltern Bäume gegenüber der Toreinfahrt auf der anderen Seite des morastigen Landweges, der einzigen Verbindung zwischen dem Bauernhaus und der Landstraße, von der dieser Landweg abzweigte. So würde auch bald aus der Ferne besser auszumachen sein, dass da einen Kilometer von der festen Straße entfernt, ein Gehöft liegt. Diese tausend Meter hatten es in sich, besonders im Herbst, wenn es regnete. Sprachen die Erwachsenen von knietiefen Schlaglöchern, dann bedeutete es, dass die Kinder beinahe ganz darin versinken konnten.

Und eben an diesem Landweg auf der dem Hause gegenüberliegenden Seite hatte der Großvater gleich nach 1911 jene Pappeln gepflanzt, die jetzt schon ziemlich groß waren, aus der Sicht der Kinder sogar riesengroß.

Mein Bruder Henning und ich dachten, dass diese Bäume den Wind machten, wie auch die Linden auf dem Hof, die schon da standen, als der Großvater den Hof kaufte. Das mit dem Wind, wagten wir allerdings nicht zu sagen. Es konnte kaum sein, das der Großvater Bäume gepflanzt hatte, damit Wind ist, den alle schrecklich fanden, jedenfalls, wenn der Wind zum Sturm wurde und die Pappeln furchtbar laut ächzten und die Blätter rauschten. Nein, das hätte der Großvater niemals gemacht, deshalb konnte es nicht stimmen, dass die Bäume Wind und Sturm machten.

In der Nähe der Pappeln wurden manchmal tiefe Gruben ausgehoben, wenn die angrenzenden Ackerflächen nach langem Regen unter Wasser standen. Dann hieß es, die Pappeln seien schon wieder in die Drainagen gewachsen. Nun, fast vierzig Jahre später, wurden die Pappeln gefällt. Das machte in zweifacher Hinsicht Sinn. Einerseits wuchsen sie nicht mehr in die Drainagen und zum anderen gaben sie einen sehr großen Stapel Brennholz. Bis zum letzen kleinen Ast wurde alles zu Brennmaterial verarbeitet. Pappelholz sei allerdings nicht viel wert. So hörten wir Kinder es jedenfalls oft von den Erwachsenen. Mit dem Fällen der Pappeln ging ein Teil der Geschichte des Bauernhauses schon wieder verloren, das war allen klar. Aber Brennholz war jetzt wichtig für das Überleben nach diesem Krieg. Auch, wenn dieses Brennholz eben nicht viel wert war. So verblasste der Gedanke, in Form von neu zu pflanzenden Bäumen, etwas für die Nachwelt hinterlassen zu müssen oder sich ein eigenes Denkmal zu setzen, vorerst zumindest nicht.

Fleißige Leute waren diese Großeltern, nicht nur in der Landwirtschaft. Sechs Kinder zogen sie groß, drei Mädchen und drei Knaben in einer friedlichen ländlichen Idylle ohne große Ansprüche. Die Bauernfamilie lebte von der alljährlichen Ernte auf dem Acker, Fleisch lieferte die eigene Tierhaltung über Schweine, Rinder, Schafe und natürlich Geflügel. Ein großer Bauerngarten brachte zudem reiche Erträge. Der gepflegte Nutzgarten war wie ein Aushängeschild, und oft stellte sich im Frühjahr oder Sommer sonntags Besuch ein. Dann war ein Rundgang durch den Garten obligatorisch für die Frauen. Von nicht winterharten Sorten der Gartenblumen wurden nach der Blüte sorgfältig Samen gesammelt und im Frühjahr rechtzeitig wieder ausgesät. Sämereien kamen nie aus dem Laden, alles wurde selber gezogen, bestenfalls getauscht, und das sehr oft. Immer wieder entdeckte man neue Pflanzen im Garten der anderen und dann hieß es: „Dor möt ik in Frühjohr einen Aflecher orrer in Haast Somen von häm.“[5]

Und so geschah es auch und man war stolz darauf, etwas abgeben zu können oder neue, unbekannte Sorten zu probieren. Gartengemüse gab es in jeder Vielfalt und immer reichlich, schon für die Kinder Generationen zuvor war das wohl ein Garten Eden. Wir durchstreiften ihn gern und konnten es kaum erwarten, die ersten reifen Radieschen oder Kohlrabi zu ernten. Kurz abgewaschen oder auch nicht wurden sie stehenden Fußes verzehrt. Alles entwickelte sich wieder langsam. Für uns Kinder kehrte die Normalität viel schneller zurück. Für die Erwachsenen war der Alltag noch lange nicht normal. Man sagte einfach nicht normal und dachte dabei sehnsüchtig an normale Zeiten. Das waren die Friedenszeiten. Und mit Respekt charakterisierte man die Produkte aus dieser Zeit als Friedensware.

Der Krieg hatte einen Teil des bäuerlichen Alltags zum Erliegen gebracht und sogar den Reiz schöner Blumen verblassen lassen. Erst sehr allmählich schlossen sich die Herzen der Menschen wieder auf, langsam wie Knospen einer Blüte sich bei schlechtem Wetter eben nur zögerlich öffnen.

Die Mutter der jetzt so sorglos spielenden Buben erinnert sich mit 96 Jahren noch gern an ihr erstes eigenes Gemüsebeet, das natürlich auch selbst bestellt und gepflegt werden musste: „Minschenskind, ik kann mi noch hüt an min irstes eignes Beet erinnern. Ik wir woll sös oder söben Johr olt, don har ik min irstes Beet und ik schmeck direkt noch hüt mine irsten eigenen Radieschen.“[6]

So wurde die Liebe zu Grund und Boden von Generation zu Generation weiter vererbt. Die Pflege des Acker- und Gartenlandes betrieben die Vorfahren mit Ehrfurcht. Vernachlässigtes Land war Frevel. Gott kam wieder ins Spiel. Man könne es vor Gott nicht verantworten, hieß es dann. In Wirklichkeit waren Hege und Pflege der Stolz des Bauern und die Ernte überlebensnotwendig, so einfach war die Welt.

Bevor der Großvater in den Stand eines Bauern als Besitzer seines eigenen Hofes kam, hatte er gedient, wie man die Einberufung zum Militär nannte. Mit Stolz erzählte die Großmutter davon. Schließlich hatte Großvater das Gardemaß. Ein Foto von ihm in Gardeuniform existiert noch, und die Mutter ließ es einst für ihre Kinder abziehen und nun haben auch alle Enkelkinder ein Foto vom Urgroßvater mit Gardemaß in Galauniform. Damals zählte einer ab 1,88 Meter[7] bereits zu den berühmten preußischen Langen Kerls.

Viel mehr wusste man über die Kaiserzeit vermutlich nicht. Daher schloss man aus den schlimmen Folgen der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass die Kaiserzeit noch gut gewesen sein musste. Nach der guten Zeit bei der kaiserlichen Garde war der Großvater also Bauer geworden. Eigentlich war er es schon vorher durch seinen Vater. Jetzt aber war er zudem auch Hofbesitzer. Eine spezielle Ausbildung war dazu nicht nötig. Die dümmsten Bauern ernten die größten Kartoffeln, heißt das Sprichwort. Es bedeutete nichts anderes als: Auf die Erfahrung kommt es an. Und die sammelte man erst, wenn man endlich selbstständig wirtschaften konnte. Um den letzten Schliff dafür zu bekommen, war die Zeit bei der kaiserlichen Garde nicht unwesentlich. Die Uniform der Eliteeinheit getragen zu haben, machte stolz und war Verpflichtung im zivilen Leben als Bauer. Sicher war das Soldatsein in Friedenszeiten sorgloser oder einfacher. Auch gab es eine andere Autoritätshörigkeit gegenüber König und Kaiser. Dabei war Kaiser immer noch eine Steigerung – und Deutschland hatte einen Kaiser, England immer nur einen König oder eine Königin. Deutschland war schon was. Man dachte nicht mehr daran oder wusste es nicht: Das Kaiserreich war ein Ergebnis vieler Kriege. So entstand das Deutsche Reich – auch reich an gefallenen Soldaten. Aber um 1900 war gerade Frieden. Man konnte sich in Galauniform fotografieren lassen.

Der Bauer hatte ein hartes Leben. Geld spielte kaum eine Rolle, man hatte auch keines. Gekauft wurden nur Salz und Zucker, womit sehr sparsam umgegangen wurde. Die Zuckerdose war sogar verschlossen. Mit allem wurde gespart; trockenes Brot wegzuwerfen war die größte Sünde. Tatsächlich schmeckte trockenes, geriebenes Brot auf dicker Milch sehr gut. Ebenso Brotsuppe, die heute niemand mehr kennt. Dickmilch ist Vergangenheit, weil pasteurisierte Milch nicht gerinnt. Damals wurde regelmäßig Milch aufgesetzt in sogenannten Milchsatten. Der Prozess des Dickens der Milch war auch wetterabhängig.

„Hüt dickt die Melk gor nich richtig“8, hieß es kurz vor dem Abendessen. Man prüfte den Vorgang durch leichtes Ankippen der Milchsatten. Dann gab es abends eben nur Bratkartoffeln. Die Dickmilch ersetzte im Sommer die Milchsuppe der Winterzeit. An anderen Tagen wiederum wurde die Milch besonders schnell dick.

„Hüt dickt dei Melk gaud“,[8] sagte die Großmutter dann.

Bei schwülem Wetter, wenn Gewitter in der Luft lag, ging das am besten. Das wussten die Menschen vom Lande. Sie waren gute Wetterpropheten. Auch so etwas war überlebensnotwendig. Solche Erfahrungen der Alten lernte man nebenbei, und wir Kinder bekamen schnell ein Gefühl für nahendes gutes oder schlechtes Wetter.

Der Erste Weltkrieg riss eine Lücke in diese Idylle. Aber alle überlebten. Wie es schien, war das Leid schnell vergessen, musste schnell vergessen werden. Es blieb kein Raum zum Nachdenken. Auch spielte sich die Gedankenwelt in sehr begrenztem Rahmen ab, wie unsere Mutter später immer wieder erzählte. Gottesfürchtigkeit ließ weiträumige Überlegungen nicht zu. So war die Welt eben und so hatte man sie zu nehmen. Lernen, hatte der Großvater gesagt, ist nicht nötig, schon gar nicht für Mädchen. War das noch immer nur der Urinstinkt von der Erhaltung der Art? Und außerdem, die Zahl der Esser am Tisch musste reduziert werden. Auf eigenen Füßen stehen, das war die Devise. Die Mädchen, so hieß es, mussten versorgt sein. Mit dem Wort Emanzipation konnte keiner etwas anfangen. Die monotheistischen Religionen hatten das Matriarchat abgeschafft und so die Frauen über Jahrtausende in eine fast entwürdigende Rolle gepresst. Dagegen wehrte man sich nicht und schon gar nicht unmittelbar nach dem Krieg, und erst recht nicht auf dem Lande. Außerdem war es schon immer so. Und wie gesagt: Nachdenken war wenig in Mode, die Aufklärung hatte die Dörfer noch lange nicht erreicht.

 Zehn Stunden Arbeit auf dem Feld und im Stall. Im Frühjahr und Sommer sowie im Herbst waren es eher mehr. Danach kam die Hausarbeit. Im Herbst und Winter waren bei schummeriger Beleuchtung verschiedene Handarbeiten üblich. Zuerst das Spinnen der Wolle, dann Stricken für die ganze Familie. Socken, lange Strümpfe und Hemden, sogenannte Leibchen für alle Kinder.

Unsere Mutter kann sich aus ihrer Kindheit noch gut an die vielen Dispute erinnern, als elektrisches Licht ins Dorf kommen sollte. Die Skeptiker behielten einige Zeit das Sagen, was die Verlegung der Stromleitungen noch Monate verzögerte. Der Großvater kämpfte vehement dafür. Es muss ein großartiger Tag gewesen sein, als auf Knopfdruck zum ersten Mal in dem alten Bauernhaus das Licht anging. Anfangs war der häufige Stromausfall nicht weiter bemerkenswert; das war eben so. Bislang hatte man ja auch kein Licht. Aber allmählich wurde es lästig, wenn das Licht ausfiel, denn mittlerweile waren die Kerzen so weit verbannt, dass man bei Stromausfall immer erst danach suchen musste.

Und dann weiß unsere Mutter über „das erste Fahrrad im Nachbardorf“ zu erzählen. Alles, was Beine hatte – sogar mit Pferd und Wagen – ging es bei nächster Gelegenheit dorthin, um das sensationelle Gefährt in Augenschein zunehmen. Allenthalben brachte man viel Skepsis mit nach Hause. Das erste Fahrrad im eigenen Dorf war eher akzeptiert. Schließlich rollte es fortan in vertrauter Nachbarschaft. Man identifizierte sich mit seinem Dorf und seinen Nachbarn. Einen Aufstand gab es aber beinahe, so erzählt unsere Mutter, als die erste Frau auf einem Fahrrad fuhr. Da hieß es geringschätzig in Plattdeutsch: „De Olsch mit denn Sattel in denn Schritt.“ (Die Alte mit dem Sattel im Schritt)

Nun sage noch mal einer, es wäre eine prüde Gesellschaft gewesen, die Generation vor uns, denke ich heute, wenn ich diese Zeit beschreiben will, so wie unsere Mutter sie erzählt hat. Unglaublich. Aber noch kann ich die Mutter fragen mit ihren 96 Jahren und ihrem unglaublich guten Gedächtnis.

Wieder zogen sich Kriegswolken zusammen und diesmal traf es das idyllische Landleben härter als im 1. Weltkrieg. Die Knaben der Großeltern waren herangewachsen und wollten auch ein Stück vom Heldentum ergattern. Die nüchterne pragmatische Einschätzung des Großvaters nützte nichts. Ob er damals zum ersten Mal instinktiv darüber nachdachte, dass Bildung doch wichtig sein könnte? Jedenfalls konnte er seinen Söhnen nicht vermitteln, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen sei, wie er es in diesem einen kurzen Satz immer wieder sagte.

So erzählt es noch heute unsere Mutter den Kindern der dritten Generation, mir und meinem Bruder Henning, 1942 und 1944 geboren. Zu jener Zeit gab es kaum noch Zweifel daran, dass dieser Krieg aller Kriege verloren war. Ich bekam meinen Vornamen nach Vaters Bruder Karl, der schon gefallen war und Otto nach dem Großvater väterlicherseits. Bei meinem Bruder war das schon anders. Kriegshelden musste man nicht mehr verehren, nur noch betrauern.

„Över dat gev immer noch Lüd in desse Johrn, die nennten ehre Görn Adolf, wenn dat ein Jung wier“ ("Aber es gab immer noch Leute, die nannten ihre Kinder Adolf, wenn das ein Junge war."), erzählt die Mutter.

Zwei Brüder unserer Mutter waren auch gefallen für Volk und Vaterland, wie es hieß. Der Traum vom Eisernen Kreuz war geplatzt. Stattdessen gab es Eisen ins Kreuz. Für tiefe Trauer ließen die Ereignisse keinen Raum. Das Leben ging weiter. Eben gottesfürchtig, obwohl sich diese Zeit offiziell gar nicht so gottesfürchtig gebärdete, geschweige denn überhaupt erst einmal menschlich, was ja viel fassbarer gewesen wäre und für jeden verständlich, auch im Dorf.

Unvorstellbar ist, wie Ehefrauen und Mütter derartige Nachrichten ertragen konnten: Für Volk und Vaterland heldenhaft gefallen. Und Gott lässt das alles zu?

Die Gedanken der Mutter kreisten allein um das Wohlergehen von uns Knaben, die wir inzwischen schon zwei- und vierjährig sorglos spielten nach diesem verlorenen Krieg, so wie der Großvater es immer gesagt hatte. Vor allem hingen ihre Gedanken an dem ungewissen Schicksal des Vaters von uns, der noch zum Kriegsdienst eingezogen worden war. Da glaubte schon wirklich niemand mehr, dass dieser Krieg zu gewinnen sei. Das war gegen Ende 1944. Die Führungselite hatte schon Wege gefunden, sich absetzen zu können. Ist es nicht ein Widersinn, von Elite zu sprechen? Ist es nicht schade um diesen wunderbaren Begriff?

Seither war ein einziges Lebenszeichen aus der russischen Gefangenschaft gekommen. Immerhin – ein Lebenszeichen.

Unser Vater entstammte ebenfalls einer Bauernfamilie, die in Mecklenburg ansässig war. Sein Vater wiederum, unser Großvater, bewirtschaftete zunächst den Hof der Schwiegereltern, bis der männliche Erbe alt genug war. Als im Sommer 1907 bei einem Gewitter das Wohnhaus infolge eines Blitzschlages komplett abbrannte, wurde unser Vater in der Schnitterkaserne des Hofes geboren. 1912 war der Hoferbe fit, unser Großvater musste sich nach einem eigenen Anwesen umsehen. Der kostete Geld. Ein Kredit der Banken half. Die Banken halfen aber nicht, den 1.Weltkrieg zu verhindern und erst recht nicht die Inflation danach. Auch Großvater ging in die Pleite. Noch heute sind die Initialen des Großvaters am Giebel des großzügig gebauten Stalles zu sehen – O.K. Mehr ist nicht geblieben. Fünf Söhne hatte die Familie der Großeltern väterlicherseits.

Das Lebenszeichen des zweitjüngsten Sohnes, eben unseres Vaters, nährte jetzt alle Hoffnungen unserer Mutter, so wie ihre Mutter einst gehofft hatte, als ihr Mann, unser Großvater mütterlicherseits, im Ersten Weltkrieg war. Man begann offenbar die Kriege zu zählen im 20. Jahrhundert. Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, einen Dritten würde es im 20. Jahrhundert hoffentlich nicht geben. Aber genau wusste das damals niemand. Allerdings bahnte sich ein langer Kalter Krieg an, der oft genug drohte, heiß zu werden.

Alles Zukünftige und die Sorgen der Mutter störten uns spielende Kinder nicht, wir waren einfach glücklich, und wenn wir uns einmal zankten, wusste unsere Mutter schnell zu schlichten. Pragmatisch, energisch und zugleich in liebenswürdiger Art, hatte sie auch dafür ein gutes Händchen. Wir ahnten nichts von ihren eigenen angstvollen Nächten nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen unsere Mutter immer wieder hochschreckte, besonders wenn einer rief: „Die Russen kommen!“

Wenn die Zeit es noch zuließ, wurden uns Kindern mit einem Rotstift rote Flecken ins Gesicht gemalt. Dann wurden wir ins Bett gesteckt – zudeckt bis zur Nasenspitze. Mit „Epidemie“ wurden dann die Russen empfangen. Die Betonung lag auf der dritten Silbe. Vor „Epidemie“ hatten sie gewaltig Angst. Die Frauen „färbten“ ihre Haare mit Asche grau und zeigten sich ungepflegt. Eines Abends spät polterte es überraschend an der Tür des Bauernhauses. Alle schreckten aus dem Schlaf auf, auch wir Kinder. Unsere Mutter hatte uns schützend in die Arme genommen. Verängstigt kauerten die Bewohner eng aneinander. Die „Besatzer“ marschierten bewaffnet durch alle Räume. Dann legten sie fest, dass ein Soldat zu beherbergen sei. Unserer Familie wurde also spät abends ein Soldat namens Vitkor zugeteilt. Er war noch fast ein Junge und nur wenige Augenblicke, nachdem der Kommandant mit seinen Leuten abgezogen war, spielte er mit uns auf dem Teppich – unter den misstrauischen Augen der Erwachsenen. Es wurde noch eine lange Nacht – wir hatten einen neuen Freund, Vitkor, einen Russen. Er tollte so ausgelassen und fröhlich mit uns Buben. Auch er wollte den Krieg offenbar nicht.

Viele Frauen teilten damals diese Angst auf dem mittleren Bauernhof in Vorpommern. Die Männer waren entweder gefallen, vermisst, in Gefangenschaft oder von den Russen eingesperrt, auch umgebracht. Der Großvater mütterlicherseits hatte zwar den Krieg überlebt, aber nicht die Inhaftierung durch die Russen.

Dass zwei Brüder der sorgenvoll blickenden und in nicht enden wollenden Gedankenketten versunkenen Mutter gefallen waren, das wusste man amtlich. Ein banges Warten erübrigte sich, so die pragmatische Denkweise. Man hatte auch so genug Sorgen.

Fast wollten sich die schrecklichen Erlebnisse der letzten Kriegswochen schon wieder aus dem Gedächtnis schleichen, was wohl für den Alltag nützlich gewesen wäre. Aber oft genug drängten sie sich vordergründig auf. Meistens in der Nacht und sie störten den Schlaf nicht nur unserer Mutter. Ob dieser Krieg gerecht oder ungerecht gewesen war, konnte nicht Gegenstand ihrer Gedankenwelt sein. Mütterliche Fürsorge verdrängte das Nachdenken. Vielleicht war auch ein Nachdenken über deutsche Schuld nicht aufgekommen, hatte doch eine ganze Nation unter dem vermittelten Eindruck der Notwendigkeit dieses Kampfes um Lebensraum gestanden. Manche hatten sogar darunter gelitten, noch nicht kv.[9] zu sein. Für zwei Brüder unserer Mutter gab es nichts mehr zu gewinnen; der jüngste geriet in Gefangenschaft und war hoffentlich noch am Leben. Der Großvater aber hatte tragischerweise seinen frühen kritischen Äußerungen keine spätere Ergänzung hinzufügen können, ihn hatten die Russen umkommen lassen, als alles doch eigentlich schon vorbei war. Und das nur, weil er ein guter Mensch war. So jedenfalls hatte Josef es den Russen gesagt, als sie auf den Hof kamen. Josef, ein polnischer Gefangener, der dem Großvater für die Arbeit in der Landwirtschaft zugeteilt worden war, wollte Gutes mit Gutem vergelten und nahm unseren Großvater gegenüber den gefürchteten Siegern in Schutz: „Herr gut.“

Josef nahm immer gemeinsam mit den Bauersleuten die Mahlzeiten ein, was von den Nazis streng verboten war. Der Tisch in der Küche war so aufgestellt, dass man die Hofeinfahrt immer im Auge hatte und wenn jemand kam, verschwand Josef mit seinem Teller. Am Wochenende durften die Polen nicht freihaben. Josef hatte immer frei, frei von Arbeit.

 „Bleib in der Nähe vom Holzhacken und lass das Beil im Hauklotz sichtbar stecken. Wenn einer kommt, haust du Holz“, hatte der Großvater ihm gesagt.

Das war die Freiheit für Josef und er dankte Großvater mit Herr gut. Einen ganz speziellen Freund hatte Josef. Der einst fanatische Altkommunist B. hatte sein Herz für die Nazis entdeckt und war nun wiederum fanatisch in seinem Hass auf die Polen und Russen. Herz und Verstand fehlten ihm gleichermaßen.

Wie gesagt, so war das eben – gottgewollt oder nur von Menschen gemacht? Damals war noch keine Gelegenheit, mit uns Knaben darüber zu sprechen. Einerseits verstanden wir Buben in unseren von Phantasien geprägten Spielen auf dem Bauernhof diese Welt noch nicht und andererseits wurde nach dem verlorenen Krieg mit all seinen Folgen der Alltag durch Überlebensstrategien beherrscht. Ehrlicherweise gestand sich unsere Mutter ein, dass unsere tägliche Not gegenüber der von den Städtern gering war. Der Boden gab einiges her und Arbeit war sie von frühester Kindheit an gewöhnt.

 Das alte Bauernhaus lag außerhalb des eigentlichen Dorfkerns, umgeben vom eigenen Acker und den Wiesen. Alles war gut erreichbar. Das war typisch für die norddeutsche Agrarstruktur, die Bauernhöfe befanden sich weit verstreut in der Feldmark. Je größer der Besitz war, desto weiter lagen die Höfe auseinander. Immer jedoch waren sie auf eigenem Grund und Boden errichtet, auf eigener Scholle, wie es hieß.

Nur knapp einen Kilometer weiter auf dem Landweg mit den vielen Schlaglöchern, der gleichzeitig die Verbindung zum Nachbardorf war, befand sich der nächste Hof.

„Bi Ida un Korl Ewert güng dat noch einfacher tau, as bi uns“,[10] charakterisierte die Mutter oft das Leben auf dem Nachbarhof.

Kinder hatten Ida und Karl Ewert nicht. Die Bedeutung der Kinderlosigkeit fasste die Großmutter kurz in die Worte: „Bi Ida´n geit dat uk nich wieder.“[11]

 Das war die lapidare Erkenntnis, dass der Hof keine familiäre Zukunft hatte, weil ein Erbe fehlte. Unsere Mutter erinnert sich, dass Ida sich oft Nachbarskinder einlud. Herzensgut und urgemütlich sei Ida gewesen.

„Öwer wi Görn müssten bit Eten immer bi Disch stohn. Und denn gew dat bloß immer ein Metz. Goweln här Ida gornich.“[12]

Berichtet hat unsere Mutter auch, dass ein Besucher einmal nach einer Gabel gefragt hätte, was Karl Ewert zu der Charakterisierung veranlasste: „Dei döcht nix, dei ät mit Metz und Gowel.“[13]

Nach dem Krieg war bei Ida und Karl eine Familie Staden einquartiert mit zwei Töchtern und einem Sohn, für kurze Zeit unsere einzigen Spielgefährten in erreichbarer Entfernung. Ins Dorf ging man selten und später nur zur Schule. Familie Staden verschwand schon bald in den Westen, so hörten wir Kinder es, übrigens zum ersten Mal – die sind abgehauen.

 Auf halber Strecke des Landweges mit den tiefen Schlaglöchern zum nächsten Nachbarn ging ein Stichweg zum Anwesen von Moritz Töllner ab. Moritz, nicht anders kannten wir Kinder ihn, war ein skurriler Typ. Die linke Hand auf dem Rücken verschränkt, spazierte Moritz stolz am Gehöft der Großmutter vorbei, kerzengerade gehend und den Spazierstock elegant und überheblich schwingend. Wenn man von Töllner sprach, wurde nur Moritz genannt, als gäbe es keine Frau. Dabei hatte Frau Töllner dreizehn Kinder geboren und groß gemacht, wie es früher hieß. Erzogen wurde der Nachwuchs mit eiserner Faust durch Moritz. Ein Despot sei er gewesen, nicht sehr geschätzt in der Nachbarschaft.

Von der nach Westen offenen Hofseite konnte man das Gehöft von Toni Meier sehen. Und wenn man bis an das Ende des Stallgebäudes ging, lag nordwestlich Walter Schlappmanns Ansiedlung. Die Aufzählung unserer Nachbarn erfolgte immer in derselben Reihenfolge, und benannt wurden sie nach den prägenden Personen dieser Residenzen: Walter Schlappmann, Toni Meier, Moritz, Ida und Karl.

Obwohl die Haushaltsführung bei Toni an Primitivität nicht zu überbieten war, charakterisierte man sie als herzensgute Frau. „Öwer bi Toni´n is dat immer so dreckig“, hieß es kurz, „dor künn man nix äten.“[14]

Ihr Mann wurde nie erwähnt. Die meisten mieden einen Besuch bei Toni, an deren Gehöft jedermann unmittelbar vorbei kam, wenn er im Sommer auf die eigene Weide zum Melken der Kühe musste. Morgens und abends ging es dann mit Melkeimern und Milchkannen zwei Kilometer zu Fuß auf die Weide. Die vollen Milchkannen wurden mittels einer Schulterwacht geschleppt. Unterwegs gab es als Belohnung schon einmal frische Milch aus der Kanne, die mithilfe eines Halmes von Roggen, Hafer oder Gerste, im Ersatzfall auch eines dicken Grashalmes als Trinkröhrchen aus der Milchkanne gesogen wurde.

Toni, so erzählte die Mutter oft, hatte zwei Töchter. Zwillinge, die zu früh zur Welt gekommen waren.

„Dat wiern Twillinge und kämen as Achtmonatsgörn up die Welt. Nee, wat wiern dat for lütte Dinger. Toni blew die meiste Tid int Bett lingen und här die beiden Dirns an ärn groten Bussen lingen.“[15]

Und es war abzusehen, dass die Mutter im nächsten Moment ausholte zu einem bildhaften aber gleichwohl drastischen Vergleich: „As ne Sööch mit äre Fagen.“[16]

Gewindelt wurde auf dem Küchentisch. Als Babypflegemittel gab es nur Speiseöl und Kartoffelmehl.

„Denn Rest von dat Tüffelmehl ropte Toni mit äre groten Poten tausommen und wedder rinn in den Pott. Koken und Windeln, dat güng all ut einen Pott.“[17]

Dann erzählte unsere Mutter, die einige Jahre älter war als diese Zwillingsschwestern, dass diese Mädchen prächtig gediehen: „Die wiern noher so drall, dat die Bengels sich all noh är umkeken, soon Bussen härn dei beiden“[18]

Mit den Händen zeichnete die Mutter die Konturen der Busengröße nach. Die Größe des Busens war offenbar ein wichtiges Kriterium für ein Überleben, ein evolutionäres Prinzip.

„Die sünd bloß dörchkommen, weil Toni ne grote Bost här.“ [19]

Dieser Umstand bedeutete Nahrung und Wärme für alle Neugeborenen und erst recht für Frühchen. Wenn ein Früh- oder auch Neugeborenes damals starb, hieß es einfach: „Dei wier dat Lingenloten nich wiert.“24, was soviel hieß wie: Das Baby hatte keine Überlebenschance. Die Sache wurde nicht weiter emotionalisiert. Ja, die so genannte gute alte Zeit konnte oft verdammt grausam sein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich das Landleben völlig. Die notwendige Aufnahme von Flüchtlingen erhöhte die Zahl der Bewohner in jedem Haus drastisch. Auf dem großelterlichen Hof lebten nach der Einquartierung, wie man die Aufnahme Fremder nannte, Oma und Opa Zellmer sowie Oma und Opa Wedewart, Frau Schwahnke, Tante Grüntzel, eine Schwester der Mutter, die Großmutter – und unsere Mutter mit zwei nimmer müden Buben. Dann kamen noch Siegfried Tarutis und seine Mutter dazu, deren Geschichte später besonders erwähnt wird. Wie die Anrede der Flüchtlinge eigentlich zustande kam, das wollte ich viel später von unserer Mutter wissen. Es hatte schließlich immer nur Oma, Opa, Tante oder Frau geheißen.

„Dat weit ik eigentlich uk gor nich genau, dat ergev sich einfach so. Ik glöv, Zellmers härn gor keine Kinner. Un bi Wedewardts wier dei Söhn follen. Un Tann Grüntzel wier Lihrerin, die här uk keine Kinner“,[20] sagte die Mutter. Und dann fügte sie noch hinzu: „Bi Tante Grüntzel wier die Anräd mit „Tann“ woll mier ein Teiken vör mier Respekt, weil sei Lihrerin wier, dor sähr man nich Oma.“23

Am meisten blieb uns Kindern in Erinnerung, dass Tante Grüntzel sehr unter einem aggressiven Hahn litt, der auf dem Hof lebte. Vor dem hatte sie Angst. Immer wenn sie in Sichtweite dieses Hahnes auftauchte, attackierte der sie. Einmal stand sie schreiend mitten auf dem Hof. Der Hahn saß flatternd auf ihren Schultern und zauste in den Haaren. Für uns war das ein tolles Erlebnis. Aber dann kam die Großmutter und machte dem bösen Spiel ein Ende. Der Hahn wiederum hatte vor ihr ziemlichen Respekt, wir übrigens auch. Es gab öfter mal ein paar hinter die Löffel, das ging ihr schnell von der Hand.

„Schämen ji juch gort nich, Tan´n Grüntzel ut tau lachen?“[21], rief sie und verschwand wieder an ihre Arbeit. Heute würden wir uns bestimmt schämen.

Frau Zellmer, die den Eindruck erweckte, vor dem Krieg wohl gern mit „Gnädige Frau“ angesprochen zu werden, lebte mit ihrem Mann in einem perfektionierten Matriarchat.

Richtig kennengelernt hat man diese Menschen allerdings nicht. Ihre Lebenswege, ihre Schicksale, die zweifellos auch furchtbare Dinge verbargen, erfuhren wir nur in Bruchstücken oder gar nicht. Ob es wirklich von Herzen kam, dass die Kinder Oma und Opa sagen durften, wurde nicht ergründet. Es war eine Notgemeinschaft. Und sie funktionierte sehr gut. Mutter, Großmutter und die Tante leisteten wirklich Großartiges, weil sie Menschen mit einem ausgeprägten Harmoniebedürfnis waren, pragmatisch alle Dinge anfassten und vor allem nie verzagten, und das alles auf engstem Raum. Frau Schwahnke schlief im Bett des Großvaters. Er war von den Russen umgebracht worden. Sie erfasste wohl nicht, welchem Umstand sie ihren Schlafplatz verdankte. Auch sie trauerte um ihren Mann, der im Krieg geblieben war. Im Krieg geblieben lautete die eher verharmlosende Wortschöpfung in dieser Zeit – ein Selbstschutz oder Selbstbetrug. Wie hätten sonst Frauen und Mütter verkraften können, dass ihre Männer und Söhne verheizt worden waren; an allen Fronten übrigens und immer auf beiden Seiten.

Die Hofgemeinschaft erweiterte sich bald um ein neues Mitglied. In der Landwirtschaft wurde männliche Hilfe gebraucht. Der Bruder unserer Mutter war noch in französischer Kriegsgefangenschaft und den Vater ließen die Russen nicht frei. Die Großmutter – ihr gehörte der Hof – hatte bei der Gemeinde den Antrag auf eine männliche Hilfskraft gestellt. Dem wurde stattgeben. Eines Tages hieß es: „Jetzt bekommen wir einen jungen kräftigen Mann zur Hilfe.“

Er musste in der unweit gelegenen Kreisstadt abgeholt werden. Die zwanzig Kilometer bis Grimmen sind jedoch nur für heutiges Verständnis nahe gelegen, für die Fahrt mit dem eisenbereiften Pferdewagen war es damals eine Tagesreise. So machten sich also Mutter und Großmutter mit jenem Kastenwagen auf den Weg. Es kann sich fast niemand mehr vorstellen, wie die Fahrt auf Kopfsteinpflaster verlief. In Grimmen nahmen sie den jungen kräftigen Mann auf. Es war der achtzehnjährige Siegfried Tarutis, der vor Erschöpfung infolge langen Hungerns nicht einmal allein sitzen konnte, geschweige denn stehen. Siegfried war fast zwei Meter groß und völlig abgemagert. Er käme aus dem Litauischen und habe auf der Flucht vor den Russen seine Eltern verloren. Unsere Mutter erzählte später immer wieder, wie es gelang, in der kleinen Kreisstadt etwas Stroh zu organisieren und wie sie Siegfried auf den Wagen legten, um ihn nach Hause zu fahren. Nach Hause, das war für Siegfried schon lange ein Fremdwort. Das Erste, was wir an diesem Siegfried, der bald unser bester Freund und Beschützer werden sollte, bemerkten, waren die überaus dicken Brillengläser. Und überdies hielt er sich alles, was er lesen wollte, noch nahe vor die Augen. Siegfried erholte sich rasch, er kam zu Kräften und entfaltete bald unschätzbare Talente. Eine alte Nähmaschine baute er um und betrieb damit einen Dynamo, und so war wenigstens während des Essens eine spärliche Beleuchtung möglich. Bis zu zwanzig Esser scharten sich täglich um den Küchentisch. Auch wenn es auf dem Lande wesentlich besser war als in den ausgebombten Städten – üppig waren die Mahlzeiten anfangs auch nicht und vielseitig schon gar nicht. Ansonsten gab es keinen elektrischen Strom, an den sich alle im Dorf in wenigen Jahrzehnten gewöhnt hatten. Der Krieg drehte einfach die Zeit wieder Jahrzehnte zurück.

„Weits du noch, vör den Irsten Weltkrieg wier dat uk so, as wi noch gor kein Strom haan“, sagte die Großmutter oft. „Und dat güng uk.“[22]

Anfangs war das Treten der umgebauten Nähmaschine ein zwar nicht ernsthaftes, jedoch kleines Streitobjekt. Jeder wollte es versuchen. Das legte sich bald, und so wurde eine feste Vereinbarung getroffen, wer jeweils zu treten hatte, um den Dynamo zwecks Stromerzeugung anzutreiben.

Siegfried baute auch das erste Nachkriegsfahrrad auf diesem Bauernhof. Nun war es nicht mehr schwer, Siegfried zu finden. Das Plumpsklo war etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt. Bei der Vielzahl der Menschen auf dem Hof kam es nicht selten vor, dass die verschlossene Tür auf Besetzt verwies. Siegfrieds Fahrrad aber war ein eindeutiges Fernzeichen dafür und ersparte manchem den vergeblichen Weg.

Dann baute Siegfried eine Mühle, um aus Mohn- oder Leinsamen Öl zu gewinnen. In dieser Nachkriegszeit eine Wundermaschine. Allerdings war das Unternehmen nicht ungefährlich, weil es bei Strafe verboten war, selber Öl zu pressen, und darüber waren alle unterrichtet: „Wenn sei di schnappen, geiht dat af no Sibirien.“[23]

Niemand wusste recht, wo Sibirien liegt. Aber die Angst war all gegenwärtig. Das reichte auch. Verschwunden war schon so mancher, zurück war noch niemand gekommen. So durften insbesondere wir Kinder um keinen Preis wissen, was Siegfried da trieb. Der aber hatte uns Knaben längst in sein Geheimnis eingeweiht, und so waren wir drei eine verschworene Gemeinschaft, die absolut dicht hielt. Die frisch gepressten Rückstände des Mohns, der sogenannte Mohnkuchen, war eine Köstlichkeit. Siegfried hatte auf dem Stallboden einen Tunnel durch das Heu gegraben, in dem es stockfinster war. Nach fünf bis sechs Metern gelangte man an einen Hohlraum, und hier stand die Ölmühle. Stunden brachten wir dort zu und fühlten uns in dieser geheimen Rolle schon fast erwachsen. Etwas Tageslicht fiel in diese Höhle durch einen kleinen Mauerschlitz, der als Belüftung des Bodens an mehreren Stellen der Giebelwand belassen war. Auch waren das die Einfluglöcher für Eulenpärchen, die regelmäßig auf dem Heuboden nisteten.

Nicht lange dauerte es, und Siegfried hatte ein erstes Radio gebastelt. Er war einfach ein Naturtalent. Die übrigen Bewohner waren an den Radiomeldungen nicht besonders interessiert. Wir erinnerten uns später, dass häufiger Suchmeldungen über im und seit dem Kriege vermisste Menschen gesendet wurden. Dass Siegfried schmerzhaft darauf wartete, vielleicht ein Lebenszeichen von seiner Mutter zu bekommen, begriffen wir damals nicht. Siegfried sprach auch nicht darüber.

Irgendwann kam ein Besucher auf den Hof aus einem viele Kilometer entfernten Dorf. Als Siegfried sich mit „Tarutis“ vorstellte, wurde der Mann hellhörig und berichtete, dass in einem Nachbardorf eine Flüchtlingsfrau mit Namen Tarutis leben würde. Bei der Seltenheit dieses Namens war das mehr als eine Hoffnung. Wir sahen Siegfried auf seinem Fahrrad davon flitzen – und tatsächlich – er fand seine Mutter! Beide lebten dann noch einige Jahre mit uns auf dem Hof der Großmutter, und betreten sahen wir manche Freudenträne fließen. Frau Tarutis, eine überaus gütige, ganz bescheidene und sehr gläubige Frau, dankte Gott. Gott hatte auch ihren Mann umkommen lassen. Siegried ging bald nach Westberlin. Wir Kinder verloren nicht nur einen Freund. Es war das zweite Mal, dass wir etwas über neuerliches Flüchten oder nun Abhauen hörten.

Siegfried absolvierte eine Ausbildung bei der Firma Siemens und brachte es bis zum leitenden Mitarbeiter. Alles ohne einen Schulabschluss. Sein Augenleiden verschlimmerte sich im Laufe der Jahre. Schließlich erblindete er leider vollständig. Seine Ehe blieb kinderlos. So ist ein Familienzweig ausgestorben, immer noch eine Folge des furchtbarsten Krieges aller Kriege. Warum also nicht auch Siegfried Tarutis ein ehrendes Denkmal setzen?

Über hungernde Menschen in den Städten erfuhr ich nebenbei, wenn die Erwachsenen über die „Hamsterer“ aus der Stadt erzählten. In Scharen kamen die Menschen, um Essbares für ihre hungernden Familien zu besorgen. Und ich lauschte auf, wenn die Großen während ihrer Unterhaltung sagten: „Dei bringen sich noch üm är letztet Hemd.“[24]

Manche nutzten diese armen Menschen aus. Auch darüber hörte ich von unserer Mutter den Satz: „Dei schämen sich gor nich, die armen Lüd so uttaunemmen.“[25]

Wir Jungen registrierten, dass niemand abgewiesen wurde, jeder bekam etwas ab. Unsere Familie konnte von alters her teilen. Nur wenn die Zigeuner mit ihrem ganzen Familien-Clan kamen, wurde die Großmutter misstrauisch. Sie würden alles stehlen und galten als geborene Diebe. Diese gedankenlose Verallgemeinerung kam den Leuten flott über die Lippen.

 Eines Tages kam ein Berliner, der nach Arbeit fragte. Und so begann eine lebenslange Freundschaft zwischen zwei Familien in diesem Nachkriegsdeutschland. Franz Gadulla blieb sofort auf dem Hof, fuhr am Wochenende nach Berlin. Seine Familie musste mit Lebensmitteln versorgt werden. Bald schon kam auch seine Frau Lenchen, wie er sie immer liebevoll nannte, und brachte ihren Sohn Sigurd mit. Franz ist schon seit Langem tot, Lehnchen starb mit über neunzig Jahren, etliche davon überwinterte sie auf Mallorca. Das war möglich, weil die Familie im Westteil Berlins lebte. Als die Grenzen 1961 hermetisch abgeriegelt wurden, blieb der freundschaftliche Kontakt über den Postweg erhalten. Alle Beteiligten kamen ins Rentenalter. Ein Jahr zuvor traf Udo Jürgens Schlager, mit 66 Jahren, da fängt das Leben an, den Kern der Sache. Dass die Reisemöglichkeit für DDR-Bürger in den sogenannten Westen an das Erreichen des Rentenalters gebunden war, ist wohl eine Kuriosität innerhalb der europäischen Völkergemeinschaft, wenn nicht gar der Menschheitsgeschichte: Freude auf das Rentenalter, um endlich wieder in ganz Deutschland reisen zu können.

Zu den folgenden Weihnachtsfesten und auch in den Sommerferien war Franz mit seiner Familie also auf dem großelterlichen Hof und verstärkte die Schar der dort Lebenden. Er war von Beruf Möbeltischler und ein wahrer Zauberer, was auch wir Jungen schnell schätzen lernten. Heimlich baute er zwei Roller, die uns Kindern dann ein unvergessliches Weihnachtsfest bereiteten. Alle Türen standen am Heiligen Abend weit offen. In wilder Jagd ging es auf zwei Rädern durch die untere Etage. Mit gleich bleibender Freude und Begeisterung erzählte unsere Mutter später davon, auch Henning und mir ist die Erinnerung geblieben – ein unglaubliches Glückserlebnis

 An diesem Weihnachtsfest hörten wir erstmals auch etwas über die Geschichte des Bauernhofes. Es war ein Potpourri aus Geschichte und Geschichten. Zur Hofseite befanden sich rechts und links die Wirtschaftsgebäude mit Ställen und Scheune. Zwei Linden standen im Hof. Regelmäßig entfachte sich eine Diskussion um das Alter dieser Bäume. Alle waren sich einig: mindestens hundert Jahre alt! Den größten Nutzen zogen die Hofbewohner aus diesen Linden in der Blütezeit der Bäume. Jeder pflückte sich genügend Blüten und hatte damit Vorrat für den gesunden Tee im Winter. Nahe der Linde, die dem Wohnhaus am nächsten stand, befand sich ein Brunnen mit einer Handpumpe. Immer wieder hieß es, die Baumwurzeln wären in den Brunnen gewachsen. Dann wurde der massive Betondeckel freigeschaufelt und gehoben. Im Brunnen wurden die Wurzeln gekappt und wieder alles verschlossen und die Pumpe neu montiert. Von Zeit zu Zeit versagte ihre Dichtung, dann musste sie angegossen werden. Dafür stand stets ein Eimer Wasser bereit. Wer Wasser holen wollte, musste zunächst das Wasser aus dem Eimer oben in die Pumpe gießen und dann schnell zu pumpen beginnen, um den Sog zu erzeugen. Wenn jemand vergaß, den Eimer wieder mit Wasser zu füllen, gab es beim nächsten Versagen der Pumpe verständlichen Ärger.

„Dei Pump is wedder awlopen. Wecker hätt denn wedder kein Woder henstellt?“[26]

So ging das einige Zeit, bis sich endlich einer erbarmte und die Pumpe reparierte. Genauer gesagt: Es war kein Erbarmen nach vorheriger Bequemlichkeit, sondern vielmehr die Frage, wann und ob eine neue Dichtungsmanschette organisiert werden konnte. Alles war Mangelware. Es gab buchstäblich nichts. Und das in einem Land, das 1914 bereits zwanzig Nobelpreisträger hatte; die USA hatten vier, England und Frankreich drei. Ist der Erste Weltkrieg, der den Zweiten Weltkrieg begründete, auch Schuld an der heute mangelnder Effektivität der deutschen akademischen Wissenschaften? Ganz zweifellos ist das so! All das war aber in der Nachkriegszeit kein Thema auf dem Bauernhof. Auch wusste niemand, dass die Kaiserzeit, zumindest die Zeit des letzten Kaisers, Deutschland ins Verderben geritten hatte. Kaiser Wilhelm II. war ein Despot. Historische Zusammenhänge wurden auf dem Hof nicht diskutiert. Umfassendes Wissen hätte die Not wohl noch unerträglicher gemacht. So sprach man einfach von Friedenszeiten und Friedensware, als es noch alles gab, und fügte sich – gottesfürchtig eben.

Der Hof öffnete sich nach Westen. Für den Sonnenuntergang über der Feldmark nahm sich mancher oft zum harmonischen Tagesausklang etwas Zeit. Die Welt schien versöhnlicher zu werden bei einem schönen Abendrot. Alljährlich begannen die Feldfrüchte zu reifen, und bald wurden die ersten Stoppelfelder untrügliche Vorboten für den nahenden Herbst. Wenn sich die ersten Zugvögel früh zu sammeln begannen, sagte die Großmutter: „Dat givt nen tidigen und kollen Winter, die Schwögen sammeln sich all.“[27]

Und wie um die Sache mit dem frühen und kalten Winter noch zu untermauern, ging die Großmutter mit dem Spaten in den herbstlichen Garten, tätigte ein paar Spatenstiche, um zu sehen, ob noch Regenwürmer zu finden waren. Waren die auch schon in tiefere Schichten ausgewichen, dann war ein harter Winter ganz sicher.

Die Winter waren damals auch sehr viel kälter. Und tatsächlich war das frühe Sammeln der Schwalben ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Wintereinbruch früh kam und der Winter ein harter wurde. Zumindest deutete man es so und handelte danach. Kartoffel- und Runkelmieten wurden früher mit einer zweiten Schicht Stroh und Erde gesichert. Wenn das geschafft war, blieb etwas Zeit zur Erinnerung. Dann kam regelmäßig von der Großmutter der Satz: „Ik möt immer an die armen Soldoten dinken, dei bi de Küll bi Stalingrad lägen hemmen.“[28]

Jahr für Jahr sahen wir Kinder, wie sich die Schwalben und Stare in großen Schwärmen sammelten und dann ebenso schnell verschwanden, wie sie im Frühling wieder da waren.

„Dei fleigen no Afrika“,[29] sagte dann die Mutter, die es von ihrer Mutter gehört hatte. Aber wo Afrika wirklich lag, das wussten sie nicht. Im Süden – hieß es dann.

Im Herbst 1948 gab es ein besonderes Schauspiel. Auf den Dächern von Scheune und Stall, sowie Wohnhaus und Strohmiete versammelten sich Hunderte von Störchen. Das weit zu hörende Schnäbelklappern grub sich tief in die Erinnerung aller Hofbewohner ein.

Weißt du noch, so beginnt noch heute die einmalige Geschichte mit den vielen Hundert Störchen, wenn unsere Mutter davon erzählt. Einen Fotoapparat hätte man haben müssen. Jetzt gibt es Fotoapparate genug, aber viel weniger Störche.

Auch das Wolkenspiel war einer häufigen Betrachtung wert. Henning und ich lernten früh, im Spiel dieser norddeutschen Wolken Figuren, Tiere oder Fabelwesen zu erkennen, besonders im Herbst, wenn wir in all den Jahren abends auf die Strohmiete kletterten und uns darin einkuschelten, um nicht zu frieren. Wir hatten uns im wärmenden Stroh immer so tief eingegraben, dass gerade noch ein Blick auf die Wolken frei war. Dann ließen wir der kindlichen Phantasie freien Lauf, manch exotisches Wesen erschien uns: ein Elefant, eine Schlange, sogar ein Krokodil. Pferde, Kühe oder gar Hühner, Enten und Gänse entdeckten wir nie. Die gab es real auf dem Bauernhof und nicht als Wolkengebilde am Himmel. Unsere Phantasie bewegte sich in weite Ferne und war wohl der frühe Ausdruck von der Sehnsucht, die Welt kennenzulernen. Wie Elefanten, Schlangen oder Krokodile wirklich aussahen, wussten wir ohnehin nicht. In unserer Vorstellung jedenfalls waren jene exotischen Tiere riesig, eben so groß wie die Wolke, aus der sie entstanden und ebenso schnell wieder verschwanden. Und wenn einer von uns eine Figur entdeckte, streckte er einen Arm aus und zeigte in die Richtung des Wolkenbildes, das er gerade ausgemacht hatte. Am ausgestreckten Arm wurde die Kühle des Abends spürbar. Schnell wurde er wieder in das wärmende Stroh zurückgezogen, und wir gruben uns noch tiefer ein. Unglaublich, was die Wolken alles hervorbrachten. In diese Phantasiewelt des Herbsthimmels tauchten wir so oft als möglich ein. Nur Regen konnte uns daran hindern.

Schon im späten Herbst endete dieses jahreszeitliche Vergnügen in unserem Leben und wir freuten uns auf die neue Strohmiete im nächsten Jahr.

Oft malte unsere Mutter Bilder von Tieren, Bergen und Bäumen. Dafür hatte sie Talent. Aus diesen Bildern formten sich unsere ersten Vorstellungen von Elefanten, Schlangen und Krokodilen, und sie waren ganz realistisch, wie wir später feststellen konnten, wenn wir unsere Kindheit reflektierten.

Wenn Henning und ich in unserem Strohnest den Ruf unserer Mutter hörten, dann wurden wir augenblicklich aus den Träumen gerissen und in die Gegenwart versetzt. Erstes Anzeichen dafür war, dass wir sogleich ein leichtes Frösteln verspürten oder auch gar zu frieren begannen. Die abendliche Kälte war durch unsere Phantasien, wozu uns die Wolkenbilder inspiriert hatten, verdrängt worden. Wir rannten über den Hof, der zu beiden Seiten von Stall und Scheune begrenzt war, auf das Wohnhaus zu, das quer zu den übrigen Gebäuden stand.

Das warme Wasser in der großen Schüssel tat dann wohl. Das Badewasser hatte unsere Mutter auf dem Kohleherd in einem großen Topf bereitet. Der Herd wurde mit Holz befeuert. Das Feuer durfte nie ausgehen. Ein Bad gab es schon gar nicht in diesem Bauerhaus.

„Horre Gott, ji sünd jo ganz verklomt, hoffentlich häm ji juch nich verküllt“,[30] sagte die Mutter besorgt und rubbelte gleich kräftiger und ein paar Mal mehr über die kleinen Körper, damit sie wieder warm wurden.

Danach gab es etwas zu essen – wie jeden Abend: Bratkartoffeln und anschließend Milchsuppe. Mit dem wiederkehrenden Herbst war bekanntermaßen die Zeit der Dickmilch mit geriebenen Brotresten und etwas Zucker für ein Jahr vorbei. Jetzt kam wieder die Zeit der Milchsuppe. Ob wir dieses gleichbleibenden Essens jemals überdrüssig waren, daran erinnerten wir uns später nicht. Wir behaupten bis heute, nie mäkelig gewesen zu sein. Diese Äußerung ist glaubhaft, waren Henning und ich doch früh mit der Tatsache vertraut, dass unser Vater in Russland bestimmt hungern müsse. Als er dann wieder zu Hause war, hieß es oft, hätte er doch wenigsten einmal in der Woche oder nur einmal im Monat Bratkartoffeln und Milchsuppe gehabt! Fünf Jahre Wasser und Brot, wenn es wenigstens noch ordentliches Brot gewesen wäre, und nur gelegentlich eine lauwarme Kascha[31] mit einigen Fettaugen zweifelhafter Herkunft. Alles, was die Kelle schöpfte, nannten sie Kascha. Etwas Anderes gab es auch nicht. Über die Herkunft der wenigen Fettaugen auf der Suppe hatte unser Vater sich damals keine Gedanken gemacht, Hauptsache, er fand überhaupt einige darauf. Ein Nachdenken darüber kam erst später, als er schon zu Hause war und die Dystrophie[32] sich langsam besserte. Das Wasser aus dem Gewebe verschwand, zuletzt aus den Beinen, und erste Konturen von Muskeln zeigten sich wieder. Noch aber war unser Vater nicht da, noch wusste unsere Mutter nicht, ob er überhaupt noch lebte, wir hätten ihn auch gar nicht erkannt.

Wenn Henning und ich schließlich im Bett lagen und die Mutter glaubte, endlich Ruhe zu haben, dann ertönte im Duo unser Ruf: „Heiße Milch mit Honig!“

Wir hielten solange durch, bis unsere Mutter kam, und einer flunkerte dann: „Ich glaube, ich bekomme Halsschmerzen.“

Vergessen war die heldenhafte Aussage, nicht gefroren zu haben. Aber das spielte keine Rolle mehr. Es war der sichere Weg, zu der begehrten Milch mit Honig zu kommen. Diese schmackhafte Erkältungsmedizin mochten wir besonders und natürlich schmeckte sie ohne Erkältung am besten.

Wenn wir Kinder im Bett lagen und das Einschlafen noch ein wenig hinauszögern wollten, dann riefen wir nach Schaum mit Zucker. Dieser Schaum war eine Spezialität, ein Nebenprodukt des Zentrifugierens der frischen Kuhmilch war. Wenn die entrahmte Milch aus der Zentrifuge in ein tiefer stehendes Gefäß ablief, bildete sich ein fester, dicker Milchschaum, der an geschlagenes Eiweiß erinnerte, und mit etwas Zucker darauf phantastisch schmeckte. Außerdem war er durch den Eiweißgehalt ziemlich nahrhaft. Uns war klar, dass Milch mit Honig oder Schaum mit Zucker zulasten der Zeit für das Erzählen eines Märchens ging, das unsere Mutter aus dem Gedächtnis darbrachte, und dies immer in Fortsetzungen. Auch erfand sie Geschichten, nie aber solche, die uns Kindern Angst machten. Geschichten vom Lernen und von fleißiger Arbeit waren das. Von Glück und Zufriedenheit erzählte sie, nie von Traurigkeit und schon gar nicht vom Krieg. Es gab auch kein Spielzeug mit Säbeln und Pistolen. Unsere Mutter nähte ihren Jungs Puppen aus Stoffresten, wir spielten damit und pflegten sie, wenn sie denn auch einmal erkältet waren und Milch mit Honig brauchten. So lernten wir, was Fürsorge bedeutet, ohne das Wort zu kennen. Kurz vor Weihnachten waren diese Puppen plötzlich unauffindbar. Dann hatte unsere Mutter sie in ihre Obhut genommen, und abends, wenn wir schliefen, machte sie sich an deren Restaurierung. Der Weihnachtsmann brachte sie wieder und die Freude war groß. Durch die Roller von Franz wurden die Puppen als Spielzeug am Tage abgelöst. Am Abend aber mussten sie noch lange mit ins Bett.

Nur gelegentlich wurde ein Abendgebet gesprochen: Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm.

Danach wurde geschlafen, ohne über das Gebet nachzudenken oder die Mutter den Satz vertieft hätte. Auch sie wollte nicht in den Himmel, jedenfalls nicht jetzt. Und am Abend kamen alle Gedanken wieder. Die täglichen Pflichten verdrängten bohrende Gedanken. Paradoxerweise konnten Gefangenschaft und ausbleibende Nachrichten auch ein Trost sein, dadurch wurde die Hoffnung genährt, dass einer noch am Leben sei. Und für die beiden gemeinsamen Jungs wollte die Mutter inzwischen da sein; sie konnte nicht anders, sie musste für uns da sein. So ist wohl zu erklären, dass wir auch in unserem Strohlager nie beteten oder zumindest den Himmel ausklammerten, davon war ohnehin nichts zu sehen.

Am Ende meines Berufslebens lernte ich einen katholischen Priester kennen. In der DDR war es ihm nicht erlaubt, seinen Wunschberuf zu ergreifen. Nach der Wende studierte er mit fast vierzig Jahren noch katholische Theologie und hatte nun ein Priesteramt inne. Der Pastor erzählte mir also von seinem liebsten Kindergebet:

„Lieber Gott, mach, dass die Vitamine auch im Pudding sind und nicht immer nur im Spinat.“

Darüber kann man viel nachdenken. In meiner Kindheit hatte das Gebet allerdings keine Bedeutung. Einerseits gab es keinen wirklichen Pudding, bestenfalls die abendliche Milchsuppe. Auch mit Spinat, Melde oder Brennnessel hatte ich keine Probleme im Gegensatz zu meinem zwei Jahre jüngeren Bruder, von dem später in der Familie oft scherzhaft erzählt wurde, er hätte als Knirps gelegentlich gesagt: „Von das bin ich satt, von das noch nicht.“

Henning meinte damit den als Belohnung für nicht bemäkeltes Essen angekündigten Eierkuchen.

Lieber Gott, mach, dass die Vitamine auch im Pudding sind und nicht immer nur im Spinat. Was für eine Emanzipation der Kirche könnte sich dahinter verbergen! In unseren Kinderjahren aber wäre es auch zu abstrakt und zu schwer gewesen, darüber zu befinden. Da war der Mond am abendlichen Himmel vom wärmenden Strohlager aus faszinierender. Vom Mann im Mond hatten wir gehört. Ob es den gab? Der Erdtrabant war so groß und so hell neben den vielen kleinen Sternen. Dass das alles nur relativ und lediglich eine Frage von Entfernungen war, erzählte unsere Mutter ganz nebenbei. Auch die Milchstraße erwähnte sie, woraus Henning und ich nur einen Zusammenhang zum Alltag ableiteten und prompt Appetit auf Milch bekamen. Milch war so ziemlich das einzige Getränk für die Kinder unserer ländlichen Idylle, nur heimlich tranken wir Wasser aus der Pumpe neben der großen Linde auf dem Hof. Die selbstgemachten Obstsäfte gab es zu besonderen Anlässen oder am Sonntag. Durst galt es ansonsten zu beherrschen.

„Ji möten nich dauernd den Schnobel nat hemmen.“[33]

Sich zusammennehmen und beherrschen, das mussten wir Kinder lernen. Als Mediziner weiß ich, dass es richtiger ist, reichlich zu trinken. Unsinnig aber erscheint, dass Studenten heute nicht einmal eine Vorlesungsstunde von 45 Minuten durchhalten, ohne zu trinken.

Esst lieber einen Apfel, hieß es früher, wenn man Durst hatte. Die Begeisterung für einen Apfel hielt sich im Winter in Grenzen. Die großen und roten Äpfel waren tabu. Diese schönen Äpfel mussten im Interesse der weiteren Haltbarkeit geschont werden.

„Die mit den Stellen zuerst“, hieß es lapidar.

So ist gut nachvollziehbar, dass wir eine gewisse Abneigung gegen ausgeschnittene Äpfel hatten. Zudem wurde auch noch sparsam ausgeschnitten und nicht selten war ein fauliger Beigeschmack geblieben. Dann träumten wir von frischen Äpfeln, die man vom Baum pflücken und gleich verspeisen konnte. Und in jeder Hosentasche würde ein Reserveapfel stecken, so wie es im Winter mit den selbst gebackenen Plätzchen war.

All das mochte uns im Strohlager durch den Kopf gehen, wenn die Wolken partout kein Fabelwesen zeigen wollten oder der Mond einen Schleier hatte. Zeigte der Mond einen Hof oder Schleier, tuschelten die Erwachsenen von einem drohenden Krieg. Aberglaube war noch verwurzelt, er wurde aber nur selten geäußert. So war die Welt pragmatisch und in Ordnung.

In dieser prägenden Nachkriegszeit wuchsen also Henning und ich behütet und umsorgt auf, wozu auch die rechtzeitige Gewöhnung an Pflichten gehörte – heute würde man das als Kinderarbeit bezeichnen. Im Herbst wurden Zuckerrüben gekocht und gepresst. In einem großen Waschkessel kochte der Rübensaft solange, bis ein leckerer Sirup daraus wurde. In Milchkannen abgefüllt, war der Wintervorrat gesichert.

Auch die wieder möglichen Hausschlachtungen sind uns Buben in Erinnerung. Alles erlebten wir mit, natürlicher konnte man nicht aufwachsen. Dazu gehörte auch, dass wir Kinder zuschauen durften, wenn ein Schwein geschlachtet wurde. Bis zur fertigen Wurst sahen wir jeden Schritt. Auch die Wurstmaschine musste schon mal gedreht werden. Übrigens: Hausschlachtungen ohne Genehmigung waren bei hoher Strafe verboten. Erst nach Durchlaufen eines langen bürokratischen Verfahrens, dessen Ausgang ungewiss war, durfte ein Schwein für den eigenen Bedarf geschlachtet werden. Wenn das staatliche Ablieferungssoll nicht erfüllt war, ging das schon gar nicht. Dann war das Schwarzschlachten mit Aufregung und Ängsten verbunden. Hin und wieder hörten wir: Im Nachbardorf haben sie wieder einen geschnappt. Oder: Da ist wieder einer getürmt. Die staatliche Bevormundung zeigte sich zunehmend und wurde immer bedrückender. Die Wortschöpfung Abhauen wurde eine Alltagsvokabel.

Die Mast von Enten und Gänsen war etwas einfacher, in der Vorweihnachtszeit musste man allerdings verdammt aufpassen. Geflügel war ein beliebtes Diebesgut. Dabei war die Aufzucht des Federviehs mit viel Arbeit verbunden. Die Zuchtpaare der Enten und Gänse brüteten ihre Küken aus. Früh bekamen die Jungen ein Zubrot aus gehackter Brennnessel untermischt mit hart gekochten Eiern. Dabei hatten die Tiere im Freigehege ein glückliches Landleben. Am Abend wurden sie pünktlich aufgestallt. So wurden  sie dem nächtlichen Zugriff des Fuchses entzogen. Besonders für die Gänseschar wurde das Gras rasch knapp. Dann begann für uns Kinder die Zeit des Gänsehütens, eine ungeliebte Beschäftigung. Im Oktober wurden dann die Jungtiere für die endgültige Mast in kleine Boxen gesperrt und bekamen nun Futter im Überfluss in Form von frischen Möhren und Schrot. Zusätzlich wurden die Viecher „genudelt“, was heute verboten ist. „Nudeln“ hieß, dass die Tiere neben dem Futter im Übermaß zusätzlich in aufsteigender Dosis täglich mehrmals mit „Getreidenudeln“ vollgestopft wurden. Diese fingerförmigen Nudeln bestanden aus Roggenschrot und wurden auf Vorrat zweimal in der Woche in Handarbeit hergestellt. Ein großer mit Roggenschrot gefüllter Holztrog stand dann am Abend auf dem Küchentisch. In eine tiefe Mulde im Schrot füllte die Großmutter dann kochendes Wasser. Langsam versickerte es dann im Schrot. Nach dem ersten Erkalten der Masse wurden aus dem noch warmen Teig kleine Bällchen entnommen und zu fingerdicken und fingerlangen sogenannten „Nudeln“ geformt, die auf dem Tisch gerollt und so in Form gebracht wurden. Zum Schluss erfolgte ein kurzes Wenden in trockenem Schrot. Dann wurden sie zu Türmchen aufgestapelt. An der Höhe der Türmchen entschied sich der Wettbewerb und Sieger war natürlich, wer die meisten Nudeln produziert hatte. Mehrere hundert Stück wurden so hergestellt und von Mal zu Mal wurden es mehr. Unmittelbar vor der gewaltsamen Fütterung legte man die Nudeln in lauwarmes Wasser, um sie gleitfähig zu machen. Man fasste nun den Kopf der Tiere – Enten und Gänse wurden gleichermaßen versorgt –öffnete den Schnabel und schob mit dem Zeigefinger zwei bis drei Nudeln nacheinander tief in den Schlund. So ging das immer reihum. Bei aufsteigender Dosierung erhielten die Gänse bis zu zwanzig und mehr Nudeln pro Mahlzeit. Für die Enten waren es weniger und die Nudeln etwas kleiner. Mitte Dezember wurden die Tiere zum Teich getrieben zum Baden. Obwohl manchen Tieren der Marsch schwerfiel, genossen sie doch das Bad in vollen Zügen und kamen mit einem gereinigten Federkleid zurück. Tags darauf begann die Schlachtung. Verwendet wurde praktisch alles. Aus dem aufgefangenen Blut kochte man Schwarzsauer, eine Suppe aus Blut mit Mehlklößen und Rosinen oder Äpfeln süß-sauer. Die Daunen kamen nach einer Reinigung als Füllung von Kissen oder Betten zur Verwendung. Aus den Brüsten und Keulen machte man Spickbrust und Spickkeulen. Nach einem Pökelvorgang gelang die Konservierung durch das Räuchern. Das so Konservierte – zusammenfassend Spickgans genannt – war eine Delikatesse. Die Flügel wurden sauer eingekocht – Ente oder Gans in Aspik. Das verbleibende Knochengerüst kochte man in einem Gewürzsud. Das sogenannte Ente- oder Gänseklein schmeckte hervorragend. Selbst die Füße wurden gebrüht und abgezogen. Dann umwickelte man sie mit dem gründlich gereinigten Geflügeldarm und kochte sie ebenfalls sauer ein – zu Bratkartoffeln schmeckten diese „Wickelpoten“ vorzüglich. Und dann das viele Enten- und Gänseschmalz. Hier muss ich wohl die Schwärmerei abbrechen. Aber die Schilderung gehört zu dem Nachkriegsleben.

Unser Lebensradius erweiterte und vergrößerte sich in der ländlichen Nachkriegswelt mit normaler Geschwindigkeit, es waren überschaubare Schritte im Vergleich zur heutigen Zeit. Unser damaliger Alltag verlief allerdings eher eintönig, doch vermissten wir nichts. Was sollten aufgeweckte Kinder auf dem Lande auch vermissen? Abwechslung zum Beispiel bot Tante Lenes Hochzeit. Sie war Mutters jüngste Schwester. Tante Lene hatte seit ihrer Kindheit die Zuckerkrankheit, und alle wussten, dass sie bestimmte Dinge nicht essen durfte, besonders vorsichtig musste sie mit Zucker sein. Zusammenhänge verstand aber keiner. Insulin war schon entdeckt, so hatte sie überlebt, und nun heiratete sie. Hochzeiten auf dem Dorf waren auch in diesen Jahren schon wieder ein richtiges Fest und die Verwandten kamen alle. Schließlich gab es schon wieder genug zu essen auf dem Lande, echte Hausmannskost eben. An Natürlichkeit war eine solche Hochzeit nicht zu überbieten. Neid gab es nicht, alle freuten sich. Es ging wieder ein Stück vorwärts. Landhochzeiten waren für uns Kinder ein besonderes Ereignis. Alle brachten für uns etwas mit. Das mussten nicht Tüten voller Bonbons sein, nein, auch ein einzelnes Bonbon wurde als etwas Tolles empfunden. Selbstgemachte Sahnebonbons waren am besten.

An den Hochzeitsgeschenken konnte man ersehen, wie es wieder aufwärtsging im Lande. Anfangs waren es einzelne Tassen. Die Gedecke passten meistens nicht zusammen. Sammeltasse war das große Zauberwort. Irgendwann hatte man so auch zwölf Gedecke zusammen. Familienfeiern waren immer reich an Gästen. Geschirr wurde anfangs aus diesem Grunde geborgt. Bald wurden auch komplette Services verschenkt. Wir Kinder beobachteten die Gäste, wenn sie zu Fuß oder mit der Kutsche den Landweg heraufkamen. Als Onkel Erich, jüngster Bruder unserer Mutter, er war unser Lieblingsonkel, heiratete, sahen die Geschenke bereits anders aus. Da gab es schon Lampen. Kronleuchter, wie es dann achtungsvoll hieß und man zählte sie nach Armen. Schon aus der Ferne konnten wir sehen, ob es dieses Mal einen dreiarmigen oder sogar fünfarmigen Kronleuchter gab. Wir hatten unsere Freude daran.

„Die häm sogor ein fifarmigen Kronlüchter krägen“,[34] konstatierte die Großmutter stolz.

Solche Lampen wurden auch aufgehängt, ob sie nun zum übrigen Mobiliar passten oder nicht. Und man überlegte schon, dass so etwas irgendwann ja wohl ein Erbstück sein würde. Das höchste Prädikat für ein Geschenk war diese Charakterisierung:

„Dat is ein Afstück!“[35]

 

 

[1]Maschinen-Traktoren-Station

[2]Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft

[3]Motorrad- und Zweiradwerk Zschopau/Sachsen

[4]Die ganze Zeit war mit ihm gar nicht zu reden.

                 

[5] Da muss ich im Frühjahr einen Ableger oder im Herbst Samen von haben.

[6]Menschenskind, ich kann mich noch heute an mein erstes eigenes Beet er innern. Ich war wohl sechs oder sieben Jahre alt und ich schmecke direkt noch heute meine ersten eigenen Radieschen

                 

7 Fuß rheinisches Maß.

[8]Heute dickt die Milch gar nicht richtig.

  Heute dickt die Milch gut.

[9]kriegsverwendungsfähig

[10]Bei Ida und Karl ging das noch einfacher zu, als bei uns.

[11]Bei Ida geht es auch nicht weiter.

[12]Aber wir Kinder mussten beim Essen immer am Tisch stehen. Und es gab nur immer ein Messer. Gabeln hatte Ida gar nicht.

[13]Der taugt nichts, der isst mit Messer und Gabel.

[14]Aber bei Toni ist es immer so schmutzig, da kann man nichts essen.

[15]Das waren Zwillinge und kamen als Achtmonatskinder zur Welt. Nein, was waren das für kleine Dinger. Toni blieb die meiste Zeit im Bett und hatte die Mädchen an ihrer großen Brust liegen.

[16]Wie eine Sau mit ihren Ferkeln.

[17]Den Rest von dem Kartoffelmehl strich Toni mit ihren großen Händen zusammen und wieder rein in den Topf. Kochen und Windeln, das ging alles aus einem Topf.

[18]Die waren nachher so kräftig, dass die Jungen sich umsahen, so einen Busen hatten die beiden.

[19]Die sind nur durchgekommen, weil Toni so eine große Brust hatte.

23 Das weiß ich eigentlich auch nicht genau, das ergab sich einfach so. Ich glaube Zellmers hatten gar keine Kinder. Und bei Wedewardts war der Sohn gefallen. Und Tante Grüntzel war Lehrerin, die hatte auch keine Kinder.

24 Der war das Liegenlassen nicht wert.

Schämt ihr euch gar nicht, Tante Grüntzel auszulachen?

[22]Weißt du noch, vor dem ersten Weltkrieg war das auch so, als wir noch gar keinen Strom hatten. Und das ging auch.

[23]Wenn sie dich schnappen, geht es ab nach Sibirien.

                 

[24]Die bringen sich noch um ihr letztes Hemd.

[25]Die schämen sich gar nicht, die armen Leute so auszunehmen.

                 

[26]Die Pumpe ist wieder abgelaufen. Wer hat denn wieder kein Wasser hingestellt?

[27]Es gibt einen frühen und kalten Winter, die Schwalben sammeln sich schon.

[28]Ich muss immer an die armen Soldaten denken, die bei der Kälte bei Stalingrad gelegen haben.

[29]Die fliegen nach Afrika.

[30]Mein Gott, ihr seid ja ganz unterkühlt, hoffentlich habt ihr euch nicht erkältet.

[31]Kascha ist ein Brei bzw. Grütze.

[32]Dystrophie: Eiweißmangelernährung mit Wassersucht (russische Betonung auf der zweiten Silbe).

[33]Ihr müsst nicht dauernd den Schnabel nass haben.

[34]Die haben sogar einen fünfarmigen Kronleuchter bekommen.

[35]Das ist ein Erbstück!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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