Hornawsky: Wahnsinn

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Satire über die große und die kleine Diktatur

Der Biologe Bernd Berger gerät in den Bannkreis eines faszinierenden Wissenschaftlers, lässt sich von dessen Ideen begeistern und zur Mitarbeit in seinem Institut verführen, bis er begreift, dass er einem Wahnsinnigen aufgesessen ist. Die Verführung dauerte nur so lange, wie er noch frei war. Dann begann seine bedingungslose Unterwerfung, bei geringstem Widerstand die Bekämpfung als Feind. Berger erlebt schließlich tatenlos, wie alles unrettbar dem Untergang entgegengeht. 
 
Diese Geschichte einer kleinen Diktatur steht als Parabel für das politische System, vor dessen Hintergrund sie spielt: die kommunistische Diktatur Osteuropas und deren Zusammenbruch. Berger erlebt am Ende das wiedervereinigte Deutschland, eine zunächst faszinierende Gesellschaft, deren Merkwürdigkeiten aber schon bald die Frage provozieren, ob da nicht manche Dinge auch vom Wahnsinn bestimmt werden.

Der Biologe Bernd Berger gerät in den Bannkreis eines faszinierenden Wissenschaftlers, lässt sich von dessen Ideen begeistern und zur Mitarbeit in seinem Institut verführen, bis er begreift, dass er einem Wahnsinnigen aufgesessen ist. Die Verführung dauerte nur so lange, wie er noch frei war. Dann begann seine bedingungslose Unterwerfung, bei geringstem Widerstand die Bekämpfung als Feind. Berger erlebt schließlich tatenlos, wie alles unrettbar dem Untergang entgegengeht. 

Diese Geschichte einer kleinen Diktatur steht als Parabel für das politische System, vor dessen Hintergrund sie spielt: die kommunistische Diktatur Osteuropas und deren Zusammenbruch. Berger erlebt am Ende das wiedervereinigte Deutschland, eine zunächst faszinierende Gesellschaft, deren Merkwürdigkeiten aber schon bald die Frage provozieren, ob da nicht manche Dinge auch vom Wahnsinn bestimmt werden.

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Dr. Gerd Hornawsky, Jahrgang 1939, von Beruf Chemiker, beschreibt diesen Teufelskreis aus eigener Lebenserfahrung mit viel Witz und feiner Ironie, ein Buch über kaum wahrnehmbare Deformationen im täglichen Leben, die in ihrer Gesamtheit zu einer völlig deformierten paranoischen Gesellschaft führen. Er selbst, im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen, der den Mauerbau als Student in Jena erlebt hat, verbrachte seine besten Berufsjahrzehnte in wissenschaftlichen Instituten Ostberlins und war nach 1990 Mitarbeiter von Firmen in Bayern und Berlin. Als Schriftsteller, vorwiegend für Funk, Fernsehen und Theater ("Nachlass", "Kepler", "Kapitzke und Wolzenbach") sieht Hornawsky die Verführbarkeit der menschlichen Psyche und ihre Anfälligkeit für Diktaturen als sein zentrales Thema. Hornawsky lebt in Berlin Prenzlauer Berg.

 

Gerd Hornawsky: Wahnsinn - Satire über die alltägliche Diktatur, 168 S., Broschur, € 13,98, ISBN 978-3-86992-083-2

Titelbild zum Download (300 dpi)

Leseprobe:

1.

 

Was ich sagen werde, ist ganz aus der Sicht Bergers gesagt, andere werden das Gleiche anders erlebt haben, und Professor Hinz, wenn er noch leben würde, wäre em­pört. Trotzdem ist diese Geschichte so gelaufen. Das lässt sich nicht ändern oder gar wegleugnen, genauso we­nig wie die Tatsache, dass 1985 noch die Mauer stand und die Deutschen heute in einem Staat leben, den die Sie­ger zur Strafe für den verlorenen Krieg so festgelegt haben. Das sind nun einmal die Fakten. Ob ich das Ganze in der dritten Person mit einem erfundenen Namen erzähle oder nicht oder gar in der gewollten Distanz: Der Erzähler hat ..., das spielt im Prinzip keine Rolle. Jedem steht frei, sich in jede Person zu begeben und daraus über alles zu richten. Dann würde natürlich auch Berger, das heißt, das Bild von ihm, anders er­scheinen.

 

Als ihm Sabine am Telefon den Tod von Professor Hinz mitteilte, das war auf der Fachmesse in München, hatte Berger das Gefühl, hier handle es sich um einen Akt höherer Gerechtigkeit.

Sabine sagte: Was auch gewesen ist, sein Tod ändert alles.

Berger wusste natür­lich, was sie meinte, aber er fragte sich: Hat sie recht? Der Tod ändert vieles, ändert er jedoch etwas von dem, was gewesen ist? Zunächst bedeutet er, sich nicht wieder sehen, nicht wieder miteinander sprechen, keinen Streit mehr haben, Hass ist sinnlos geworden, Sympathie ebenfalls, Versöhnung ist nicht mehr möglich. Aber ändert er etwas von dem, was gewesen ist?

Berger hatte den Hörer aufgelegt und lief zurück zum Messestand, es war Ausstellungsschluss. Er sagte zu seinen Kollegen, die zusammenräumten: Eben erfahre ich von meiner Frau, dass mein ehemaliger Chef gestorben ist beim Baden im Pazifik während einer Dienstreise in Peru.

Herr Fredel, der Firmenchef, entgegnete: Nun machen Sie mal kein Gesicht, als wäre Ihr Vater gestorben.

Berger sagte, er habe erst vorgestern mit Frau Hinz gesprochen. Es gehe ihrem Mann gut, hatte sie gesagt, er habe angerufen. Da war er schon tot, sie wusste es nur noch nicht.

Herr Fredel zog seinen Mantel über, suchte irgendetwas in den Taschen, was er nicht finden konnte, und meinte nebenher: Lassen Sie sich deshalb nicht die Laune ver­derben, Herr Berger. Es sterben so viele Leute, Sie brauchen doch nur eine Zeitung aufzuschlagen, da finden Sie in Massen Todesmeldungen jeden Tag. Jetzt gehen wir in den Englischen Garten auf ein Bier, da wird Ihnen besser.

Berger erinnerte ihn daran, dass auch er, Fredel, Pro­fessor Hinz neulich begegnet war, dass es sich also für ihn nicht um einen Unbekannten handle.

Schon möglich, sagte Herr Fredel, man kann sich doch gar nicht mehr alle merken. In Hamburg ist der Profes­sor Meister gestorben, in Göttingen der Professor Müller. Wenn Sie den Müller gekannt hätten, Herr Berger, so ein Hüne, der Müller: Krebs, weg!

Einer fragte noch: Wie alt war denn dieser Professor Hinz?

Dreiundfünfzig.

Na immerhin, war die Antwort. Dann drängte Herr Fredel zum Gehen.

Berger hatte offenbar die Vorstellung, jeder müsse be­eindruckt sein, wenn Professor Hinz plötzlich stirbt. Er lief neben den anderen her. Sie ließen ihn in Ruhe. Schwer zu sagen, ob das Rücksichtnahme war oder ob je­der beiseitegelassen wird, der nicht in den Mittel­punkt drängt.

Von der Stadt München weiß er nichts mehr. Vermutlich sind sie an der Theresienwiese vorbei gelaufen und an der Bavaria. Im Englischen Garten war er dann wieder anwesend. Ihm war übel. Er verspürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge und hatte das Bedürfnis auszuspucken, ein unerklärbares Ge­fühl, ähnlich dem, das er zwei Jahre zuvor hatte in diesem politischen Zusammenbruch, als er in Berlin über den Marx-Engels-Platz lief und sah, wie man vom Gebäude des Zentralkomitees das riesige Emblem der SED abnahm und auf den Asphalt legte. Von einem Moment zum anderen war es nur noch ein unbrauchbares Stück Metall.

Wozu nun das Ganze? dachte er. Alles, was über so lange Zeit für viele Menschen das Wichtige, das angeblich Wichtige, gewesen ist, war erledigt. Aus! Interessierte nicht mehr. War Episode.

Dann kamen irgendwelche Geschichten in ihm hoch, die mit Professor Hinz zusammenhingen, überlagerten sich und bildeten ein Gewirr meist unangenehmer Erinnerun­gen. Daraus drang wiederholt eine Stimme hervor: Legen Sie es dort auf den Stapel! Das war nicht die Stimme von Pro­fessor Hinz.

Legen Sie es dort auf den Stapel...

Er sah plötzlich die ganze banale Geschichte vor sich, wie er Professor Hinz zum letzten Mal begegnet war. Das war vor vier Wochen. Das war in seinem Institut. Berger nun nicht mehr sein Mitarbeiter, sondern Angestellter der Firma Labortechnik. Fredel war dabei, aber hielt sich im Hintergrund. Professor Hinz überaus freundlich. Wie es ihm ginge? Er freue sich, dass Berger ein neuer An­fang gelungen sei. Und überhaupt sei Berger damit die Sorgen los, mit denen er, Hinz, sich noch herumplagen muss. So viel Glück habe eben nicht jeder. Berger komme genau im richtigen Moment, man sei bei der Gerätepla­nung. Er, Hinz, brauche unbedingt solche Geräte, wie sie Berger nun verkauft. Er solle ihm Angebote machen. Am nächsten Morgen müsse aber alles vorliegen, nur dann sei der Kauf in diesem Jahr noch möglich.

Natürlich hatte Berger gearbeitet bis Mitternacht. Das war es nicht. Am nächsten Morgen ging er pünktlich zu Professor Hinz. Die Sekretärin empfing ihn mit Unver­ständnis. Ich weiß nicht, wer die Frau Tadelbach kennt, sie ist ein Typ. Heute? sagte sie. Heute, Herr Doktor Berger? Und dann die Stimme geradezu strafend erhoben: Heute? Der Chef ist gestern Abend nach Stockholm geflogen. In den nächsten zehn Tagen passiert hier gar nichts. Na ja! Legen Sie es dort auf den Stapel!

Das war die letzte Begegnung.

Bei einem Badeausflug im Pazifik ertrunken. Oder war es ein Herzinfarkt am Ufer? Oder ein Herzschlag im flachen Wasser? Die Einzelheiten widersprachen sich. Im Kran­kenhaus soll der Tod eingetreten sein. Oder wurde nur der Tod im Krankenhaus festgestellt? Hinz war auf einem Kongress im Landesinnern und hatte am Wochenende einen Ausflug zur Küste unternommen. Dabei ist es geschehen. So jedenfalls hatte es Dr. Hiller Bergers Frau am Telefon gesagt, als er, Berger, gerade das Haus verlassen hatte Richtung München.

Und dann ging ihm etwas Merkwürdiges durch den Kopf, da saß er am Biertisch im Englischen Garten, der Gedanke: Das stimmt nicht, die Geschichte geht so nicht auf.

Er sah plötzlich Frau Hinz vor sich, wie sie an dem Sonntagabend auf ihn zukam, bepackt mit Koffer und Ta­sche, sie kam von Leipzig. Sie freuten sich beide über die Begegnung. Sie tauschten Befindlichkeiten aus: Die Situation in den Verkehrsmitteln, die Kinder. Die Tochter in Frankreich. Gestern hatte sie erst mit ihr telefoniert, es ging ihr bestens. Der Sohn in Kanada, ganz begeistert. Am liebsten würde er noch ein zweites Jahr dort bleiben. Und wie es ihm denn ginge, Berger? Ach, eine neue Arbeitsstelle? Schön! Und zur Fachmesse nach München morgen? Schön! Und wohin denn die Bergers zum Urlaub fahren? Ach so, jetzt in der Einarbeitungs­zeit gar nicht, das ist ja wohl auch nicht das Wichtigste. Sie selbst möchte auch nicht mehr immer verreisen. Ihrem Mann werde es schon lange zu viel. Er sei jetzt in Peru. Er habe heute morgen angerufen. Es gehe ihm gut, aber es sei alles sehr anstrengend. Er wollte eigentlich, dass sie ihn nach Peru begleite. Aber so viel Urlaub habe sie ja gar nicht. Und Ende nächster Woche führe sie mit ihm zu einem Kongress nach Nepal. Nepal sei schon immer ihr Traum. Und dann sagte sie noch, sie mache sich um ihren Mann große Sorgen. Er leide maßlos unter den Verhältnissen heute. Den Zusammenbruch seines Institutes habe er keineswegs überwunden. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, sie hätte ihn nach Peru begleitet. Deshalb habe sie sich auch über seinen Anruf heute so gefreut. Er habe gestern einen unvorstellbar schönen Ausflug zur Küste gemacht und im Pazifik gebadet. Das erste Mal im Pazifik. Es sei eine einmalig schöne Pflanzen- und Tierwelt dort ... Das war es!

Beim Baden ertrunken. Und er hat danach angerufen.

Berger ist durch München geirrt. Er hielt es am Bier­tisch nicht mehr aus. Herr Fredel sah ihm verblüfft nach und ließ ihn laufen.

Beim Baden ertrunken, und er hat danach angerufen.

 

2.

 

Nicht Berger hatte sich Hinz aufgedrängt, Hinz hatte Berger geworben. Das muss eindeutig festgehalten werden. Das war zum Jahresende 1985 in Berlin – Ostberlin damals – genau am zweiten Weihnachtsfeiertag gegen Abend. Hinz hatte seinen Sohn Jens zu Berger geschickt und fragen lassen, ob Berger zu Hause sei, ob er Zeit habe und ob es angenehm wäre, wenn er, Hinz, mal auf einen Sprung zu einem Gespräch kommen würde. Sein Telefon sei leider abgestellt, die Frau Tadelbach habe offenbar die Telefonrechnung nicht bezahlt, sonst hätte er angerufen.

Natürlich, er könne kommen, man freue sich.

Hinz kam.

Er wolle gleich mit der Tür ins Haus fallen, sagte er, nachdem er die Familie Berger begrüßt und den Weihnachtsbaum begutachtet hatte, der, wie er sagte, eine ganz eigene Note habe, vor allem die Art, die Kerzen zu befestigen, und überhaupt die Tatsache, dass die Bergers noch echte Kerzen verwendeten, nicht diese elektrischen Leuchtkörper, mit denen die meisten heute einen Lamet­taberg zur Lampe verwandelten. Er stehe auch auf Wachskerzen. Kurz gesagt, ob Berger nicht in seiner Forschungsabteilung als wissenschaftlicher Oberassistent arbeiten wolle, er habe eine Stelle frei.

Bitte? fragte Berger.

Ich habe eine Stelle frei, sagte Hinz. Wollen Sie bei mir arbeiten?

Dieses Angebot kam natürlich für Berger überraschend.

Die Sache ist die, sagte Hinz, ich will die freie Stelle mit einem Wissenschaftler besetzen, der neue Gedanken in die Abteilung bringt. Über die langen Jahre ist ein Trott entstanden, mit dem man in der Wissen­schaft nicht mehr die Spitze halten kann. Meine Leute haben sicherlich einen guten Charakter, den will ich ihnen nicht absprechen, aber das allein genügt nicht. Sie verstehen, wie ich das meine, Herr Berger. Ich werde die Arbeitsgruppe umstellen. Wir beide kennen uns gut. Es wird einen enormen Auftrieb geben, wenn zwei Männer wie wir gemeinsam eine Sache angehen. Kurz, ich suche einen Mitstreiter, ein stimulierendes Agens, einen, der wirklich die Reihen meiner Getreuen ver­stärkt und auch mal etwas wagt. Reizt Sie dieses Ange­bot nicht?

Es ging um nichts Geringeres als um ein Mittel gegen den Krebs. Das Problem werde in der nächsten Zeit ge­löst, sagte Hinz, und zwar auf dem Weg, den seine For­schungsgruppe beschreitet. Es komme jetzt darauf an, den internationalen Wettkampf zu gewinnen. Auf jeden Tag komme es an. Es gebe Hunderte Arbeitsgruppen in aller Welt, die auf diesem Gebiet forschen. Eine davon werde Sieger sein. Eine werde plötzlich den Erfolg melden. Diese eine Gruppe werde den Ruhm aller Gruppen ernten. Das sei wie beim Sport: Hundert Athleten gehen an den Start, jeder ein hervorragender Kämpfer. In je­dem steckt die Leistung von vielen Jahren harter Ar­beit. Und dann gibt es nur einen Sieger, der hat es geschafft. Vielleicht kennt die Welt noch den Namen des Zweiten oder Dritten, alle anderen sind Verlierer.

Ja, Herr Berger, darum geht es. Die Entscheidung fällt in den nächsten Jahren. Wollen Sie dabei sein? Wir bekommen alle erforderlichen Mittel. Unsere Forschung erhält den Rang eines Staatsplanvorhabens. Damit entfallen jedwede Hindernisse. Geräte, Materialien – kein Problem. Die Labore werden ausgebaut. Und, Herr Berger, Reisen sind bei uns eine Selbstverständlichkeit. Haben Sie in Ihrem jetzigen Institut einen Reisepass? Sind Sie Reisekader? Nein. Aha, Sie unterliegen den üblichen Beschränkungen. Reisen gehört zum Leben eines Wissenschaftlers. Ich bin dauernd unterwegs. Übrigens, welche Vergütung erwarten Sie? Was haben Sie jetzt in Ihrem Agrarinstitut? Aha, gut. Aber da können Sie bei mir noch mehr bekommen. Bedenken Sie auch das Arbeitsklima, vor allem die politische Toleranz, die bei mir herrscht.

Ab wann denn die Stelle zu haben sei? fragte Berger.

Sofort, das heißt, sobald Berger könne.

Ob sich denn der Professor Hinz das auch richtig über­legt habe, ihn, Berger, auszuwählen? Da seien doch eine ganze Reihe Punkte zu bedenken, wenn alles Hand und Fuß bekommen soll. Einen Reinfall könnten sich beide nicht leisten.

Ich schon, sagte Hinz lachend, ich bin Reinfälle gewöhnt. Aber gerade, um das zu vermeiden, denke ich an Sie, Herr Berger.

Um was für Arbeiten es sich denn überhaupt handle?

Sehen Sie, deshalb habe ich Ihnen das hier mitgebracht. Hinz legte ein Bündel Papier auf den Tisch. Das sind die Veröffentlichungen der letzten Jahre. Wenn Sie die ansehen, Herr Berger, wissen Sie, worum es geht.

In groben Zügen kannte Berger das Forschungsgebiet von Hinz. Er untersuchte die krebsheilende Wirkung des Ginkgobaumes. Sogar das AIDS-Problem könne damit unter Umständen lösbar sein. Außerdem betrieb Professor Hinz Tränensubstanzforschung.

Ich werde alles in Ruhe durchlesen, sagte Berger.

Es hat Zeit, sagte Hinz. Nur, zu lange hat es nun wie­der auch nicht Zeit. Deshalb bin ich heute gekommen, am Weihnachtstag, an dem man ja eigentlich nicht an die Arbeit denken will.

Dann kamen sie auf allgemeine Themen.

Was für ein Zufall, dass sie hier in Berlin Nachbarn sind, wo sich der Kern der Familien seit der Jugend in Dresden kennt. Professor Hinz nickte Frau Berger zu, die das Gespräch schweigend verfolgt hatte. Das sei ein gutes Omen, sagte er, unbezahlbar in der heutigen Zeit. Und welch ein Zusammentreffen, die Kinder in der glei­chen Schule.

Ob Berger übrigens in der Partei sei? Ein Thema, das sie so direkt nie angesprochen hatten.

Nein. Aber er als Institutsdirektor müsse doch wohl sicher Parteimitglied sein?

Er hatte es umgehen können, er war in eine Blockpartei abgetaucht, in die CDU. Seine Familie sei schon immer kirchlich orientiert.

Herr Berger, fuhr Professor Hinz fort, ich sage Ihnen, in meinem Haus spielt die Partei keine Rolle. Natürlich, wo sie ihre Aufgaben hat. Das geht gar nicht anders. Dieser Staat ist ein Parteistaat, darüber sind wir uns einig. Aber bei mir ist sie auf dem Platz, auf den sie gehört, nicht anders. Und auf alle Fälle gibt es bei mir keine Diskriminierung der Parteilosen. Leistung entscheidet. Die Partei ist bei mir keine Privilegienverteilungsstelle.

Jetzt müsse er gehen. Es sei ja auch ungehörig, die Bergers am Weihnachtstag zu überfallen. Er habe den Eindruck, Berger begeistere das Angebot gar nicht.

Davon könne keine Rede sein, sagte Berger, aber man treffe eine solche Entscheidung nicht in Minuten. Im­merhin sei er sechsundvierzig Jahre alt.

Machen Sie sich doch nicht älter, als Sie sind! rief Hinz und schüttelte missbilligend den Kopf. Ein Mann mit Ihrem Ruf! Sie haben noch zwanzig Jahre vor sich, zwei Jahrzehnte, in einer Zeit, wo sich das Wissen der Menschheit aller sieben Jahre verdoppelt. Herr Berger, Sie enttäuschen mich!

Wer das Arbeitsgebiet wechselt, warf Berger ein, gibt seinen Ruf auf. Ich werde nachdenken. Ich melde mich.

Hinz erhob sich. Das übliche Ach, schon so spät! Ver­zeihung, ich wollte gar nicht so lange. Vielleicht hätte ich heute doch lieber nicht ...

Damit ging er.

 

3.

 

Berger hatte sich dann sehr bald für einen Besuch bei Professor Hinz entschieden. Das hing mit Dr. Latzke zusammen, seinem Abteilungsleiter im Agrarinstitut.

Dr. Latzke hatte in der Abteilungsversammlung Anfang Januar darauf bestanden, dass jeder seiner Mitarbeiter bekannt gibt, ob er sich an der bevorstehenden Demonstration beteiligen wolle oder nicht. Das hieß, alle hatten selbstverständlich an diesem Sonntag in Lichtenberg zu erscheinen. Jeder wisse schließlich, was die Namen Karl und Rosa bedeuten. Wer verhindert sei, sollte bitteschön seine Gründe offen vor der Abteilung darlegen.

Das hatte dann zu einigen Szenen mit den Müttern geführt, die ihre Beteiligung vom Wetter abhängig machen wollten. Sie sagten, sie würden mit ihren Kindern nur zur Demonstration kommen, wenn nicht zu starker Frost herrsche, da man erfahrungsgemäß stundenlang im Freien herumstehen müsse, und ohne Kinder könnten sie nicht kommen, weil ihre Männer schließlich genauso antreten müssten wie sie, als Kampfgruppenmitglied sogar noch vordringlicher.

Das ließ natürlich Dr. Latzke nicht gelten. Er sagte, das sei eine Ausrede, die Frauen wollten am Sonntag nur ihren Haushalt besorgen. Er sprach davon, dass der internationale Klassenkampf gerade in diesem Jahr in die entscheidende Phase getreten sei und die Sicherung des Weltfriedens die Demonstra­tion der Einmütigkeit von Partei und Volk verlange. Es sei offensichtlich, wie sich einige immer mehr der Ideologie des Klassenfeindes beugten, der einen Keil zwischen Partei und Volk treiben möchte. Aber das werde nicht geduldet. Da kenne er keine Nachsicht, denn die Hoffnung des Klassenfeindes sei es nach wie vor, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und den Arbeiter- und Bauernstaat zu zerstören.

Berger hatte die Mütter in Schutz genommen und zu Latzke gesagt, jeder müsse selbst entscheiden, ob er seine Kinder im Januar zu Demonstrationen führe oder nicht, noch sei der Sonntag ein arbeitsfreier Tag. Daraufhin sagte Latzke zu Berger, er bitte ihn, sich zu­rückzuhalten, sein gesamtes Auftreten ließe in der letzten Zeit auffallend zu wünschen übrig, das zeige sich nicht nur in seiner gesellschaftlichen Inaktivi­tät, sondern auch in seiner fachlichen Arbeit. Er habe ihm da neulich ein Veröffentlichungsmanuskript unter­gejubelt, das er, Latzke, nur als Provokation bezeich­nen könne. Berger wisse selbst genau, dass Umweltdaten nicht veröffentlicht werden dürfen. Und was er da ge­schrieben habe, sei weiter nichts als – und das sagte er wörtlich – als ein Rühren in unserer eigenen Scheiße. Und dazu sage er, Latzke, eindeutig nein.

Nun meldete sich überraschend Frau Kantorra: Sie sei ja auch der Meinung, es müsse jeder selbst entscheiden, ob er an einer Demonstration teilnehme oder nicht. Aber sie ertrage es nicht, wenn die Frauen immer und überall ihre Kinder als Ausrede benutzen. Kinder überständen Kälte besser als die meisten Erwachsenen. Da könne sie von ihrer Tochter genügend Beispiele erzählen. Und was sie selbst beträfe, sie habe Durchblutungsstörungen in den Beinen und komme am Sonntag trotzdem. Falls es kalt würde, zöge sie eben zwei paar Strümpfe an und feste Schuhe und nicht immer nur solche Salonschuhchen wie manche hier.

Da fauchten natürlich die Angegriffenen zurück, sie solle nicht so viel rauchen, dann hätte sie auch keine Durchblutungsstörungen, und im übrigen ginge sie das nichts an, worüber sie hier urteilt.

Nun wurden alle der Reihe nach gefragt, ob sie am Sonntag erscheinen wollten, und es sagte keiner nein.

Draußen sagte dann Frau Kantorra zu Berger, sie finde diese Weiber zum Kotzen. Da seien sie selbst in der Partei und haben einen Kampfgruppengenossen im Bett. Aber wenn sie nur so viel opfern sollten, – sie zeigte zwei sich beinahe berührende Finger – da versteckten sie sich hinter ihren armen, empfindlichen Kinderchen.

Und Herr Welling, ein Chemiker in mittleren Jahren, der während der ganzen Veranstaltung schweigend dagesessen und dem Dr. Latzke zugenickt hatte, sagte zu Berger: Ich bewundere dich, dass du immer wieder den Mund aufmachst. Ich weiß, ich hätte dich unterstützen müssen, aber ich kann es nicht. Er sah Berger traurig an und sagte im Gehen mit beschwörender Stimme und weit erhobenen Armen: Warum bin ausgerechnet ich ein so feiger Mensch!

Berger beschloss in diesem Moment, umgehend Professor Hinz aufzusuchen.

 

 

4.

 

Der Herr Professor, erklärte der Pförtner, ist im Hauptgebäude parterre rechts zu finden.

Frau Tadelbach, die er an diesem Tag zum ersten Mal sah, rief laut in Richtung einer halb geschlossenen Tür: Herr Professor, der Herr Doktor Berger!

Hinz kam heraus, begrüßte ihn herzlich und führte ihn in sein Arbeitszimmer, einem großzügig gestalteten Raum mit Teppichen, Gemälden und schweren Sesseln. Fenster nach zwei Seiten, von denen man beinahe das ganze Institutsgelände übersehen konnte.

Ob er sich mit dem Gedanken schon etwas angefreundet habe, hier zu arbeiten?

Berger sagte, der Gedanke würde ihn zumindest unaufhörlich beschäftigen.

Hinz erwiderte, dass es für ihn eine außerordentliche Freude wäre, wenn Berger seine Reihen verstärkte. Falls er Schwierigkeiten bekommen sollte bei der Loslösung aus seinem Institut, brauchte er sich keine Sorgen zu machen, das übernähme er, Hinz, selbstverständlich, das ginge in Ordnung.

Hinz gab ihm einen kurzen Einblick in die Institutsge­schichte. Im Prinzip gehe das Zizin, das Zentralinsti­tut der Zuckerindustrie, auf König Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1812 zurück. Natürlich nicht in der heu­tigen Gestalt. Aber ein Gedanke des Arztes Hufeland, den dieser an den König herangetragen hatte, veranlasste Friedrich Wilhelm zu einer Festlegung, die seitdem niemals ganz in Vergessenheit geraten war und als Geburtsstunde des Zizin betrachtet werden könne. Man stehe mit der Tradition in bestem Einvernehmen. Eigentlich sei es rechtens, wenn dieses Institut folglich Hufelandinstitut heißen würde, vergleichbar dem Pasteurinstitut in Paris. Es sei nur zu bedauern, dass der Staat so wenig Interesse an Namen habe, die etwas in der Welt bedeuten. König-Friedrich-Wilhelm-Institut ginge auch, würde aber im sozialistischen Staat noch weniger Unterstützung finden.

Dann führte Professor Hinz Berger durch die Labore der Forschungsabteilung.

Berger solle von den vorliegenden Räumen nicht auf die Aufgaben der nächsten Zeit schließen, betonte Professor Hinz, die Forschungsabteilung sei neu im Entstehen, die Labore würden noch in diesem Jahr bezugsfertig.

Das beruhigte Berger, denn was er sah, war unbedeutend, fünf kleine Räume, in denen nichts auf moderne Forschung hinwies. Er grüßte zwei Mitarbeiter, die merkwürdig betreten zurückgrüßten, und fragte dann, ob er seinen möglichen Arbeitsplatz sehen könne.

Der sei über den Hof ein ganzer Trakt für sich, sagte Hinz, man gehe gleich dorthin, zuvor wolle er Berger jedoch mit Dr. Kaschek bekannt machen, dem Forschungsdirektor, seiner rechten Hand.

Berger war über die Bekanntschaft erfreut. Der Name Kaschek galt etwas in der Fachliteratur. Ein schlanker Mann Mitte Fünfzig mit einem etwas gequälten Gesichtsausdruck. Hinz war übrigens groß und von kräftiger Statur, dagegen wirkte Kascheck unscheinbar.

Hinz stellte Berger mit der Bemerkung vor, Berger wolle eventuell ihre Reihen verstärken, er sei Spezialist auf dem Gebiet der Zelldiagnostik und habe eine Frau, die mit seiner Schwägerin in eine Schulklasse gegangen sei. Außerdem sei man Nachbar.

Dr. Kaschek war freundlich und zurückhaltend. Er begleitete Berger und Hinz in den separaten Labortrakt, der sich zu ebener Erde in einem ehemaligen Stall neben dem Hauptgebäude befand, ein kleiner Korridor, links davon zwei hintereinanderliegende Räume mit Laboreinrichtung, rechts ein Raum mit ein paar Tischen, auf denen Mäusekäfige standen.

Professor Hinz sagte, die Mäuse kämen hier weg, man wisse nur noch nicht wohin, aber immerhin ständen links die beiden Räume heute schon voll zur Verfügung, und er sei glücklich, wie schön dieses Labor geworden ist. Den jetzigen Ausbau habe Dr. Gorni durchgeführt, dafür müsse man ihn loben.

Berger fragte, wo die wissenschaftlichen Geräte seien, an denen er arbeiten solle?

Die sind bestellt, sagte Professor Hinz. In den nächsten Wochen könne mit ihrem Eintreffen gerechnet werden. Finden Sie das Laborappartement nicht auch sehr schön, Herr Berger?

Sicher, sicher, sagte Berger. Wo ist der Dr. Gorni jetzt?

Ich musste ihn umsetzen, er ist leider etwas erkrankt, sagen wir es offen, er ist durchgedreht. Hinz wandte sich Dr. Kaschek zu: Nicht wahr, Dieter, das ist ein trauriger Fall?

Ja, sagte Dr. Kaschek.

Aber er gehört nach wie vor zum Haus, fuhr Hinz fort, Sie werden ihn kennen lernen, er ist in der Bibliothek.

Berger äußerte sich über den merkwürdigen Geruch im Labor. Hinz sagte, das seien die Mäuse. Sobald die Käfige hinauskämen, höre der Geruch auf. Kaschek sagte aber, das sei immer so, das käme aus dem Gully in der Labor­mitte, der sei wie eh und je mit dem Ziegenstall ver­bunden. Das Institut halte Ziegen für die Serumgewin­nung. Professor Hinz wies diese Behauptung jedoch zu­rück und Kaschek schwieg.

Berger fragte dann noch, wo die Verbindungsstelle zwi­schen Ginkgo, Serum und Zuckerindustrie zu suchen sei?

Das ist historisch bedingt, sagte Hinz und wies noch einmal auf die Räume: Bitte, Herr Berger, hier können Sie schalten und walten, wie Sie wollen. Bekommen Sie da nicht gleich Lust anzufangen? Auf diesen kleinen Labortrakt bin ich richtiggehend ein bisschen stolz.

Dann liefen sie gemeinsam durch den verschneiten Park, den Professor Hinz als seine ganz besonders geliebte Schöpfung bezeichnete, der Rest einer Kleingartenan­lage, den er als Landgewinn dem Institutsgelände zu­schlagen konnte. Im Sommer sei es eine Vorliebe seiner Mitarbeiter, hier zu lustwandeln und den gemeinsamen wissenschaftlichen Disput zu pflegen. Der Park habe einigen Anteil an dem sprichwörtlich guten Zizinklima, das man sowohl geistig wie meteorologisch auffassen könne.

Zuletzt führte Professor Hinz Berger in den sogenannten Hinzekeller, den ehemaligen Kohlebunker des Hauptgebäudes, den er zu einem Weinkeller mit Kamin und dezenter Beleuchtung umgebaut hatte. Der Name Hinzekeller sei eine liebevolle Bezeichnung seiner Mitarbeiter, die hier sehr gern ihre Brigadefeiern veranstalteten. Es spräche übrigens nichts dagegen, wenn Berger den Hinzekeller im Bedarfsfall auch einmal für eine Privatfeier nutzen wollte.

Na, was meinen Sie, wie es Ihnen hier bei uns gefallen wird? fragte Hinz.

Ich hoffe gut, sagte Berger.

Ihr Gesichtsausdruck ist gar nicht so überzeugend, entgegnete Hinz. Lassen Sie sich nicht von dem jetzigen Eindruck der Laborräume irritieren, es wird alles an­ders. Wenn Sie wollen, bauen wir die Räume auch nach Ihren Vorschlägen um, wir haben Haushandwerker, das ist alles kein Problem. Na, was wollen Sie sagen?

Ich mache einen Vorschlag, sagte Berger: Prüfen Sie mich.

Prüfen? verwunderte sich Hinz.

Ich mache mein Kommen davon abhängig, ob ich für Ihr Institut auch wirklich den Nutzen bringen kann, den Sie erwarten.

Und das soll ich prüfen?

Ja. Geben Sie mir konkrete Aufgaben. Prüfen Sie meine Fähigkeiten. Ich prüfe dabei mein Interesse an diesem Institut. Wenn wir beide der Meinung sind, ich bin der geeignete Mann für Ihre Forschung, dann komme ich.

Hinz lächelte: Warum sollte ich an Ihren Fähigkeiten zweifeln? Ich hatte eher gedacht, zur Einarbeitung könnten Sie nach Dänemark zu Professor Oleson fahren, mit dem wir die beste Zusammenarbeit haben. Aber gut, wenn Sie wünschen, werde ich Sie prüfen. Es ist selbst­verständlich, dass wir vorher auch alles andere abstim­men, was notwendig ist.

Hinz sah auf die Uhr: Jetzt fahren wir nach Hause. Sind Sie mit dem Auto hier? Meinen Fahrer habe ich schon weggeschickt. Ich fahre bei Ihnen mit.

Unterwegs sagte Professor Hinz noch: Haben Sie gemerkt, dass Dr. Kaschek unter Strom stand?

Nein, sagte Berger.

Er hat ein kleines Alkoholproblem, sagte Hinz.

 

5.

 

Es erregte natürlich Aufsehen, dass ein Mitarbeiter nach einundzwanzig Dienstjahren plötzlich das Agrarinstitut verlassen wollte, und führte zu Spekulationen.

Einige Kollegen drückten Berger komplizenhaft die Hand, als wären sie in einer gemeinsamen Verschwörung gegen den Institutsdirektor verwickelt. Einige gaben zu verstehen, sie sähen keinen Sinn darin, von dem einem Saustall in den anderen zu wechseln, innerhalb der DDR sei doch überall das gleiche Dilemma. Einige bestanden darauf, Bergers Kündigungsgrund müsse man ausschließlich in den Hysterien der Damen Kantorra und Co. suchen, die hätten ihm mit ihren Spinnereien das Leben zur Hölle gemacht.

Dr. Wärmlig, der Bereichsleiter, sprach Berger aufrichtig sein Bedauern aus: Er habe immer gern mit ihm gearbeitet. Berger zähle zwar nicht zu den Genossen der Parteigruppe, aber er gehöre trotzdem zu den vernünftigen Menschen.

Dr. Latzke erklärte, es gebe in der DDR kein besseres Institut als das Agrarinstitut, Berger werde deshalb seinen Weggang garantiert bereuen: Aber Bitte! Wenn Sie meinen! Man kann auf alle verzichten!

Der Direktor versicherte Berger, er lege ihm nichts in den Weg. Wenn es Ihr Wille ist! Ich wünsche Ihnen Glück bei Professor Hinz. Und dann lachte er, als er sagte: dem einzigen parteilosen Stalinisten der DDR.

Eine überraschende Wende nahm sein Gespräch mit Dr. Waldhof, einem Chemiker, der sich über Bergers Absicht herzlich freute und mehrmals begeistert rief: Das machst du richtig! Das machst du genau richtig, anders darf man mit diesen Leuten hier gar nicht umgehen! Er schlug Berger vor Freude auf die Schulter. Dann vertraute er ihm an, er werde das Institut ebenfalls verlassen, nicht für immer, aber wenigstens für drei Jahre, vielleicht vier. Das werde ausreichen, seinen Frust abzubauen, und ihm gleichzeitig den Rückweg und die Staatsrente offen halten.

Waldhof sollte noch nicht darüber sprechen und bat deshalb auch Berger um Vertraulichkeit. Er hatte das Angebot bekommen, mit seiner Frau im Irak zu arbeiten, drei Jahre auf alle Fälle, vielleicht sogar vier.

Berger fand das beneidenswert. Er fragte ihn, ob es für seine Kinder dort eine deutsche Schule gibt. Waldhof sagte, die Kinder blieben hier. Die dürfe er nicht mitnehmen, das würde für den Staat sonst eine zu große Republikfluchtgefahr bedeuten.

Was? Drei Jahre willst du deine Kinder allein lassen? rief Berger.

Warum denn nicht? wunderte sich Waldhof.

Das sind doch entscheidende Jahre in ihrer Entwicklung.

Welche Jahre sind keine entscheidenden Jahre? gab Waldhof zurück.

Berger war irritiert. Er fand die Sache nicht mehr beneidenswert. Aber Waldhof belehrte ihn: Hör zu, mein Guter, wenn man mal raus will aus diesem Gefängnis, muss man sich ein paar Jahre von seinen Kindern trennen können. Die Kinder nehmen, wenn sie groß sind, auch keine Rücksicht auf ihre Eltern. Außerdem, lieber Bernd, kommen meine Jungs in eine Internatsschule für Diplomatenkinder, dort ist alles da, was du dir wünschen kannst, du musst dich von deinen altmodischen Vorstellungen lösen. Und, mein Bester, das eine kann ich dir sagen: Wenn ich zurück bin, brauche ich nur in einen Genex-Laden zu gehen, mein Auto steht dort schon für mich bereit, für Westgeld bekommst du dort alles, da gehen dir die Augen über. Nie wieder muss ich zehn Jahre auf ein Auto warten. Diese Chance hast du nur einmal im Leben. Und, mein Freund, ich sage dir noch eins, das ist für meine Kinder bereits der Startschuss für ihre eigene Karriere. Wenn sie einmal an dieser Schule sind, bekommen sie das Abitur, ein Auslandstudium ist dann geradezu die Norm. Moskau. Kiew, wie du willst.

Und? fragte Berger, welche Zugeständnisse musst du machen?

Waldhof war geradezu empört: Zugeständnisse! Was heißt hier Zugeständnisse? Pass mal auf, lieber Bernd, es ist ja wohl klar, dass man nichts in der Jungen Gemeinde zu suchen hat, wenn man in eine solche Schule geht. Unserer Oma hätten wir das vielleicht nicht antun dürfen, aber die ist tot. Was soll's?

Na ja! sagte Berger. Und? Wann gehen der Herr in die Partei?

Waldhof lächelte verunsichert, dann grinste er Berger genüsslich an: Ich bin Kandidat. Tja, mein Lieber, ich nehme dir nicht übel, wenn du mit mir nicht mehr sprichst. Meinetwegen kannst du mich auch anspucken. Wie sagte unser großer Brecht? Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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