Günzel: Zähne des Windes

18,98
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Mitten hinein in die engen Gassen der marokkanischen Königsstädte Fès und Marrakech mit ihren Farben und Gerüchen, in die Welt der Färber, Souk-Händler, Bader, Zahnzieher und Kupferschmiede. In der Medina von Fès treffen zwei Menschen aufeinander, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Ein alter Mann, der immer noch auf der Suche nach seinem Seelenfrieden ist, obwohl ihm der Tod schon auf die Schulter klopft, und Anna, ein junges Mädchen, das zwischen Träumen und Enttäuschungen hin und her gerissen wird und nirgends Wurzeln schlagen kann. Anna hat in Paris eine scheußliche Kindheit erlebt. Sie misstraut allen Menschen, aber sie hat ein magisches Gespür für Tiere und liebt sie über alles. Im Anwesen des alten Mannes trifft Anna auf eine bizarre Tierwelt mit zwei Eseln, einem Affen und einer imposanten Uräusschlange, die sie Laura nennt, denn das hochgiftige Reptil ist für sie völlig harmlos, nur ungeheuer anfällig gegenüber Menschen, die sie nicht mag. Anna, unangepasst und ruppig, aber auch empfindsam und sehr leicht zu verletzen, fühlt sich erschöpft und ernüchtert von allen Demütigungen, die sie bisher erfahren musste. Aber es soll noch schlimmer kommen ... 

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Wolf Richard Günzel, in der ehemaligen DDR geboren und kurz vor dem Bau der Berliner Mauer nach Westdeutschland geflohen, ist Autor und Naturfotograf. Seit 1982 veröffentlicht er Reiseberichte und Artikel mit eigenen Naturfotografien in den Medien („Rheinischer Merkur“, „FAZ“, „Der Spiegel“, „Kosmos“, „Das Tier“, „Natur“, „Wild und Hund“, „Mein schöner Garten“, „Aqua-Geo“ oder „Gartenteich-Magazin“). Aus seiner Feder stammen bereits mehrere Bücher, neben belletristischen Werken auch Sachbücher aus dem Umwelt- und Naturbereich. Gemeinsam mit seiner Frau zog Wolf Richard Günzel im Jahre 2003 vom Rheinland in die Oberlausitz, wo die beiden in einem fast 200 Jahre alten, eigenhändig hergerichteten Bauernhaus leben.

 

Wolf Richard Günzel: Zähne des Windes, Broschur, € 18,98, ISBN 978-3-86992-091-7

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Leseprobe:

FÈS

1

Dort, wo die Medina über tausend Stufen hinauf zum Himmel führte und man eine trotzige Wolke über einem maurischen Torbogen sah, wo die Menschen wie imaginäre Fliegen durch die Basare schwebten, saß der Alte in einem wollenen Kapuzenmantel, der sein Antlitz und seine Glieder verbarg und so den Eindruck erweckte, als sei er nichts anderes, als ein achtlos hingeworfener Lappen. Auf seiner Schulter hockte eine dösende Eule, die mit ihrem feuerroten Gefieder und schwefelgelben Augen wie ein verschlafener Dämon aus einem Märchen wirkte. Brandrot war auch das Fell jenes kleinen Affen, der vor dem alten Mann stumpfsinnig um die eigene Achse kreiste, denn um seinen dünnen Hals hing eine schwere Eisenkette, deren Ende der Alte unter sich begraben hatte und deren Länge so bemessen war, daß das Tier jeweils drei Schritte nach vorn oder zur Seite machen konnte, ohne sich zu strangulieren.

Der Alte hielt die Beine angewinkelt, wobei sich sein Kapuzenmantel zwischen den Schenkeln wie eine Hängematte nach unten wölbte. Und in dieser Mulde aus schwerem Wollstoff krochen unbeholfen ein paar rote Kröten daher. Sie versuchten die Wände ihres Gefängnisses zu erklimmen und landeten auf dem Rücken, wenn sie den Halt an der Steilwand verloren oder vom Alten durch einen kurzen Ruck seiner Knie unsanft nach unten befördert wurden. In der Stoffmulde, wo die Kröten hausten, hatten sich ein paar Dirhams angesammelt, die der alte Mann unter seiner Kapuze im Auge behielt, denn dieser Blick gab ihm das behagliche Gefühl von Sicherheit und Anonymität. Die Kapuze verbarg seine Augen vor fremden Blicken, während er selbst die vorbeihastenden Menschen ohne Scheu betrachten konnte, wie die ausdruckslosen Augen eines Fisches, wie die stechenden Augen jenes Nachtvogels, der auf seiner Schulter hockte, wie die pupillenlosen Augen eines Reptils, wie die Stielaugen einer Krabbe, wie die Knopfaugen der Kröten, die in seinem Schoß hausten, wie die Facettenaugen eines Insekts.

Genau genommen starrte er nur auf die Füße der Menschen, die in Babouches, Stiefeln, Pumps und Turnschuhen vor ihm durch die Gassen schritten und wenn ihnen ein verirrter Kakerlake unter die Sohlen geriet und als breitgequetschter Kadaver wieder zum Vorschein kam, huschte ein freudloses Lächeln über sein Gesicht und dann wanderten seine Augen über die stürzenden Fassaden der Häuser, quadratische Balkone, verwinkelte Erker, blitzende Dächer und Zinnen hinauf zum blauen Sommerhimmel. Oder sein nervöser Blick flog über die Soukgasse zu seiner Linken und ruhte dann eine Weile wohlgefällig auf einem ausgestopften Schakal, der im Fenster eines Souvenirladens die Zähne fletschte. Der Schakal nämlich gehörte zur Gilde der Bestatter, Totengräber, Leichenverweser, und hatte somit nicht das Geringste mit einem Leichenfledderer zu tun. Denn indem er die scheußlich stinkenden Beutereste der tierischen und menschlichen Räuber fraß, die Hinterlassenschaften ihrer Mordlust, ihres ungezügelten Heißhungers und ihrer vertrackten Gier bis auf die Knochen beseitigte, erfüllte er eine durchaus nützliche, ja unentbehrliche und hygienische Funktion. Er sorgte dafür, daß sich der Gestank der Verwesung nicht bis zum Erbrechen ausbreitete. Er vermied, daß sich Maden und Fliegen ungehemmt vermehrten, Bakterien die Elemente verpesteten, Epidemien und Seuchen um sich griffen.

Als es zu dämmern begann und die Geister in der Gestalt von Glühwürmchen und Motten durch die Gassen schwebten, sammelte der Alte die Münzen aus der Mulde seines Kapuzenmantels ein. Dann ergriff er den Mantel am unteren Ende und schob ihn unter eine Kordel, die er um seinen Bauch trug, sodass die Kröten wie in einem Sack vor seinen Beinen baumelten. Mit der Eule auf der Schulter und dem Affen, der ihm widerwillig an der Kette folgte, bahnte er sich seinen Weg durch die Menschenmassen, die die Kasbah, die Parks, die Gassen, die Brücken und Tunnel überschwemmten. Wie Heuschrecken, die Zähne des Windes, schien es dem Alten, fielen sie Tag für Tag in Schwärmen vom Himmel herab, um dann als düstere Wolke die Sonne zu ersticken. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2

 

Er wohnte in einem jener verwinkelten Häuser in der Medina, die sich mit ihren Giebeln über die schmalen Gassen neigen und sie mit ihrem ewigen Schatten bedecken. Das Haus war farblos und voller dunkler Schimmelflecken, dem Verfall preisgegeben wie ein gestrandetes Schiff, an dem die Wogen von Salzwasser wie eine ätzende Lauge lecken. Aber der Gedanke an den Verfall des Hauses erschreckte den Alten ebensowenig wie der Gedanke an seinen Tod, der nicht mehr in allzu weiter Ferne liegen konnte, noch der Gedanke an irgendein anderes Ereignis überhaupt, das ihn in seinem Leben noch erwarten würde. Er hatte seine Familie verloren, seinen Glauben verloren, seine Ehre verloren, seine Würde verloren, seine Hoffnung verloren. Er besaß keine irdischen Güter, außer den armseligen Lumpen, die er am Leibe trug, das halbverfallene alte Haus, den angeketteten Affen, die roten Kröten und die rote Eule, die tagsüber auf seiner Schulter döste.

Er hatte in grauer Vorzeit im Blida-Viertel den Beruf eines Gerbers erlernt und sein Leben lang in einer stinkenden Hölle geschuftet. Er hatte Berge von Ziegen- und Schaffellen enthaart und sie dann tagelang in einem ätzenden Sud gebadet, der in großen Bottichen schwappte. Er hatte die Felle mit Taubenmist geschmeidig gemacht und sie dann bunt gefärbt in einer Brühe aus Safran, Dattelkernen, Granatapfelschalen und Klatschmohnblüten. Dabei waren seine Arme und Beine erst rauh und dünnhäutig vom Taubenkot, dann gelb von den Schalen ­der Granatäpfel und schließlich rot von den Klatschmohnblüten geworden. Und diese rote Farbe an seinen Gliedern war ihm bis ins Greisenalter erhalten geblieben. Seine erste Frau war im Kindbett gestorben; sie stieß noch einen gesunden Knaben von sich und verschied. Seine zweite Frau war unfruchtbar; er nahm sich eine dritte, blutjunge, die ihm erneut einen Knaben gebar. Auch die zweite Frau war ihm weggestorben, und die dritte hatte ihn verlassen und war in die Ville Nouvelles gezogen. Sie besprengte sich jetzt mit französischem Parfüm und führte er flottes Leben, wie man ihm berichtet hatte, wie er überhaupt die Ville Nouvelles und alles, was dort geschah, nur vom Hörensagen kannte. Jener profane Stadtteil war ihm verhaßt, nie setzte er seinen Fuß in diesen Sündenpfuhl. Seinen ältesten Sohn hatten die Franzosen füsiliert; sein jüngster war nach Marrakech gegangen, und der Alte wußte, daß er dort verlottert war.

Das nun herabgekommene Haus hatte sein Vater einst so gebaut, wie es der Spruch des Propheten empfahl: Baue dein Haus so, daß du deinem Nachbarn nicht in den Hof blicken kannst. Drinnen hatte es zuvor einen schönen Hofgarten gegeben mit Palmen, Bougainvillea, Orangenbäumen, einer Voliere mit schillernden Vögeln und einem Springbrunnen, in dem sich bunte Fische tummelten.

Jetzt war der Hofgarten verkommen. Die Bäume waren abgestorben, Schimmel und Moos zogen durch die Mauerritzen, und wenn der Alte nachts nach draußen ging, hörte er das Quaken der Kröten, die im algenverseuchten Springbrunnen und in Bottichen mit trüber Klatschmohnbrühe hausten. Katzen balancierten als schwarze Silhouetten auf dem Dach herum. Fledermäuse hoben von ihrer Startrampe im morschen Gebälk des Hauses ab und umschwirrten den Alten im Zickzackflug. Die Eule wanderte zerstreut zwischen den Delikatessen im Springbrunnen und in den Bottichen daher. Offenbar bereitete ihr die Menüwahl Kopfzerbrechen: Kröte mit Algenpudding oder Kröte in Klatschmohnsauce, mit ein paar Wasserlinsen dekoriert.

Der Weg von der Gasse zum Innenhof führte durch zwei morsche Holztüren, die so in das brüchige Gemäuer des Hauses eingelassen waren, daß die große Tür eigentlich nur den Rahmen der kleineren bildete. Und wenn der Alte den Innenhof verließ oder aus der Medina zurückkehrte, benützte er stets nur die kleine Tür, denn die große war in seinem Leben nur wenige Male geöffnet worden: Als er seine drei Frauen geheiratet hatte. Als seine Söhne beschnitten wurden. Als zwei seiner drei Frauen gestorben waren. Und durch diese Tür, wußte er, würde er das Haus nur noch einmal verlassen – in seinem Sarg. Die große Tür war am oberen Pfosten mit einer von Grünspan überzogenen Messinghand beschlagen, die fünf weit gespreizte Finger zeigte und alles Unheil von diesem Haus fernhalten sollte. Und deshalb streckte der Alte auch jedem Fremden abweisend seine Hand entgegen, wenn er glaubte, daß er ihn mit dem bösen Blick verhexe.

Mit der gespreizten Hand war auch jene Schatulle aus Ebenholz verziert, in der er jahrzehntelang Dirham um Dirham gelegte hatte, um eines Tages eine unendlich weite Reise anzutreten und sich vor dem Schwarzen Stein, der Kaaba in Mekka, in den Staub zu werfen. Aber er hatte an dieses wohl größte Ereignis in seinem Leben nur noch eine schwache Erinnerung, so wie die Erinnerungen an alle anderen großen Ereignisse in seinem Leben in den letzten Jahren immer mehr verblaßten, ähnlich wie die Bilder, die er Tag für Tag vor sich in der Medina sah, ihre Schärfe verloren und sich in weiße Nebel hüllten.

Alles Unglück in seinem Leben, befand der Alte schließlich, sei mit den Fremden gekommen, der Wolke des Unheils, den Zähnen des Windes: der Tod seines ältesten Sohnes. Der Tod seines jüngsten Sohnes und der Tod seiner letzten Frau. Und obwohl sein jüngster Sohn und seine letzte Frau beileibe nicht gestorben waren, hatte er, nachdem ihr ruchbarer Lebenswandel für ihn zur Gewißheit wurde, sie aus seinem Inneren verbannt, und die Erinnerung an sie löste in ihm nun ähnliche Empfindungen von Gleichgültigkeit aus, wie wenn man Wasser im reißenden Strom eines Flusses dahineilen sieht, wie wenn Rauch über einem Feuer in den Himmel steigt und man weiß, daß er nie mehr wiederkehren wird. Denn schließlich hatte es Schlimmeres in seinem Leben gegeben als einen mißratenen Sohn und eine ungetreue Frau, die dem Blendwerk und den billigen Verlockungen dieser unseligen Zeit erlegen waren. Er hatte Kriege überlebt, die Ruhr überlebt, die Cholera überlebt, Pestilenzen überlebt. Er hatte die Gewaltherrschaft von Despoten überlebt, die Knechtschaft überlebt, Hunger und Armut überlebt. Er hatte Leichenberge gesehen und den Gestank von Fäulnis und Verwesung im Übermaß gerochen. Aber er wußte auch, daß er mit dieser düsteren Illusion nur den anschwellenden Strom von Empörung, Zorn und Trauer in seinem Inneren zum Versiegen bringen wollte. Denn eigentlich war ihm das Schlimmste passiert, was einem alten Manne widerfahren kann: er hatte seine Hoffnung auf das Grab beschränkt, aber er war noch immer auf der Suche nach seinem Seelenfrieden.

 

 

 

3

 

Er hatte sein Leben in Schachteln untergebracht, seine Gedanken, seine Gefühle und seine Erinnerungen. Er hatte seine Söhne in Schachteln aufbewahrt und seine Frauen in Schachteln versteckt gehalten. Auch seine letzte Frau hatte bei ihm in einer Schachtel gewohnt. Wenn ihm danach zumute war, hatte er sie dort herausgenommen und wie ein schönes Bild in einen Rahmen gehängt.

Eines Abends, als er von der Arbeit nach Hause kam, war der Rahmen leer gewesen und sie hatte seine tyrannische Macht durchbrochen. Sanft und still war sie davongeeilt, und doch mit der Kraft eines Erdbebens, das tausend Scherben hinterläßt.

Nachdem sie ihn verlassen hatte, zog Chouma, die Schande, bei ihm ein, denn sie hatte in der Ville Nouvelles eine Anstellung in einer kleinen Elektrofabrik als Packerin gefunden, ihn endgültig beerdigt und sich einem Spielzeugaffen an den Hals geworfen, den sie mit ein paar Lidschlägen ihrer dunklen, sanften Augen aktivieren konnte. Sie lief mit Stöckelschuhen, Nylonstrümpfen und engen Röcken herum, dekorierte sich mit Farben und verführerischen Düften und veruntreute auf solche Art ihr Leben.

Er hatte sie zwar nie gestreichelt. Aber er hatte sie auch niemals ohne Grund geschlagen. Er hatte ihr die bunten Vögel in der Voliere erlaubt, die Fische im Hofbrunnen, ihre bunten Gewänder mit filigranen Blumenmustern, den Fächer aus Pfauenfedern, den Spiegel im Silberrahmen. Er hatte ihr das Lachen erlaubt, das kleine Transistorradio, ihr Tanzen, das sie wie eine im Wind schaukelnde Feder hinaus in den Hofgarten trug. Dort war ihr großes, schönes Reich zu Ende, und sie wußte es.

Er hatte ihr nicht erlaubt, die kleine Tür, die den Rahmen der großen bildete, ohne seine Einwilligung zu öffnen und ihre Schwelle zu überschreiten. Und sie hatte dennoch diese Grenzmarkierung ignoriert. Immer wieder und immer öfter. Sie war hinaus geflattert wie ein schöner, stolzer Schmetterling, einem Duft folgend – von vergiftetem Nektar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4

 

Er versuchte erst gar nicht den Skandal zu begrenzen. Die kalte Wut umschlang ihn mit ihren tröstenden Armen und er fuhr die Kuppen und Täler seines Gedächtnisses wie mit einem Putzlappen ab, saugte die milchigen Pfützen auf, bis ihm die nackte Wahrheit kalt ins Auge sprang.

Er hatte nämlich nicht nur seine Frau an einen Primaten verloren. Er hatte kurze Zeit später auch seine Arbeit in der Gerberei verloren. Der Gerbermeister hatte ihm erklärt, daß sich das Geschäft schon lange nicht mehr lohne, weil die unselige ausländische Konkurrenz den hiesigen Markt mit ihrem Billigplunder überschwemme. Also hatte er ihm eine gute Zeit gewünscht und zum Abschied ein Bild von sich und seiner Lieblingsfrau geschenkt. Dann war auch er in die Ville Nouvelles gezogen, wo er jetzt ein Haus bewohnte, das man auf einem Weg aus poliertem Marmor erreichte und ein weißgekleideter Diener mit einem Krummdolch am Silbergürtel dem Besucher das Tor öffnete.

Das hatte der Alte, der sich bei allem, was ihm heilig war, geschworen hatte, niemals die Neustadt zu betreten, von einem ebenfalls recht betagten Mann erfahren, der am Rande der großen Wüste lebte. Sie kannten sich von der Gerberei her, denn der Mann aus der Wüste hatte den Gerbermeister seit vielen Jahren mit Ziegen- und Schaffellen beliefert. Als er nun wieder mit zwei Packeseln, die unter der Last gebündelter, stinkender Felle fast zusammenbrachen, nach Fès gekommen war, hatte er ratlos vor der verlassenen Manufaktur gestanden.

Eine einsame, zerlumpte Gestalt, die wie ein vollgesogener Schwamm in der Gerbbrühe stand, hatte ihm den Weg in die Ville Nouvelles gewiesen. Dort war ihm der weißgekleidete Diener entgegengekommen und hatte ihn wie einen bettelnden Hund von den Marmorfliesen gefegt.

Mit zorngeschwelltem Hals tauchte er nun im Hause des Alten auf. Die beiden Männer zogen sich in die entlegene Stille der einzigen bewohnbaren Kammer zurück, aus deren weitgeöffneter Tür zum Hofgarten hin bald darauf die Funken stoben. Die Greise nahmen eine straffe solidarische Haltung an. Der Alte aus Fès riet mit militärischer Entschlossenheit zu sofortigem, radikalem Handeln. Er sprach von einem gewaltigen Schlag, mit dem er alle Gemeinheiten, Dreistigkeiten und Verbrechen seines einstigen Meisters rächen wollte. „Erdolchen sollte man dieses hartherzige, arrogante Monster! Köpfen, erhängen, erwürgen...“

Diese Stadtmenschen mit ihrem Zartgefühl! dachte der Alte aus der Wüste. Er versprühte nicht blindlings sein Gift. Er mixte es zu einem Cocktail von teuflischen Grausamkeiten, die er aus den Vorräten in seiner schwarzen Seele schöpfte. Er brach dem ehrlosen Meister jeden einzelnen Knochen seines Körpers, scherte ihm mit einer Drahtschlinge die Hoden ab, riß ihm die Ohren vom Kopf, nagelte ihn mit den Füßen auf Holzbohlen fest, verbrannte ihn bei lebendigem Leibe und ließ ihn aus dem Schornstein des Krematoriums als Rauch aufsteigen. Aber dann begann er seine makabre Phantasie zu zügeln und riet zur Besonnenheit: „Es ist zwar typisch für diese marode Epoche, daß sogar ehrbare Handwerksmeister sich zu Geschmeiß entwickeln und ganze Berufsstände samt ihrer Traditionen in die Gosse ziehen. Aber man darf vor der Selbstherrlichkeit solcher Kreaturen keinesfalls resignieren...“ Er legte eine kleine Kunstpause ein und wandte sich dann direkt an die berufliche Ehre des Alten aus der Stadt: „Es ist vielmehr für dich an der Zeit, endlich aus deinen Fähigkeiten und Erfahrungen Kapital zu schlagen...“

„Wie..?“ fragte der Alte aus Fès voller Argwohn.

„Indem du deine eigene Gerberei gründest, verehrter Freund. Der Hofgarten deines Hauses bietet sich hierfür geradezu an.“

Eigene Gerberei gründen! – Man war hier nicht in der Wüste. Man war in Fès!

Der Alte aus der Stadt hegte zwar keinerlei Zweifel an seiner fachlichen Qualifikation, besaß aber weder den Meistertitel, noch sonstige Legitimationen, noch das nötige Startkapital. Es gab heute natürlich keine Marktaufseher mehr wie zur Sultans-Zeit, die einen wie ihn ohnehin nicht geduldet hätten. Doch selbst, wenn er sein Geschäft nur in kleinstem Stil und gewissermaßen illegal betrieb, würde er den Traditionshäusern der Branche in die Quere kommen. Da gab es die Shuwaara am linken Ufer des Qued Fès, die größte Gerberei der Stadt, in der man Rinderhäute, Schaf- und Ziegenfelle verarbeitete. Dann mitten in der Stadt Sidi Moussa, ebenfalls bekannt für die Verarbeitung von Rinderhäuten und Schaffellen, und neuerdings auch für Kamelhäute, hatte er gehört. Von Ain Azliten im Nordosten der Stadt hatte er wohl nichts zu befürchten, weil man dort nur Ziegenhäute gerbte. Aber dann gab es noch die Dallal, diese Vermittler von Handwerkern und Sukhändlern, die natürlich auch im Gerbereigeschäft ihre Finger hatten.

Er schätzte seine Lage ziemlich präzise ein. Wenn er nämlich mit seinen Häuten die Bühne betrat, auf der ein Haus wie die Shuwaara seit Jahrhunderten das Geschehen bestimmte, würde man ihn sofort entfernen, und zwar ähnlich diskret und unpathetisch, wie man einen Mehlwurm von der Tischplatte schnippt.

Und als er an seine Rolle als Mehlwurm dachte, der klein und häßlich über den Boden kroch, der von niemandem beachtet wurde und doch in jedem, der ihn erblickte, derartige Gefühle von Ekel weckte, daß man ihn bedenkenlos zu Tode trat, da wurde es ihm eine Weile lang ganz elend zumute. Doch dann hatte er diesen Zustand von Kleinmut und Bedrückung überwunden und seine Gemütsverfassung steigerte sich zunehmend ins Euphorische.

„Ich muß mir die Sache überlegen ... Mir fehlen die nötigen Gefäße, Werkzeuge, gewisse Utensilien und Ingredienzien. Meine Ersparnisse reichen zu dieser Stunde zwar aus, um ein paar Steintröge, Zutaten für den Sud, Schaber und einen Sack gestampften Taubenkot zu kaufen. – Damit kann ich die Felle enthaaren, ätzen, walken und geschmeidig machen. Um sie zu färben, fehlen mir aber Dattelkerne, Granatapfelschalen und Klatschmohnblüten. Ich muß sehen, ob ich hierfür eine preiswerte Quelle in der Medina finde ...“

Nun, da der Alte aus der Wüste merkte, daß der Alte aus Fès bereit war, gegen die Strömung anzuschwimmen, streckte er ihm freudig beide Hände entgegen.

„Ich überlasse dir meine Felle auf der Stelle, lieber Freund. Und erwarte die Bezahlung natürlich erst, wenn sie zu feinem Schmuckleder verarbeitet und verkauft worden sind. Im Übrigen werde ich bald wiederkommen und dich mit Klatschmohnblüten versorgen. In meiner Heimat sind nämlich die Felder von rotem Mohn überschwemmt, wie der Schlachtplatz vom Blut der Hammel und Ziegen, deren Felle ich dir übergeben habe.“

„Du kannst mir bei deinem nächsten Besuch auch gleich neue Felle mitbringen“, erwiderte der Alte aus Fès, denn es hatte ihn das prickelnde Gefühl überkommen, daß seine Geschäfte eine erfreuliche Entwicklung nehmen würden.

Berauscht von seinen eigenen Worten holte er noch einmal sehr weit aus. Er ging mit seinen Gedanken bis in die graue Vorzeit zurück, fegte die Spiralwindungen in seinem Kopf bis auf den letzten Winkel sauber, und als sie ihm blankgefegt von allem Unsinn schienen, bekannte er mit einem säuerlichen Lächeln, daß auch er in seinem Leben vielleicht etwas falsch gemacht habe. Aber nun werde er der Welt zum Trotz beweisen, was tatsächlich in ihm steckte. Denn nun würde alles anders werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

5

 

Der Alte hatte das Gefühl, als gleite er mit vollen Segeln durch stürmische Meere. Er gerbte und färbte beide Felladungen in seinem Hofgarten mit titanischem Eifer. Dann machte sich mit ebensolchem Eifer auf den Weg in die Medina, um das feine Leder zu verkaufen. Kurzum, mit solchem Mißerfolg, daß der Mann aus der Wüste, als er erneut mit einer Felladung vor dem verfallenden Haus in der Medina stand, nicht einen einzigen Dirham mit nach Hause nehmen konnte.

Der Alte aus Fès versuchte die Pleite mit wolkigen Erklärungen hinzubiegen. Er vermutete, die Kröten im Hofgarten hätten bei Nacht in die Bottiche geschissen und ihm den Sud verdorben, denn die Kundschaft habe die Nase verzogen und um ihn, samt seiner Felle, einen Bogen gemacht.

Der Mann aus der Wüste überlegte, wie man dem Geschäft auf die Beine helfen könne. Und zwar derart konzentriert, daß sich seine Haut wie einer Mumie um den Schädel spannte. Nur wenige Tage später tauchte er erneut in der Medina auf.

Er berichtete, daß die Händler seines Stammes ihre Kundschaft, die ja heutzutage nur noch aus Fremden, den Ungläubigen, bestehe, durch Blendwerk oder gewisse Manipulationen an sich ziehe. So machten diese Händler zunächst einmal mit einer Uräusschlange, einer Giftnatter, die sich hypnotisiert auf ihrem Schädel aufrichte, auf sich aufmerksam. Seien die Fremden durch die Schlange angelockt, wäre es dann ein Leichtes, sie zum Kauf von Silberschmuck oder ein paar Wüstenrosen zu überreden.

Der Alte gab zu bedenken, daß er sich zum Schlangenbeschwörer wenig eigne. Er habe eine panische Furcht vor allen Reptilien und denke nicht daran, sich mit ihnen einzulassen.

Der Mann aus der Wüste, ein windiges Männchen mit listigen Frettchenaugen, öffnete einen Leinensack und förderte erst ein paar getrocknete Chamäleons und Dornschwanzechsen sowie eine ausgestopfte Palmratte zutage. Dann überreichte er dem Alten aus Fès eine rohe, blutige Schlangenhaut zur weiteren Bearbeitung. Der Alte überwand seine Abneigung und ließ die Haut mit Sachverstand durch seine Finger gleiten. Dabei streifte er ein Gelege von Fliegeneiern ab und meinte, die Haut sei in bestem Zustand. Sie enthielte kaum Fleischreste auf der Innenseite und zeige von außen keinerlei Spuren einer Verletzung. Der Mann, der diese saubere Arbeit zuwege gebracht habe, müsse ein wahrer Meister sein.

„Es hängt mit der Art der Tötung zusammen“, erklärte der Mann aus der Wüste sachlich und mit einer Spur zur Überheblichkeit. „Die Schlange durfte dabei keinen Tropfen Blut verlieren. Deshalb hat sie schnell und ohne längere Qualen sterben müssen. Sie durfte gewissermaßen ihren Tod nicht spüren. Nur so war sie nach ihrem Tod auch bereit, ihre Haut ohne Haß auf den, der sie umgebracht hatte, herzugeben. Dieser Mann hatte sie zuvor gestreichelt und um Vergebung gebeten. Dann ergriff er sie am hinteren Ende, wirbelte sie durch die Luft wie eine Peitsche, um sie schließlich auf die polierten Marmorfliesen vor dem alten Wesir-Palast zu schlagen.“

Der Alte aus Fès verzog seinen Mund zu einem freudlosen Lächeln. Ihm war ein wenig übel und er stand auf, um die Tür zum Hofgarten zu öffnen. Dabei blieb er wie erstarrt im Türrahmen stehen. Sein Anwesens hatte sich in einen kleinen Zoo verwandelt. Neben den beiden Eseln des Alten aus der Wüste, die vor der leeren Voliere standen, sah er kleinen Affen, der mit seinem roten Hintern über die verdreckten Fliesen hüpfte und eine große, gelbäugige Eule, die trübsinnig in einen Bottich mit roter Klatschmohnbrühe blickte. Beinahe wäre er noch über einen weiteren Leinensack vor seinen Füßen gestolpert. Er wurde nur deshalb auf ihn aufmerksam, weil er sich mit einem hektischen Schlingern von ihm fortbewegte.

Der Alte sog schnaubend die schwüle Luft ein. Am Spinnennetz über seinem Gehirn blieb die Erkenntnis haften, daß der Mann aus der Wüste verrückt sein mußte.

Der Mann aus der Wüste hatte vorgehabt, mit seiner spektakulären Wahrheit erst nach und nach herauszurücken. Nun mußte er unumwunden zugeben, daß sich im Leinensack, der jetzt schon ziemlich flott durch den Hofgarten robbte, eine weitere Giftnatter – eine höchst lebendige – befand.

„Sie stammt aus dem Nachlaß eines Mannes, der durch ihren Giftbiß soeben ums Leben gekommen ist“, bekannte er kleinmütig.

„Und der Affe, und die Eule..?“

„Stammen ebenfalls aus seinem Nachlaß.“

„Und ich soll dieses Viehzeug übernehmen..?“

„Ich sehe, daß es in deinem Hofgarten vor Kröten nur so wimmelt. Sie werden der Schlange und der Eule sicher schmecken. Und für den Affen läßt sich auch das eine oder andere Häppchen finden.“

Der Alte aus Fès spürte ein elendes Kratzen im Hals, als er auf den Leinenbeutel starrte. Sollte ein Mann wie er, der in Ehren alt geworden war, sich plötzlich mit diesem ekelhaften Schlangenvieh behängen, bloß um in der Medina ein paar Felle zu verkaufen?

Der Mann aus der Wüste blinzelte ihn von der Seite an. Er wollte feststellen, ob er sehr erschüttert war. „Die Schlange wird dir besser gehorchen als die Eule oder der Affe“, versuchte er ihn zu beruhigen. „Sie ist ein heiliges Wesen, und du solltest sie nicht ablehnen. Sie blickt ins Innere eines jeden Menschen und erkennt, ob er gut oder böse ist. Wer ein gutes Herz hat und aufrecht in allen Dingen ist, hat von ihr nichts zu befürchten. Sie wird ihm zugetan sein wie ein treuer Freund. Sie tötet nur jene, die mit Sünde und Schande beladen sind.“

„Bist du mit Sünde und Schande beladen?“ fragte der Alte aus Fès.

„Eine schwierige Frage ...“, entgegnete der Mann aus der Wüste schluckend.

„Wir könnten es ja herausfinden ...“ Der Alte deutete mit einem pfiffigen Grinsen auf den Leinenbeutel, in dem sich das Reptil bewegte.

Der Mann aus der Wüste merkte, daß er selbst das Opfer seiner emotionalen Behauptungen geworden war. Es fiel ihm aber nichts anderes ein, als zu erklären, er könne sich für dieses Experiment derzeit nicht zur Verfügung stellen, da ihn daheim zwei Frauen samt einer größeren Herde Schafe erwarteten.

Und der Alte aus Fès sagte, obwohl er weder Frauen noch Schafe habe, wolle auch er sich derzeit nicht auf dieses Experiment einlassen. Er glaube zwar nicht, daß er mit Sünde oder Schande beladen sei. Aber er traue einem strohdummen, giftigen Reptil einfach nicht zu, darüber zu befinden. Schließlich erklärte er sich aber knurrend bereit, den Affen und die Eule zu behalten. Wenn es denn sein müsse, wolle er den Narren vor der Kundschaft spielen. Aber die Giftnatter, betonte er mit Nachdruck, bliebe nicht in seinem Haus.

Der Mann aus der Wüste zuckte bedauernd die Schultern. Dann begann ihr Gespräch eine andere Richtung zu nehmen. Erst zögernd, dann immer heftiger und schließlich mit fanatischem Eifer fingen die Greise nun an, den Zustand der Welt zu analysieren. Sie inspizierten das riesige Chaos des Lebens, das sie umgab. Sie steckten ihre Nasen in die stinkenden Brutstätten von Korruption, Niedertracht und Gemeinheiten jeglicher Art. Sie beklagten den anarchistischen Zustand des ganzen Landes, des ganzen Kontinents, der ganzen Welt.

Der Alte aus der Wüste sprach laut genug, damit es auch noch die Passanten auf der Straße hörten. Während seiner Tirade tanzten die faulen Zähne in seinem Mund wie abgebrannte Streichhölzer herum.

Der Alte aus Fès versuchte dann ihren Blindflug, in dem sie als Höllenengel über der Erde schwebten, zu stoppen. Er gab zum Besten, daß er exakt an jenem Tag geboren worden sei, als Sultan Moulay Hafid den Protektoratsvertrag mit den Franzosen unterschrieb, womit er den Verbindungsfaden hin zu seinem Lieblingsthema zog: der allgemeine Verfall der Moral, die wuchernde Lieblosigkeit, Gefühllosigkeit und Zügellosigkeit, die das Volk beherrschten, seit sich die Fremden hierzulande eingenistet hatten.

„Das ganze Dilemma“, erklärte der Mann aus der Wüste, „hat seinen Ursprung darin, daß in diesem Lande nur noch Leute ans Ruder der Macht geraten, die in Paris oder sonstwo in der Welt studiert haben.“

„Als ob es hier keine Universitäten gäbe!“ pflichtete ihm der Alte aus der Stadt boshaft nickend bei.

„Von dort her bringen sie ihre progressiven Ideen mit und spielen sich als Alleswisser auf.“

„Natürlich, und erzählen uns, dieses Land müsse sich der Welt öffnen, sonst würden wir den Anschluß an die moderne Zeit verpassen.“

„Dabei hatte man doch wenigstens geglaubt, daß mit dem Ende der Kolonialzeit der Spuk der Fremdherrschaft zu Ende sei. Aber nun geht es ja erst richtig los.“

„Und wie es losgeht! Manchmal habe ich den Eindruck, daß mein einziger Sohn, den diese Scheißfranzosen hingerichtet haben, vor den Toren dieser Stadt umsonst gestorben ist.“

„Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich sofort nach Beendigung des Krieges einen klaren Strich gemacht“, bekannte der Alte aus der Wüste.

„Einen ganz klaren!“, bestätigte der Alte aus Fès. „Aber jetzt holt man sich die Heuschrecken auch noch eigenhändig mit der königlichen Luftflotte ins Land“.

„Vierhunderttausend, habe ich gehört, werden jährlich allein von Europa aus nach Marrakech verfrachtet.“

„Vor allen von den Kanarischen Inseln kommen sie herüber“, erklärte der alte Mann aus Fès.

„Weil es ihnen nicht reicht, dort ihren Urlaub zu verbringen. Sie müssen schnell noch mal nach Afrika, um zu Hause mit ihren Erlebnissen zu protzen.“

„Manchmal bedaure ich fast, daß es keine Hungersnöte, Epidemien oder Kriege mehr gibt, womit sich ihre Zahl immer mal wieder auf ein erträgliches Maß reduzierte.“

„Oder Massenverdurstungen, wie sie mein seliger Großvater noch erlebt hat“, schnarrte der Alte aus der Wüste. „Als er im Jahre 1805 als Kameltreiber mit einer Riesenkarawane von Timbuktu ins Tafilalet unterwegs war, ist er samt zweitausend anderen Männern und fast ebenso vielen Tieren umgekommen.“

„Ja, das waren noch Zeiten! Aber heute eignet sich selbst die Wüste nicht mehr für richtige Katastrophen.“

„Die Karawanen sind doch nur noch Staffage für die Touristen, seit LKWs die Wüste durchpflügen. Auch die Oasen oder die einst stolzen Wüstenstädte, wie Marrakech, bieten heute ein ziemlich desolates Bild. Ich habe im letzten Jahr eine Ladung Felle im Schlachthof von Marrakech gekauft. Rein zufällig habe ich dabei einen Blick in den Club N´fis an der Avenue du France geworfen und gesehen, wie zwei Moslems in knöchellanger Djeballah, berauscht und auf wackligen Beinen, an der Hotelbar standen.

„Hör mir mit Marrakech auf!“ sagte der Alte aus Fès grimmig und berichtete dann, daß sein ehemaliger Sohn dort wohl auf dem direkten Weg zur Hölle sei. Aber auch von Fès wußte er nichts Gutes zu berichten, obwohl er sein Pamphlet mit fast poetischen Worten und einem melancholischen Schimmer in den Augen begann: „Diese Stadt war einst von einer exquisiten Schönheit wie ein junges, pralles Weib, das mit einem fast unmerklichen Lidschlag ihren ganzen Körper in Bewegung bringt und zu tanzen scheint mit einer süßen Schwerelosigkeit, die deine Sehnsucht zum Schmelzen bringt, wie Zucker, den du im heißen Pfefferminztee mit dem Löffel verrührst. Aber nun hat auch diese Schönheit ihre Unschuld verloren...“

„Und wird eine Hure werden wie Marrakech“, pflichtete ihm der Alte aus der Wüste bei. Deshalb begannen sie nun erneut gemeinsam der gesamten Welt die Apokalypse zu prophezeien und gaben wiederum der Neuzeit, den Fremden, dem König und den unfähigen, machthungrigen Politikern die Schuld an allem Ungemach. Bis letztlich von dem Milliardenheer der törichten Menschenrasse nur zwei vernunftbegabte Individuen übrig blieben: sie selbst.  

Wie es sich für zwei alte Männer geziemt, kamen sie bald darauf auch auf den eigenen Tod zu sprechen. Der Mann aus der Wüste sagte, er habe in seinem Leben zwar keine großen Untaten begangen. Aber er wisse nicht, ob Allah in seiner Güte ihn mit dem Paradies belohnen werde. Er habe nämlich nicht immer die fünf Säulen des Glaubens beachtet. Er sei ein bißchen nachlässig geworden in der Verrichtung der täglichen Gebete. Auch seiner Pflicht, Almosen an die Armen zu verteilen, sei er nicht immer mit freudigem Herzen nachgekommen. Er verspüre mitunter so etwas wie Geiz, der sogar an seinem Gerippe nage, und die Angst selbst in tiefe Armut zu stürzen, läge ihm wie ein Stein auf der Brust. Deshalb falle ihm auch immer schwerer, sich von dem schönen Geld zu trennen, das ihm der Handel mit den Fellen und anderen Dingen hier in der Stadt einbrächte. Er glaube zwar nicht, daß ihn Allah deswegen mit den Qualen der Hölle bestrafen werde. Aber wahrscheinlich werde er ihn nach seinem Tod zur Sühne erst eine Zeitlang im Bauch eines Kameles durch die Wüste reiten lassen, bevor er das Paradies erblicken dürfe.

Der Alte aus der Stadt merkte, daß man sich mit einem Sandfloh nicht über das Universum unterhalten konnte. Deshalb erklärte er mit eiserner Miene, er habe über das, was ihn nach seinem Tod erwarte, auch schon des Öfteren nachgedacht. Er sei aber bisher zu keiner rechten Ansicht gekommen. Er habe zwar einen ganz guten Draht nach oben, könne aber im Moment eigentlich noch gar nicht sterben, weil es für ihn noch eine Menge zu erledigen gäbe. Vermutlich ständen ihm Dinge bevor, die ihm ein wenig Bange machten, aber doch so bedeutsam seien, daß man sie wohl in den Annalen dieser Stadt erwähnen werde, was wiederum bedeuten würde, daß man ihn damit über seine Sterblichkeit erhob.

Der Mann aus der Wüste dachte nicht daran, den Alten deshalb anzuhimmeln. Wahrscheinlich keimte der Irrsinn schon in den schimmligen Furchen seines alten Schädels. Er mußte nur aufpassen, daß er sich sein bißchen Verstand nicht vollends ruinierte, am Ende nicht mehr wußte, wer er war und lallend durch die Gassen irrte.

Mit ein paar freundlichen Worten verabschiedete sich der Mann aus der Wüste dann von seinem verehrten Freund, um vor seiner Heimreise noch ein paar Einkäufe in der Stadt zu machen. Er käme gleich wieder vorbei, um dann die Schlange mitzunehmen, falls sich der Alte die Sache nicht doch noch anders überlege. Er möge nur kurze Zeit auf den Leinenbeutel achten, in dem sie sich befinde, und ebenso auf seine Esel.

Damit machte er in die Medina auf, um nie mehr zurückzukehren. Direkt unter dem Querbalken, der hinter dem Place Nejjarin zur Heiligen Gasse führt, erzählte man später, habe ihn gnädig der Schlag getroffen.

 

 

6

 

Das Mädchen, das am Place el Mansour den vollgestopften Bus aus Marrakech verließ, schirmte ihre grünen Augen mit einer großen Sonnenbrille ab. Neben ihr landeten zwei Sisalsäcke, prallgefüllt mit Kichererbsen, und die Morgensonne durchflutete sie bis in ihr Inneres.

Das Mädchen war noch keine achtzehn Jahre alt, drückte sich jetzt die Sonnenbrille etwas fester auf die Nasenwurzel und mit dieser bescheidenen Bewegung ließ sie einen Lebensabschnitt hinter sich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

PARIS

 

7

 

Sie wurde in der Nähe jenes Pariser Stadtviertels geboren, wo man Dionysos, den Märtyrer und Bischof von Lutetia enthauptet hatte und er mit dem abgeschlagenen Kopf unter dem Arm vom Montmartre hinaus gewandert war. Nur ein paar Schritte von ihrer Geburtsstätte entfernt lag auch das Schlösschen Malmaison, wo einst Napoleon mit Joséphine am Arm durch duftende Rosenbüsche wandelte. Und wiederum nur ein paar Schritte waren es bis zur Basilika von Saint-Denis, wo die Gebeine der großen Könige wie Dagobert I. oder Ludwig XVIII. ruhten.

Leider hatte sich vom Glanz und von der historischen Bedeutung jener Epoche nichts auf ihr eigenes Leben übertragen. Und selbst das Unglück, das ihr widerfuhr, war zu bedeutungslos, um von ihrer Umwelt registriert zu werden, denn es spielte sich in der engen Etagenwohnung eines grauen Wohnturms ab.

Als ihre Existenz im Mutterleib bekannt wurde, sorgte sie erstmals für Aufruhr und brachte die fragile Lebensplanung im Hause ihrer Eltern durcheinander. Ihre Eltern, Monsieur und Madame Bofill, waren während ihrer fünf Jahre dauernden Ehe schon dreimal umgezogen. Sie wollten einmal ganz nach oben und hatten eine schöne, teure Wohnung am Canal Saint-Martin besessen. Später eine weniger schöne in La Défense, bevor sie in die Ville Nouvelles bei Saint Denis zogen. In dieser Zeit hatte Monsieur Bofill auch etwa ein halbes Dutzend Mal seine Stellung gewechselt und war gerade dabei, sich eine neue zu suchen, weil ihm die Talfahrt seiner Existenz, die Unterbewertung seiner Fähigkeiten und die morbiden Strukturen dieser Gesellschaft allmählich an die Ehre gingen. Und es sollte ihm nun, da er die Nadel seines inneren Kompasses gerade auf eine verheißungsvolle Zukunft ausgerichtet hatte, nichts mehr dazwischen kommen. Schon gar nicht durch einen sabbernden Wurm, der unablässig schrie und ständig in die Windeln machte, nach saurer Milch und aufgequollenen Haferflocken roch. Deshalb wurden ihre zaghaften Signale, mit denen sie sich in Madams Bauch bemerkbar machte, wie eine Katastrophenmeldung registriert. Sie war in höchstem Maße unerwünscht, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblickte.

Ihre Mutter hatte sie zu Beginn der Schwangerschaft mit Sitzbädern in heißer Essiglauge zu ertränken versucht, und sie zog sich zusammen wie eine verwelkende Blume, ehe sie sich fürs Weiterleben entschied. Später hatte ihr Vater ihre Mutter im Streit an den Haaren gezerrt und ihr mit dem Knie gegen den Bauch getreten. Dann, nur wenige Tage vor der Niederkunft, hatte Madame Bofill einen verzweifelten Aufstand gegen ihre Depression unternommen. Sie war ins Kino gegangen und hatte sich einen Liebesfilm angeschaut. Der Film war für sie ein Martyrium, weil er nur glückliche, lachende Menschen zeigte und ihr die eigene Misere überdeutlich machte. Auf dem Heimweg steuerte sie das nächste Bistro an, und später hatte sie im Hausflur betrunken den Halt verloren und war über zwei Etagen hinweg ins Parterre gestürzt. Doch die Kreatur in ihrem Leib ließ sich nicht so einfach aus der Welt bugsieren.

Nach sechs Monaten befreite sie sich urplötzlich aus der Plazenta ihrer schönen, seelenlosen Mutter. Kein Stern hatte sie dabei geleitet. Sie tauchte vor ihrer dunklen Höhle auf wie eine Krabbe, die dann die nächste Flutwelle erfaßte und schutzlos auf den Sandstrand warf. Man war entsetzt über ihre Unvollkommenheit, über ihre transparente Haut, unter der man ihre inneren Organe und das Blutgeäst der Kapillaren sah, dass man sich inniglich wünschte, dieses Unglückskind möge auf der Stelle sterben.

Ein Pfarrer kam, um im Angesicht der Todgeweihten ein paar Gebete zu sprechen. Er vermutete, die vor ihm liegende, bedauernswerte Kreatur, die durch ihre Frühgeburt weder zum Leben geeignet, aber seltsamerweise auch nicht zum Sterben berufen schien, habe sich im Mutterleib nicht geborgen gefühlt.

Obwohl er wußte, daß es eine Sünde war, hatte der Pfarrer in Gedanken um den Tod dieses Kindes gebetet. Plötzlich schien es ihm, als sei sein Gebet erhört worden, denn das unglückliche Wesen war verstummt und rührte sich nicht mehr. Da hatte sich der Pfarrer ganz tief zu dem Würmchen, das jetzt ein Engelchen im Himmel war, herabgebeugt und plötzlich war das leblose Häufchen Unglück hochgefahren und hatte den Pfarrer mit grünen Augen angeblickt.

Das Mädchen wuchs heran und kroch sofort in eine Bettecke, wenn man ihm zu nahe trat. Sie zog die Beine an, umklammerte ihre Knie und wenn Mama die Hand nach ihr ausstreckte, fand sie ihr Vorrücken bedrohlich und schrie sich die Seele aus dem Leib.

Das Mädchen hatte keine Ahnung, was ein Mensch nach seiner Geburt anstellen mußte, damit es seine Umwelt respektierte, welcher Leistungen und Verdienste es bedurfte, um von seinen Mitmenschen geachtet, bewundert oder gar geliebt zu werden. Man versuchte erst gar nicht ihm eine bestimmte Lebensordnung beizubringen, weil Monsieur und Madame Bofill sich kompromißlos klar von ihrer Tochter distanzierten. Monsieur Bofill tat dies schon ziemlich früh und brauchte die weitere unselige Entwicklung seines einzigen Kindes nicht mehr zu erleben. Er hatte sich kurz nach ihrer Geburt davongemacht, weil er für seine Person in diesem Hause kein rechtes Fortkommen mehr sah. Er erklärte, daß er sich durch ein plärrendes Monster samt seiner hysterischen Mutter nicht um alle Visionen seines Lebens bringen lasse. Wahrscheinlich stamme dieses Kind des Grauens nicht einmal von ihm. Madame habe sicher zwischendurch ein kleines Techtelmechtel mit dem Teufel gehabt.

Ihre Schulzeit war eine zähe Katastrophe. Ihr mangelndes Interesse an den Menschen ließ keinerlei Freundschaften mit den anderen Mädchen ihrer Klasse zu. Sie wirkte wie ein kleines, scheues Faultier, das seine Zeit im Winterschlaf verdöste.

Nachts, wenn sie wach in ihrem Bett lag, hörte sie, wie ihre Mutter es nebenan mit Männern trieb. Männer, die im Morgengrauen wie Diebe das Haus verließen und sich über die Flurtreppen ins Parterre schlichen. Dann versuchte sie in der Stille, die jetzt das graue Haus am Rande der Stadt beherrschte, ihre Empörung zu zügeln und sich von den Fesseln der Trauer, die sie im Inneren spürte, zu befreien, indem sie mit geballten Kinderhänden gegen das weiche Daunenkissen schlug.

 

7

 

Mama tauchte erst sehr viel später auf. Jeden Morgen erwachte Madame Bofill auf dem Grund des Ozeans. Jeden Morgen fürchtete sie sich vor dem Moment, wo sie der Druck der Wellen an die Oberfläche spülen würde und sie dem Licht des Tages schutzlos ausgeliefert war. Denn an jedem neuen Morgen blickte Madame Bofill vor dem Spiegel ein anderes Gesicht. Sie betrachtete es schon lange nicht mehr als ihr eigenes, eher wie eine Maske, die ihr fremd geworden war. Sie haßte den Augenblick, wo sie mit einem mit Alkohol getränkten Wattebausch darüberfuhr, der Maske die Reste von Gel und Schminke aus den Poren wusch und dann auf eine Landschaft von tausend kleinen Kratern schaute. Diese Momente, in denen Madame Bofill ihr Antlitz nackt und ungeschminkt im Spiegel sah, überstand sie nur noch dadurch, daß sie einen Cognac auf nüchternen Magen trank. Manchmal schluckte sie ein Antidepressivum. An besonders schlimmen Tagen, wenn sie auf ihrem Gesicht neue Spuren der Verwüstung entdeckte, nahm sie beides. Nun war sie fähig, die fremde Maske neu zu gestalten, eliminierte mit Pomaden, Lippenstiften, Make-up und Wimperntusche die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens und tauchte dann mit der nächsten großen Welle über der Wasseroberfläche auf.

 

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