Börner: der Komet Halley und die Stasi

14,98
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Stasi-Bespitzelung und die Zeitbeschreibung eines Jahrhunderts – Weimarer Republik, Drittes Reich, DDR und Bundesrepublik Deutschland

Erinnerungen eines in den zwanziger Jahren Geborenen: glückliche Kindertage im Umfeld einer sächsischen Kleinstadt, Schulabbruch und Einberufung, Wehrdienst, Gefangenschaft, Neuanfang mit Berufsausbildung, Fach- und Hochschulstudium, Berufs- und Privatleben in der früheren DDR und im wiedervereinten Deutschland. Der Autor gehört der „Luftwaffenhelfergeneration“ an. Nach Kriegsgefangenschaft in Bad Kreuznach und französischen Lagern Studium in Chemnitz und Dresden. Berufstätigkeit in der Radiotechnik, Raum- und Bauakustik, Lärmbekämpfung, Mikroelektronik, Industrietelemetrie, Satelliten-Übertragungstechnik, elektronischer Bildbearbeitung. Bei seiner Mitarbeit in der Interkosmos-Weltraumforschung wurde er vom Sicherheitsdienst bespitzelt, wie die Kopien aus seiner Stasi-Akte zeigen, die sich wie ein Kriminalroman lesen.

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Dr. Heinz Börner war Mitarbeiter der Deutsche Akademie der Wissenschaften (Heinrich-Herz-Institut für Schwingungsforschung, Institut für Elektronik, Institut für Kosmosforschung), Verfasser und Mitverfasser diverser wissenschaftlicher Publikationen.

 

Heinz Börner: Der Komet Halley und die Stasi, 187 S., Broschur, € 14,98, ISBN 978-3-86992-095-5

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Leseprobe:

 

1. EINLEITUNG

 

Der Verfasser wurde 1926 in der westsächsischen Kleinstadt Geithain geboren und erlebte dort eine glückliche Kindheit. Bis zur Schulzeit war diese Stadt und ihre engere Umgebung seine Welt. Eine, wie sie viele Menschen seines Alters, auch aus anderen Städten und Gemeinden dieser Region, ähnlich erlebt haben. Eine Welt, die heute unwiederbringlich vergangen ist.

Ein Gegenstand begleitete mich von Kindheitsjahren an und weckte mein Interesse in verschiedenen Lebensetappen auf unterschiedliche Weise: die Radiowellen. Ich bestaunte das Wunder der damals neuen drahtlosen Übertragung am Uralt-Rundfunkempfänger meiner Großeltern. Frühzeitig bastelte ich einen Detektorempfänger, bald auch einfache Kurzwellenempfänger. Mit der Oberschulklasse als Flakhelfer eingezogen, kam ich in eine Sondereinheit für die Funkmesstechnik zur Flugzeug- und Schiffsortung. Eine später als Radar bezeichnete Radiowellenanwendung.

Nach Kriegsende entwickelte ich bei Telefunken Rundfunk- und Hochfrequenzmessgeräte, studierte Elektrotechnik und Physik und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Heinrich-Hertz-Institut für Schwingungsforschung der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin-Adlershof. Aus diesem Institut entwickelte sich später das Institut für Kosmosforschung, in dem ich Aufgaben der Mikroelektronik, Industrie- und Satellitentelemetrie und der Fernsehbildübertragung von Raumflugkörpern, etwa aus der Nähe des Kometen Halley und vom Marsmond Phobos, bearbeiten konnte. Funkwellen begleiteten mich als Hobby und Arbeitsgebiet wie ein roter Faden durchs Leben.

Die berufliche Tätigkeit macht natürlich nur einen Teil meiner Erinnerungen aus. Wie meine Zeitgenossen war ich schon als Volksschüler den Verlockungen der staatlichen nazistischen Propaganda ausgesetzt und wurde nach meiner Luftwaffenhelferzeit 17-jährig zur Luftnachrichtentruppe eingezogen. Bei Kriegsende geriet ich in Gefangenschaft, die ich in Bad Kreuznach und Frankreich in Hungerlagern verbrachte.

Die ersten harten Nachkriegsjahre konnte ich in meinem Elternhaus verhältnismäßig geborgen erleben.

Es entstanden Jugendfreundschaften, die bis heute bestehen. Wir dachten über die vergangene Zeit und über unsere Zukunft nach. Wir gingen tanzen und freuten uns der angebrochenen neuen, friedlichen Zeit. Zu Fuß und mit dem Fahrrad erwanderten wir Ausflugsziele in der näheren Umgebung. Ich lernte meine erste Liebe und spätere Ehegefährtin kennen.

Es folgte das Ingenieurstudium für Elektrotechnik in Chemnitz. Danach siedelte ich nach Berlin um und dort gründeten wir nach wenigen Jahren eine eigene Familie. Wir erkundeten das interessante Leben in der damals noch ungeteilten Stadt und die Schönheiten der märkischen Umgebung. Die Familie erweiterte sich um eine Tochter und einen Sohn, an deren Gedeihen wir uns freuen konnten.

Politische Beeinträchtigungen in der DDR-Zeit, die wir nicht abwenden konnten, versuchte ich durch befriedigende berufliche Ergebnisse, Gedankenaustausch im Kreis vertrauter Freunde, Haus-Musik, Theater-, Konzertbesuche und Familien-Ferienreisen zu kompensieren. So lernten wir zunächst Ostdeutschland von Rügen bis zur Wartburg, später auch das Riesengebirge, Prag, die Hohe Tara, Budapest, Moskau, Leningrad, Sibirien, Mittelasien, Kaukasien, das Schwarzmeergebiet und dabei einige unserer östlichen Nachbarn kennen.

Erfahrungen mit der Staatsmacht, bis zu Verhören in der Rusche-straße, der Berliner Stasi-Zentrale, blieben mir nicht erspart.Auf die Wiedervereinigung unseres Landes und das Ende der Teilung Berlins haben wir lange gehofft, zuletzt aber kaum noch daran geglaubt.

Wir freuen uns über die nun wieder möglichen Kontakte zu alten Freunden und Verwandten. Und die Möglichkeiten, nach und nach auch die Länder und Menschen in Westeuropa kennenlernen zu können.

 

 

 

 

     

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. IM HEIMATLICHEN NEST

 

Der Ort meiner Kindheit heißt Geithain. Du kennst ihn nicht? Nun, dann will ich versuchen, ihn kurz zu beschreiben.

Geithain ist eine über 800 Jahre alte Stadt. Sie wurde auf einem Hügel im Erzgebirgsvorland angelegt, der sich in westöstlicher Richtung erstreckt. Der Stadtkern ist von einer mittelalterlichen Festungsmauer umgeben, die noch fast vollständig erhalten ist. Sie umschließt ein etwa 1 km langes und 300 m breites Gebiet.

 

Vom Osten führt die Dresdener Straße in die Stadt hinein; an der Stelle, wo bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts das obere Stadttor stand. Sie trifft auf eine kurze Querstraße, die die Weiterfahrt geradeaus versperrt und auf zwei ungefähr parallele Straßen führt, die von der Oberstadt über den Markt und durch die Unterstadt verlaufen. Vor der Stadtmauer vereinigen sie sich wieder und führen als Altenburger Straße durch das gut erhaltene untere Stadttor hinaus.

 

Wegen der lang gestreckten Form heißt es in einem alt überlieferten Vers: "Geithen hat zwei lange Seiten, in der Mitte 'nen großen Plan. Vorn und hinten hängt nichts dran." Inzwischen hängt nun vorn und hinten, rechts und links eine Menge dran. Aber darüber später.

Übrigens besteht eine bemerkenswerte Ähnlichkeit in Form und Größe des Stadtkerns von Geithain und der Keimzelle Berlins: der Spreeinsel. Diese allerdings wurde erst 160 Jahre später als Geithain besiedelt. So wie Berlin erst 28 Jahre nach Geithain als Stadt erstmalig urkundlich erwähnt wurde.

Die Straßen der Innenstadt Geithains werden überwiegend von zweistöckigen Häusern gesäumt. Die nördliche der erwähnten parallelen Straßen heißt in der Oberstadt Katharinenstraße. Auf halbem Weg zwischen Querstraße und Markt liegt an ihr der Katharinenplatz, auf dem früher die St. Katharinenkirche stand, bis sie 1670 einer Feuersbrunst zum Opfer fiel.

Am Katharinenplatz wohnte in den 20er Jahren Frau Wünsch, die Hebamme. Sie hat vielen der damals in der Stadt geborenen Babys ins Leben geholfen. Nur in komplizierten Fällen wurde früher ein Arzt gerufen oder das Krankenhaus zur Entbindung aufgesucht, das sich 18 km entfernt in der Kreisstadt Borna befand.

1926 wurde Frau Wünsch auch in mein Geburtshaus gerufen, das sich etwa in der Mitte zwischen Querstraße und Katharinenplatz befand (es wurde 1993 durch einen Neubau ersetzt). Der Stadtsekretär Arno Börner und seine Ehefrau Ella konnten die Geburt eines gesunden Stammhalters bekannt geben.

Dessen früheste Erinnerung reicht bis zu einem eisernen, innen mit Stoff ausgekleideten Kinderbett. Es hatte an den Längsseiten Gitter, die hochgeklappt wurden, damit weder das Söhnchen noch sein gelber Teddybär herausfallen konnten. Und der erste Vers, den ich im Leben von Mutter lernte, war ein Abendgebet: "Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!"

Wir wohnten im Erdgeschoss des Hauses der Eltern meiner Mutter.Im ersten Stock wohnten Großvater und Großmutter. Während Mutter in der Küche die Hausarbeit verrichtete, übte ich mich an dem ersten Spielzeug. Da war ein Kasten mit verschieden geformten Holzklötzchen, aus denen die Phantasie Häuser, Wagen, Türme und warum nicht auch Tiere entstehen ließ. Ein Feuerwehrauto mit Drehleiter, ein Paar Handpuppen fürs Kaspertheater und das erste Bilderbuch: "Des Jahres Freuden". Es enthielt für jeden Monat ein schönes Bild in der Art Ludwig Richters und viele Kinderverse.

 

In den folgenden Jahren kam – jeweils an den Geburtstagen und zu Weihnachten – noch manches Schöne dazu: eine Ritterburg, eine Eisenbahn mit einem Kreis Schienen, einer Lokomotive mit Federwerk sowie einem Gepäck- und zwei Personenwagen. Damit beschäftigte ich mich unter dem Küchentisch. Dann hatte ich einen flachen Kasten mit 16 Würfeln, die mit Glanzbildern beklebt waren. Daraus konnte man 6 Märchenbilder zusammensetzen. Und eine Laterna Magica mit Glasdias: Märchenszenen, die man mit einer kleinen Petroleumflamme als Lichtquelle an die Wand projizieren konnte.

Später bekam ich eine Dampfmaschine mi Spiritusheizung, die er eine Transmission eine Anzahl Figuren antrieb: eine Windmühle, einen Schmiedehammer, drei kleine Kähne in einem Teich und einen Farbkreisel. Als ich etwas größer war, kam auch noch ein Metallbaukasten hinzu. Die damaligen Spielsachen waren meist handgefertigt, verhältnismäßig teuer, aber dafür auch ziemlich haltbar. Mein Schaukelpferd, aus Holz geschnitzt und mit echtem Pferdefell überzogen, mit Zaumzeug und Sattel, ist noch heute bereit zur Benutzung in der vierten Generation.

Bald konnte ich meine Spiele auch in den Hausgarten verlegen, etwa Dreirad fahren, mit einem Stock einen Reifen treiben oder mit einer Peitsche den Kreisel drehen lassen. Gern ging ich mit meinen Eltern die Verwandten besuchen, die im gleichen Ort wohnten. Die Großeltern mütterlicherseits wohnten in einer Dienstwohnung im Rathaus, weil Großvater Ernst dort als Hausmeister angestellt war. Bei ihnen wohnte auch Mutters noch unverheiratete Schwester Gerda.

Oder wir gingen zu den Eltern meines Vaters. Ihr Haus lag in der Grimmaischen Straße, die gleich hinter dem unteren Stadttor von der Altenburger Straße abzweigte. Großvater Max war Landbriefträger. Im Winter trug er eine schwarze Pelerine als Dienstkleidung. Etwas weiter die Grimmaische Straße hinauf, dem Emaillierwerk gegenüber, wohnten Mutters Bruder Kurt, der Malermeister, seine Frau, Tante Hedwig, die ein Lebensmittelgeschäft unterhielt, und mein 8 Jahre älterer Cousin Rolf.

Vaters jüngerer Bruder Arthur hatte in der Katharinenstraße, nur etwa 100 Meter von uns entfernt, die Gaststätte "Zum Pulverturm" gepachtet. Seine Frau Elli waltete da in der Küche. Und ich hatte dort noch zwei Cousins, die 2 und 4 Jahre jünger als ich waren.

Es war üblich, dass meine Eltern mit mir Spaziergänge in die Umgebung Geithains unternahmen. Zuerst im Kinderwagen und im Winter auf dem Schlitten, später zu Fuß. Vater war sportlich trainiert. Er hatte in der Geithainer Fußballmannschaft gespielt. Ich erinnere mich, dass er mich einmal auf dem Schlitten im Dauerlauf bis zu seinen Eltern, circa einen Kilometer, und auch wieder bergaufwärts zurück hinter sich hergezogen hat.

Sonntagswanderungen machten wir durch den nahen Königsfelder oder Ottenhainer Wald, zur Streitlinde und über Königsfeld – Köttwitsch – Stollsdorf oder nach Bruchheim – Ossa – zu den Hegeteichen. Oft auch mit befreundeten Familien. Zu Pfingsten wurden Frühpartien unternommen, längere Wanderungen. Etwa zum Rochlitzer Berg, nach Wechselburg ins Muldental oder ins Kohrener Ländchen, 15 bis 20 Kilometer weit. Solche Wanderungen, auf denen es immer allerhand Neues kennenzulernen gab, gefielen mir sehr. Bei Gelegenheit versuchte ich auch schon als Kind, Ausflüge auf eigene Faust zu unternehmen.

Da gab es einen Bäcker aus Niedergräfenhain, der jede Woche mehrmals frischgebackene Brote mit einem Pferdewagen frei Haus nach Geithain lieferte. Die Tür zu seinem Laderaum öffnete sich nach hinten und darunter war ein Trittbrett angebracht. Als dieser Brotwagen einmal auf dem Heimweg durch die Katharinenstraße fuhr, setzte ich mich auf das Trittbrett und reiste als blinder Passagier mit bis in die Unterstadt. Ich war etwa drei Jahre alt. Es war Vorweihnachtszeit und in Mahns Eisenwarenladen war eine interessante Spielzeugausstellung. Dort stieg ich ab und ging hinein, um mir alles genau und lange anzusehen. Bekannte haben mich entdeckt und meine Eltern informiert, die mich schon suchten. Mein Vater holte mich heim und erklärte mir nachdrücklich, dass solche Eigenmächtigkeiten fehl am Platze seien.

Trotzdem habe ich im folgenden Jahr noch einmal einen fragwürdigen Ausflug unternommen. Diesmal fuhren Zigeunerwagen aus der Stadt hinaus in Richtung Rochlitz. Auf so einen Wagen hatte ich mich hinten gesetzt. Gott sei Dank kennen sich in einem kleinen Ort wie Geithain die meisten Leute. Und so fiel ich bei der Ausfahrt durch die Dresdener Straße jemandem auf, der bei meinem Vater nachfragte, ob denn das mit meinem Ausflug in Ordnung ginge. Der setzte sich sofort aufs Fahrrad und holte die Zigeunerwagen etwa nach vier Kilometern, kurz von Königsfeld, ein. So wurde ich davor bewahrt, ein Zigeuner zu werden.

Mit dem Älterwerden nahm ich den Alltag und die Arbeit im Haus bewusster auf. Um sich das damalige häusliche Dasein vorzustellen, muss man sich vor allem die Elektrizität im Haushalt und alle damit betriebenen Geräte wegdenken. Die Räume wurden wie die Straßen mit Gaslampen beleuchtet. Für die gemütliche Plauderstunde an den Winterabenden wurde gern eine Petroleumlampe angezündet. Gekocht wurde auf dem Küchenherd oder Gaskocher. Zwischen den Kohlen im Küchenherd wurde auch ein eiserner Einsatz für das Bügeleisen auf Gluthitze gebracht.

Für die Wäsche gab es einen Kohle-Kochkessel im Waschhaus. Sie wurde auf dem Waschbrett von Hand gerubbelt und ausgewrungen, im Wäschekorb mit dem Handwagen vor die Stadtmauer auf den Bleichplatz gefahren und dort in der Sonne auf dem Rasen ausgebreitet und hin und wieder mit sauberem Wasser aus der Schwengelpumpe mit der Gießkanne begossen. Danach wurden die Wäschestücke zum Trocknen auf die Leine gehängt. Ein volles Tagesprogramm für die Hausfrau.

Sonnabends wurde gebadet. In einer Zinkbadewanne, die dafür aus dem Waschhaus geholt und mit heißem Wasser aus Töpfen vom Küchenherd, gemischt mit Kaltwasser, gefüllt wurde. Nach dem Bade musste sie wieder ausgeschöpft werden. Danach war es nötig, den Küchenboden trocken zu wischen.

Das Sauberhalten der Wohnung, Betten bauen, tägliches Einkaufen gehen, Essen machen und die Mitarbeit in Großmutters Damenschneiderei gehörte zur Alltagsarbeit meiner Mutter. Männerarbeiten waren: Die Gartenpflege, Holz hacken, Reparaturen am und im Haus und die Feldarbeit auf der Pachtparzelle unterhalb der Stadtmauer, wo Obst und Gemüse sowie schöne Blumen angebaut wurden. Das Feld wurde regelmäßig mit Jauche aus dem Außenklosett, das sich hinter dem Wohnhaus befand, gedüngt. Sie wurde in einem Fass mit dem Handwagen zur Parzelle gefahren.

Die wesentlich größere Jauchengrube im Rathaus wurde von Zeit zu Zeit von einem Bauern leergepumpt in ein großes Fass, das zwei Pferde auf sein Feld fuhren. Als dieses Fass einmal gefüllt auf dem Hof hinter dem Rathaus stand, habe ich in einem Eigenversuch den Mechanismus seines Verschlusses erforscht. In einem ziemlich neuen, hellblauen Samtanzug habe ich mich darunter gestellt und den Hebel nach oben umgelegt. Der Sprüheffekt funktionierte perfekt. Ich wurde daraufhin längere Zeit in der Badewanne behandelt. Der Anzug war nicht mehr zu retten.

Vater hielt einen Stamm Lachshühner. Im Garten seiner Eltern, zusammen mit deren Federvieh. Zucht und Pflege waren seine Liebhaberei und frische Eier, die er uns mitbrachte, sein Lohn. Sein Bruder, der Gastwirt, schlachtete wöchentlich, um den Gästen stets frische Wurst- und Fleischwaren anbieten zu können. Dabei hat mein Vater oft geholfen. Und wir konnten daher gelegentlich eine gute Wurstbrühsuppe oder frisches Wellfleisch kosten.

Bevor meine Eltern in das Haus der Großeltern einzogen, hatten dort unsere betagte Nenntante Minna und ihre Tochter Hedwig gewohnt. Sie zogen damals in ein Haus am Katharinenplatz und blieben uns freundschaftlich verbunden. Die Tochter war in meiner Kinderzeit schon hoch in die Fünfzig. Sie ist mir in guter, dankbarer Erinnerung. Sie war alleinstehend und hat viele Jahre bis zu ihrer Berentung in Leipzig bei der Konfektionsfirma Mai & Edlich gearbeitet. Dort wurden die steifen weißen Kragen hergestellt, die sich die besseren Herren in das Oberhemd einknöpften. Sie wurden auch "Vatermörder" genannt. Täglich fuhr Tante Hedwig sehr früh mit der Eisenbahn dorthin auf Arbeit und kam abends zurück. Sonnabends wurde bis mittags gearbeitet. Da kam sie schon am Nachmittag heim. Und sie brachte mir jeden Sonnabend aus einem Leipziger Kaufhaus ein neues Heft des "Papagei" oder des "Schmetterling" mit. Das waren bunte, lustige Kinderzeitschriften, auf die ich stets gespannt wartete. Nachdem Tante Hedwig i Rente gegangen war, nahm sie ein Pflegekind, Edeltraut, das bisher von einer mit ihr im gleichen Haus wohnenden Familie betreut worden war, bei sich auf. Sie teilte ihre kleine Zweizimmerwohnung und ihre Rente mit dem Mädchen, dem sie ihre ganze Liebe schenkte, obwohl es ihr die Gute, wie sie ihren Pflegling nannte, nicht immer leicht machte. Im vorigen Jahr las ich eine Traueranzeige, in der sich von der nun verstorbenen Edeltraut deren drei Kinder samt Ehegatten und alle Enkelkinder in Liebe und Dankbarkeit verabschieden. Tante Hedwigs aufopferungsvolle Zuneigung hat also reiche Früchte getragen.

Um mich nützlich zu machen, holte ich in einem kleinen Körbchen, mit gesticktem Deckchen drauf, frische Brötchen bei der Bäckersfrau Otto. In der Vorweihnachtszeit sang sie mir täglich vor: "... mal werden wir noch wach, heißa, dann ist Weihnachtstag."

Ein paar Häuser von uns entfernt wohnte die liebe Tante Liska, eine mit ihrer Mutter lebende Damenschneiderin. In der Adventszeit stellte sie die einst von ihrem Vater gebaute große Weihnachtspyramide in ihrem Zimmer auf. Viele Etagen mit geschnitzten Figuren, bis hinauf fast zur Zimmerdecke, drehten sich, wenn die Wachskerzen angezündet wurden und das Flügelrad antrieben. Und wir Kinder aus der Nachbarschaft durften an ihrer Freude teilhaben.

Den Weihnachtsmann sah ich zum ersten Mal an einem Heilig Abend bei den Großeltern im Rathaus. Dem Großvater, der währenddessen zufällig gerade nicht im Zimmer gewesen war, berichtete ich aufgeregt: "Der hatte beinahe dieselben Schuhe an, wie Du!“ Weitere Schlüsse zog ich aber nicht.

An einem Gründonnerstag morgen einige Jahre später erwachte ich und wollte natürlich gleich wissen, ob mir der Osterhase etwas im Garten versteckt hätte. Ich brauchte nur die Gardine aufzuziehen und hinunter zu schauen. Aber ich sah meine liebe Mutter beim Verstecken von Osternestern! – Da habe ich vor Enttäuschung herzzerreißend geheult.

Sonntags vormittags ging ich manchmal zum Kindergottesdienst in den Betsaal im Hof der Gaststätte "Garküche". Dort hörte ich zum ersten Mal die frommen, alten Geschichten aus der Bibel, die Gleichnisse und ihre Erklärungen, die Zehn Gebote, das Vater Unser und die Weihnachtsgeschichte.

Hin und wieder hatte Großvater Ernst etwas in Leipzig zu besorgen. Er brachte dann gelegentlich als Geschenk für Großmutter und die Familie eine neue Schallplatte mit. Dann wurde das Grammofon aufgezogen, eine Nadel in die Schalldose eingesetzt, der Schalltrichter aufgestellt und der Musik gelauscht.

In der Gaststätte "Zur Linde" neben der Wickershainer Kirche sollte 1925 etwas ganz Neues vorgestellt werden: die drahtlose Rundfunkübertragung. Auch meine Eltern wollten sich das ansehen und anhören. Eine Anzahl von Empfängern mit Kopfhörern war dafür aufgestellt worden. Aber leider hatte an dem Abend der Vorführung der Sender eine Störung. Deshalb war außer Rauschen in den Hörern nichts zu empfangen.

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