Marina Kramper: Seelensurfer, 230 S.

19,98
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Ein modernes Märchen aus der Welt des Surfsports
 
Tara, eine junge Hamburgerin, verliebt sich nach einer großen Enttäuschung und der folgenden Flucht nach Fuerteventura in Luke. Sie denkt, er sei ein mitteloser Surfer und ahnt nicht, dass er eine Firma für Surfboards leitet. In einer turbulenten Folge von Verwechselungen glaubt sie, ihr surfender Liebhaber hätte sie an einen Surfboardfabrikanten weitergereicht, um so sein unabhängiges Surferleben zu finanzieren. 
 
Erst als Luke ohne ihr Wissen ihre neu aufgenommene DVD „Yoga für Surfer“ sponsert, kommen sie sich wieder näher ... 
 
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Die Autorin: Marina Kramper, geboren 1957, arbeitet als freiberufliche Journalistin für Reise, Auto und Sport (u.a. stern.de, Brigitte Balance etc.). Außerdem gibt sie Sportunterricht an einer Hamburger Waldorf-Sonderschule für verhaltensauffällige Kinder. Sie lebt mit Mann, Hund und zwei erwachsenen Söhnen in Hamburg. 
 
Marina Kramper: Seelensurfer, 230 S., € 19,98, ISBN 978-3-86992-119-8
 
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Leseprobe:
 

1. Das Gespräch

„Das Essen schmeckt wunderbar und der Rotwein passt ganz ausgezeichnet.“ Tara schenkte dem Ober ein gezwungenes Lächeln und senkte ihren Blick wieder in ihr Lammfilet in Balsamico-Rosmarin-Sauce. Eigentlich war es ihr verhasst, aufgesetzte, gut gelaunte und platte Sprüche über Esskultur von sich zu geben. Aber was konnte schließlich der arme Kellner dafür, dass sie sich heute Abend so richtig mies fühlte. „Was mache ich hier eigentlich?“, fuhr es Tara durch den Kopf. Sie war wütend, sie war verletzt und sie fühlte sich unendlich gedemütigt.

Wenn sie das täte, wonach ihr zumute war, würden die Lammfilets mit Schmackes an der Designerwand landen. Wütend würde sie zuschauen, wie diese dort kleben blieben und langsam unter den staunenden Blicken der Gäste und des Servicepersonals auf einer Soßenspur in die Tiefe rutschten. Und der Rotwein. Der würde sich über den hübschen Kopf ihres Tischnachbarn ergießen. Der Mann mit dem hübschen Kopf, der Taras Meinung nach die Dusche im teuren Rotwein mehr als verdient hatte, war ihr Freund und Lebensgefährte Alexander. Tara ließ trotz aller Wut den Wein in den Pokalen, und auch die Filets blieben artig auf ihrem Teller. Alexander hatte ihr schon mehrfach zu verstehen gegeben, dass er ihre Gefühlsausbrüche nicht schätzte. „Du bist in allem, was du tust, viel zu emotional“, war einer seiner Begleitsprüche. „Kunststück!“, dachte Tara dann, „wer keine Gefühle hat, kann sie auch nicht raus-lassen!“

Der Abend war nur die Spitze des Eisberges gewesen, die restlichen schmerzhaften Eisbergereignisse schwammen noch in den Tiefen ihrer Erinnerung herum. Tara wäre es am liebsten, wenn sie von dort aus direkt mit irgendeiner Meeresströmung in Richtung Nordpol verschwinden würden. Doch sie taten ihr nicht den Gefallen. Das Wochenende war derart desaströs verlaufen, Tara hatte ab sofort eine klare Vorstellung, was man unter „Life changing“, lebensverändernde Ereignisse, verstand. „Eines ist mal ganz sicher“, dachte sie, während sie lustlos und traurig auf ihrem Teller herum pickte, „so konnte und würde ihr Leben nicht weiter gehen.“ Nur in welche Richtung es gehen sollte, das wusste sie jetzt und in diesem Moment ganz und gar nicht.

Sie waren, wie so oft am Sonntagnachmittag, miteinander an der Elbe spazieren gegangen. Tara hatte Alexander gefragt, wie er es fände, wenn sie ein Kind bekämen und dann sie, Alexander und das Kind zusammen eine Familie wären. Mit dem, was dann kam, hatte Tara in ihren schlimmsten Albträumen nicht gerechnet. Alexanders bekam einen Wutausbruch, der einem Feuer speienden Drachen alle Ehre gemacht hätte. Er war richtig sauer geworden. Tara fragte sich, ob es wirklich ihr selbstbeherrschter Alexander war, der hier Gift und Galle spie. Alexander hatte ihr unverblümt mitgeteilt, dass er keine Kinder mit ihr haben wollte, dass er überhaupt nicht daran dachte, mit ihr eine Familie zu gründen. Tara konnte kaum glauben, was er da sagte, mit welcher Kälte und Wut er es sagte. Sie dachte, sie träumte seine Worte nur, träumte alles, was dermaßen schmerzhaft geschah. Ihre Kehle war augenblicklich bis oben zugeschnürt, und ihr Bauch fühlte sich an, als würden rote Lavaströme im Sog eines Mahlstromes rotieren. Ihre Augen brannten vor geweinten und ungeweinten Tränen und eine eisgraue Kälte kroch über ihr Rückgrat vom Steißbein bis nach oben zu den Schulterblättern.

Jetzt, wo sie erneut daran dachte, zitterten ihre Hände immer noch und ihre Gedanken fühlten sich so taub an, als hätten sie ihr Haltbarkeitsdatum weit überschritten.

Es war einfach nur ungerecht. Alles war ungerecht. Alles, einfach alles. Aber am ungerechtesten waren die Anschuldigungen, die Alexander gemacht hatte. Sie würde zu wenig Geld verdienen, hatte er ihr vorgeworfen. Er würde sich, sollten sie denn eine Familie haben, finanziell um alles kümmern müssen, während sie mit einem Halbtagsjob für ihr Vergnügen sorgte. Taras sogenannter Halbtagsjob war eine halbe Stelle als Sportlehrerin an einem Hamburger Gymnasium. Die Stelle war so, als halbe Stelle eben, ausgeschrieben gewesen, und Tara hatte sie angenommen. Da sie nicht von der Arbeit in der Schule allein leben konnte, verdiente sie ihr Geld zusätzlich als Übersetzerin für Französisch und Englisch. Dummerweise hatte sie ihren zweiten Job, den Dolmetscherjob in einer großen Hamburger Firma, verloren, wurde vor einem Monat vor die Tür gesetzt. „Betriebsbedingte Kündigung“ nannte es sich. Die Finanzkrise hatte zugeschlagen und bei ihr ganz persönlich an die Haustür geklopft. Aber sie brauchte das Geld und sie wollte die Arbeit, wollte das Gefühl, arbeiten zu können. Sie war über die Kündigung unendlich traurig.

Seit drei Jahren waren Tara und Alexander ein Paar. Trotzdem hatten sie all die Jahre über zwei getrennte Wohnungen behalten. Vor allem Alexander war es wichtig gewesen.

Natürlich lagen in Alexanders Wohnung ein paar persönliche Sachen von ihr. Zahnbürste, Schlafanzüge, Gesichtscremes, Unterhosen, Tampons, was man halt so braucht. Sie verbrachten vor allem die Wochenenden miteinander. Spielten Tennis, gingen laufen, ins Kino, auf Partys. Das klassische Programm für ein Paar ohne Kinder. Sie waren fast jeden Freitag und Samstag unterwegs. Aber zu einer gemeinsamen Wohnung war es irgendwie nie gekommen.

Alexander hatte das „Gehrock“ an diesem emotional verhagelten Sonntagabend vorgeschlagen, um Tara auf andere Gedanken zu bringen, um sie vielleicht sogar aufzuheitern. Tara wusste das und doch schien ihr die Geste zu durchsichtig, zu nichtssagend. So schnell konnte sie die Ereignisse des vergangenen Tages nicht vergessen. Ihr Blick war so trübe, als würden sie ihre Mahlzeit nicht im Sternerestaurant, sondern in einem dunklen Kohlenkeller zu sich nehmen.

Das „Gehrock“ war, sah man von diesem Abend mal ab, eines ihrer Lieblingsrestaurants im Hamburger Szeneviertel Eppendorf. Der Laden hatte sich durch eine herausragende Kritik in einer Gourmetzeitschrift zu einer festen Größe am Hamburger Restauranthimmel etabliert. Wenn man hier essen gehen wollte, so sollte man als Nicht-Eingeweihter einen langen Atem besitzen. Alexander war ein Eingeweihter. Er zählte zu den Günstlingen des Küchenchefs. Sternekoch und Besitzer Sven Gehrock und ihr „Liebster“ Alexander spielten gemeinsam in einer Tennismannschaft der Altersgruppe „Herren 30“. Alle acht Mitspieler standen mitten im Berufsleben. Also reichten ihre sportlichen Ambitionen nur für die Bezirksliga, aber auch da musste man einige Male den Ball übers Netz befördern, bis es hieß: Spiel, Satz und Sieg. Soviel gemeinsam durchlebter Schweiß und Leid auf und abseits des Spielfeldes verbindet, und Alexander hatte sich seinen Stammplatz im „Gehrock“ mit gutem Topspin und gefühlvollem Rückhandslice fest erspielt.

Tara zerfleischte sich seit dieser Kündigung schon genug. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, hatte sich mit Schuldgefühlen verrückt gemacht. Obwohl das Wort „Finanzkrise“ in allen Medien immer und immer wieder thematisiert worden war, hatte sie es sich persönlich angekreidet, es als persönliches Versagen empfunden, als sie den Job verlor. Ihre Familie und ihre Freunde versuchten, sie davon zu überzeugen, dass sie alles richtig gemacht hatte, dass die Kündigung nichts mit ihr zu tun hatte, nicht von ihren Fähigkeiten oder Leistungen abhing. Inzwischen glaubte sie schon fast selbst daran: Sie hatte keine Schuld an der Kündigung. Es war einfach gottverdammtes Pech. Umso ungerechter war dieser Streit mit Alexander gewesen. Er riss ihr mühsam aufgebautes Gebäude von positiven Argumenten ein wie ein dünnes Spinnennetz.

„Du bist viel zu sprunghaft, nicht strukturiert genug für eine Familie. Du kannst ja nicht mal auf eigenen Beinen stehen und du würdest die Verantwortung für eine Familie voll und ganz auf mich abladen“, waren Alexanders Worte. „Und der Verlust an materieller Sicherheit, all die Einschränkungen“, so Alexander. „Das ist in keinem Fall meine Vorstellung von einem glücklichen Leben.“

Taras Tränen liefen unkontrolliert über beide Wangen, als sie schüchtern einwand: „Aber Kinder sind doch auch etwas sehr schönes. Willst du wirklich alt werden und als einzige Erinnerung auf deine Sammlung von Tennispokalen schauen?“

Taras Blick fiel auf die dunkelbraunen Sitzbänke, die aus glatt poliertem abgesteppten Leder waren und aussahen wie Chesterfield Clubsessel. Der Rest des modernen großen Raumes wirkte nicht annähernd so gemütlich wie die Lederbänke. Gebürsteter grauer Stahl und grün gefärbte Milchglasscheiben erinnerten eher an die Räume einer Werbeagentur, als an ein Gourmetrestaurant. „Aber vielleicht ist das ja der Trick“, dachte Tara mit Galgenhumor. „Es sieht genauso aus wie das Büro, in dem man den ganzen Tag hinter dem Rechner hockt. Niemand spürt den Übergang.“ Statt der Tastatur lag ein Teller samt Besteck auf dem Tisch und man musste nur aufpassen, dass man statt mit den Fingern mit Messer und Gabel in das Geschehen eingriff. Tara wusste, dass sie heute und mit dieser finsteren Laune kein gutes Haar an ihrer Umgebung lassen würde.

Eigentlich wusste Tara gar nicht, warum sie Alexanders Einladung überhaupt angenommen hatte. Sie fühlte sich unendlich verletzt und war Alexanders betont gute Laune einfach nur leid. Und diese sinnentleerten und durchgeplanten Wochenendrituale, die organisiert waren, als wären sie von einer Lifestylezeitschrift zusammengestellt, gleich oben drauf! Aber das Schlimmste war Alexanders Zurückweisung gewesen. Sie hatte sich ihm geöffnet, ihm ihre Liebe für die Ewigkeit, ihre Bereitschaft für eine gemeinsame Familie angeboten. Und er? Er hatte sie und ihre Wünsche zurückgewiesen, als hätte sie ihm statt einer Familie ein Stück gammeliges Fleisch angeboten. Aber das Beste an der ganzen Geschichte war: Alexander gab ihr die Schuld daran, dass er keine Familie wollte.

Tara schob die Ärmel ihres französischen Armeeparkas, dem eine findige Designerin ein großes, rotbuntes Kreuz in bestem Katholenkitsch auf den Rücken gestickt hatte, über die Ellbogen und zog sich eine Haarkralle aus der Parkatasche. Mit einer entschlossenen Geste packte sie ihr wuscheliges dunkles Haar, drehte es im Nacken zu einer Rolle zusammen und steckte es hoch. Alexander betrachtete die ihm vertrauten Gesten mit zusammengekniffenen Brauen. Auch ihm stand das vergangene Wochenende noch vor seinem inneren Auge und auch ihm war klar, es gab wenig Anlass für ein heiteres, leichtes Abendessen. Und zu einer angeregten Plauderei über Filme, Bücher, Politik und Philosophie würde Tara sich heute auch nicht eignen. Er wusste, was er Tara vor ein paar Stunden gesagt hatte, würde er nicht mehr zurücknehmen können. Und genau genommen meinte er es genau so, wie er es gesagt hatte. Er wollte es nicht zurücknehmen. Er würde die nächsten Wochen versuchen, den Ball flach zu halten, und er würde das Entschuldigungsprogramm fahren. Blumen, tiefe Blicke, kleine Geschenke. Er liebte Tara. Irgendwie und auf seine Weise. Und was die komische Idee mit der Familie betraf. Alexander war sich sicher, wenn er die nächsten Wochen ein bisschen nett und aufmerksam blieb, würde Tara das unsägliche Gespräch irgendwann vergessen.

 

2. Taras Geschichte

Tara und Alexander hatten sich in ihrem Tennisverein kennengelernt. Tara war, als sie die Arbeit an dem Gymnasium begann, aus dem Süden Hamburgs fort und näher ins Zentrum gezogen. Ihr alter Club lag jenseits der Elbe, und sie musste sich jedes Mal durch den verstopften Elbtunnel quälen, um auf die andere Seite zum Training oder zu Spielen zu fahren. Irgendwann hatte es ihr gereicht. Mit einer Party verabschiedete sie sich von ihrer Mannschaft und wechselte in einen kleinen Verein in der Nähe ihrer neuen Wohnung. Sie spielte im Jahrgang „Damen 30“. Älter als dreißig, sogar viel älter, durfte man sein. Jünger nicht. Ihre neue Mannschaft machte ihr den Wechsel leicht. Es gab nicht so viele Spielerinnen, die auch bereit waren, aktiv an den Medenspielen, den Turnieren zwischen den Tennismannschaften der Vereine, teilzunehmen.

Tara hatte Alexander eines Tages Tennis spielen sehen und sich sofort in seine „Vorhand Longline“ verliebt. „Die ist ja scharf wie eine Waffe“, zischte sie ihrer Mannschaftskollegin zu und blieb am Platz stehen, um weiter zu zusehen. Alexander sah sie aus den Augenwinkeln am Rand stehen, verschlug einen Ball und brauchte einige Schläge, um sich wieder auf das Spiel konzentrieren zu können. Er gewann dennoch.

„Du bringst mir Glück“, hatte er damals gesagt und sie zu einem Bier im Vereinslokal eingeladen. Von dem Tag an waren sie ein Paar. Für Tara war es nahezu unmöglich, gegen Alexander zu gewinnen, aber er war ein exzellenter Trainingspartner für sie.

Sie spielten, wenn sie nicht irgendwohin wegfuhren, jeden Samstag gegeneinander, tranken hinterher eine Apfelschorle oder ein Bier und quatschten eine Weile mit anderen Clubmitgliedern, bevor sie sich wieder auf den Weg machten.

So gingen die Jahre dahin und jeder im Tennisverein, in ihrem Freundeskreis und alle Verwandten waren der Meinung, Tara und Alexander wären so was wie „Mann und Frau“. Auch Tara hatte das bis gestern geglaubt.

„Vor ein paar Tagen hat er mir noch erklärt, dass er meine Verrücktheiten, meine ‚Eulenspiegelnatur’, wie er es nennt, über alles schätzt!“ Tara suchte Trost im Gespräch mit ihrer Freundin und Mitbewohnerin Maxi. Sie musste mit jemandem über die vergangenen Ereignisse sprechen, sonst, so hatte sie das Gefühl, würde sie platzen.

„Aber er versteht das irgendwie anders als ich. Er hält mich für einen lebensuntüchtigen Kasper!“

Maxi musste lachen. „Und du dachtest die ganze Zeit, du wärst die liebe Gretel.“

„Wofür braucht man Feinde, wenn man Freunde hat, wie dich“, heulte Tara und Maxi nahm sie tröstend in den Arm.

 

 Tara und Maxi waren nicht nur Freundinnen, sie arbeiteten auch zusammen. In Altona teilten sich eine vier Zimmer Wohnung. Maxi gab den Kunstunterricht an ihrer Schule und verliebte sich überwiegend in Frauen. Als zweites Alleinstellungsmerkmal neben ihrer Bisexualität hatte sie einen untrüglichen Sinn für coole Wohnungs-einrichtungen. Was immer Maxi in ihren geschickten Fingern herumdrehte, hinterher sah es aus, als wäre es eine Installation, und ihre Wohnung glich einer Galerie. Maxi und Tara ergänzten sich großartig. Tara schätzte an Maxi, dass sie so anders war als viele andere Frauen aus ihrem Bekanntenkreis. Sie war weder zickig, noch spielte sie sich prinzessinnenmäßig in den Mittelpunkt. Stutenbissigkeit gab es nicht in ihrem Vokabular. In Maxi vereinte sich die Sensibilität einer Frau mit der Sachbezogenheit und Direkt-heit ihrer männlicheren Seite aufs Eleganteste. Tara hatte Homophobie noch nie verstanden, sie nahm grundsätzlich jeden Menschen so, wie er vor ihr stand. Wer war sie denn, anderer Leute Leben und Vorlieben zu beurteilen? Sollte doch jeder so glücklich werden, wie er oder sie es für richtig hielten! Solange jeder der Beteiligten damit glück-lich war.

Auch in ihrer Arbeit in der Schule ging es darum, ein Kind nicht irgendwelchen Vorstellungen zu unterwerfen. Vorurteilsfreiheit und Liebe zu den Kindern gehörten einfach dazu. Lehrer, die Lieblinge hatten, oder Schüler, aus was für Gründen auch immer, ablehnten, hatten ihrer Meinung nach schlichtweg ihren Beruf verfehlt. Und Maxi erschien ihr gerade, weil sie anders war, ein so wunderbarer und spezieller Mensch zu sein, dass sie es sich überhaupt nicht erklären konnte, was engstirnige Menschen daran zu kritisieren hatten. Maxi war für Tara die ideale Freundin. Nicht mehr und nicht weniger. Anfangs hatten einige Kollegen aus der Schule ihre Witzchen über das sportliche „Paar“ gemacht, aber Tara und Maxi gingen mit ihrer Freundschaft und unterschiedlichen sexuellen Orientierung so offen um, dass sich schließlich das ganze Kollegium gerne bei Partys um ihren Küchentisch versammelte.

Sport und ihre Arbeit als Sportlehrerin war für Tara ein Teil ihrer Lebensphilosophie.

Tara glaubte fest daran, dass Sport ein Allheilmittel für das Leben an sich sei und deshalb in keinem guten Haushalt fehlen durfte. Ohne Sport wurde man träge, fett und antriebsarm. Sie wusste instinktiv, dass es für jeden Menschen die passende Sportart gab. Man musste nur lange genug suchen, und jeder fand seinen sportlichen Deckel. So war ihr Sportunterricht von Anfang an kein Abhaken von Übungen gewesen. Sie reagierte darauf, was die Kinder brauchten, und es war ihr wichtig, sie für Bewegung zu begeistern. Wenn einer ihrer Schüler ihr stolz erzählte, dass er am Sonntag mit seinen Eltern im Park drei Kilometer gejoggt sei, konnte sie sich darüber freuen wie ein Kind am Geburtstagsmorgen.

Wie alle Lehrer wusste auch Tara, dass regelmäßige Bewegung heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr war. Die Kids verbrachten immer regelmäßiger viel zu viel Zeit vor Rechnern, Spielkonsolen und Nintendos. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wo diese Entwicklung hinführen würde! Ein erhöhter Zulauf bei Orthopäden, Ärzten und Psychotherapeuten war nur eine Seite der Medaille. Dass Sport auch dazu beitrug, Qualitäten wie Ausdauer, Mut und Spaß zu fördern, stand auf der anderen Seite. Tara wollte ihren Kindern all dies zumindest in kleinen Dosen mit auf den Weg geben.

Tara selbst hatte eine Vorliebe für alles, was mit Bewegung zu tun hatte. Vielleicht nicht gerade für Turm-springen oder Bungee-Jumping. Sie spielte aktiv Tennis, fuhr im Winter Ski, ging hin und wieder reiten, lief ganz gerne und hatte schon so ziemlich alle Gymnastikformen ausprobiert, die der Markt so in die Studios spülte. Vor ein paar Jahren war sie bei Yoga hängen geblieben. Irgendwie spürte sie schon nach der ersten Stunde, dass die Übungen des Yoga nicht nur rein zweckmäßige Körperformbewe-gungen waren. Die Weisheit vergangener Epochen turnte mit, und sie fühlte sich hinterher viel ausgeglichener als nach einer Stunde Stepp Aerobic. Neben der Arbeit hatte sie eine Ausbildung zur Yogalehrerin gemacht. Und sie gab ein paar Stunden in einem Hamburger Studio.

Aber heute half ihr auch das geliebte Yoga nur bedingt aus dem Gefühlstief hinaus. Auch eine Stunde Tennis brachte nicht den gewünschten Erfolg. Ihre Mitspielerin beschwerte sich nur, dass ihr die Bälle so hammerhart um die Ohren flogen, dass es irgendwie auffällig war. „Ärger mit Alexander“, murmelte Tara entschuldigend, und ihre Mitspielerin nickte verständnisvoll.

 

Sie hatte sich gestern Abend nach dem Essen im „Gehrock“ von Alexander nach Hause bringen lassen und bat ihn, nicht mit reinzukommen. „Wir würden uns doch nur streiten.“ Alexander, der Taras Gefühlsausbrüche kannte, verstand auf der Stelle und fuhr davon.

 

Tara überlegte, wie sie die nächsten Wochen überstehen sollte. Sie klappte ihren Laptop auf und überlegte. „Es ist Ende Juni. Das Schuljahr ist gelaufen, die Zeugnisse geschrieben. Alle Tennisspiele in dieser Saison haben wir hinter uns.“

Eigentlich hatten Alexander und sie vor, die ersten zwei Wochen der Sommerferien gemeinsam zu verreisen. Sie wollten mit Alexanders BMW und zwei Mountainbikes runter an den Gardasee.

„Unmöglich“, murmelte Tara. „Ich kann jetzt ganz bestimmt nicht mit ihm in den Urlaub fahren. Ich muss weg. Irgendwohin, wo mich niemand kennt, wo ich nachdenken kann, und wo mich nichts ablenkt.“

„Lassen wir den Zufall entscheiden!“ Tara öffnete Google Earth, gab der Erdkugel vor ihr auf dem Bildschirm einen Schwung und zoomte mit geschlossenen Augen das Bild heran. Eine kleine Insel, die oberhalb einer Inselkette vor der afrikanischen Küste lag, erschien, während sich ihr Bild langsam schärfte, auf ihrem Display. „Fuerteventura“, murmelte sie. „Eine der Kanareninseln und mir vollkom-men unbekannt!“

Sie würde nichts googeln über Fuerteventura, sich nicht schlaumachen, nicht informieren. „Die Insel gehört zu Spanien, das heißt, man spricht mit 99-prozentiger Sicher-heit spanisch. Und Touristen gibt es auch, also wird man sich seine Lebensmittel anders besorgen können als mit Pfeil und Bogen. Das sollten genug Informationen sein!“

Tara öffnete ihr Mailprogramm und schrieb:

 

Lieber Alexander!

Es ist nicht sehr mutig, Dir meinen Entschluss in einer Mail mitzuteilen, aber wie du ja selbst immer sagst, bin ich sehr emotional. Das heißt, wenn wir uns gegenüberstünden, würde ich entweder anfangen zu heulen oder zu streiten. Beides magst du nicht, also bleibt es bei dieser Mail.

Unser Gespräch über Familie und Kinder hat mich verwirbelt wie ein Zyklon. Ich bin aus allem rausgerissen worden und ich kann nicht zurück.

Keine Angst, es gibt jetzt keine Kommentare, keine Urteile. Nur soviel: Mein Vertrauen in unsere Zukunft ist dahin. Wir denken und fühlen zu unterschiedlich. An diesem Punkt unseres Lebens tut sich da ein Graben auf. Entweder einer von uns springt, oder der Graben bleibt.

Ich werde wegfahren und sage dir nicht wohin. Aber du sollst wissen, dass ich alleine reise und über die Zukunft nachdenken will. Was aus uns wird? Ich weiß es jetzt in diesem Moment überhaupt nicht. Vielleicht finde ich die Antwort auf meiner Reise. Du sollst wissen: Ich habe dich geliebt, aber jetzt heißt es für mich auf jeden Fall: „Abschied nehmen“. Bitte versuch nicht, mich anzurufen. Gib uns beiden diese Pause.

Tara.

Nachdem Tara die Mail an Alexander abgeschickt hatte, wanderte sie in die Küche, um sich einen Tee zu kochen. Sie fühlte sich unendlich traurig und auch jetzt schon ein bisschen einsam, schließlich waren Alexander und sie drei Jahre lang zusammen gewesen. Während der Wasserkocher vor sich hinrauschte, holte sie die Kanne, den Tee und ihren Lieblingsbecher mit den Rosen aus dem offenen Regal.

Maxi und sie hatten die Küche, nachdem sie eingezogen waren, umgebaut. Alles, was vorher hier gestanden hatte, war auf den Sperrmüll gewandert. In der Mitte des nahezu quadratischen Raums stand ein runder Holztisch auf einem dicken, säulenartigen Fuß, der unten in vier Tigerkrallen mündete. Drum herum gruppierten sich Stühle, ein Sammelsurium aus verschiedenen Epochen und Stilen. Die Wände waren in einem dunklen Rot gestrichen, die Fensterbänke und der Rahmen dazu in Dunkelgrau. Tara hatte bei einem Tischler unten im Viertel eine riesige alte Buchenholzplatte stehen sehen. Der Tischler hatte sie ihnen so zugesägt, dass sie daraus Regale und eine unsymmetrische Arbeitsplatte bauen konnten. Rund um die Spüle, den Herd und den Kühlschrank wurden die Arbeitsplatten so installiert, dass sie ein Regalsystem bildeten. Oben schloss eine durchgehende Arbeitsplatte ab, und an den Seiten konnten sie in die entstandenen Nischen Töpfe und andere Sachen stellen. Es war ihr gemeinsamer Entwurf gewesen und alle, die in die Küche kamen, lobten begeistert.

An den Wänden hingen gerahmte Werke von Maxi. Abstrakte Gemälde. Grobe Pinselstriche auf durchgearbeitetem Hintergrund. Die Bilder sahen dekorativ und dynamisch aus. Tara fand sie großartig und ermutigte Maxi oft, sich einen Galeristen zu suchen. Maxi nickte dann großmütig. Das hieß soviel wie: Sie hatte wenig Lust, sich auf dem Kunststrich zu prostituieren, aber wenn es sich ergeben sollte, würde sie ihre Werke schon mal ausstellen.

Zischend goss Tara das heiße Wasser in die Teekanne und stellte den Wecker am Herd auf drei Minuten. Während sie auf den Tee wartete, holte sie ihren Koffer aus der Abstellkammer und begann zu packen. Der Wecker klingelte und sie brachte ihren Becher mit Tee und der Milch in ihr Zimmer. „Sommersachen brauche ich, soviel ist klar.“ Ein Badeanzug, Sandalen und ihre Kulturtasche flogen obendrauf. Sie hatte zwar noch keinen Flug, aber der Koffer sollte „Abmarschbereitschaft“ signalisieren. Sie wollte keinen Tag länger in Hamburg bleiben.

Im Flur hörte sie Maxi mit dem Schlüssel hantieren. Die Tür fiel ins Schloss, und ihre Freundin schnaufte vernehmlich, bevor sie ihre Taschen fallen ließ. „Hey, Sweety! Was treibst du so?“

„Ich hab gepackt und weißt Du, wohin ich jetzt reisen werde?“

„Nach Castrop-Rauxel?“

„Was soll ich denn da?“

„Ein Gleichgewicht herstellen zwischen innerer und äußerer Tristesse?“

„Wäre eine Möglichkeit. Aber ich glaube, ich hab was ähnlich Schräges gefunden. Ich hau ab nach Fuerteventura.“

„Fuerteventura!“ Maxi überlegte. „Kanareninsel, gehört zu Spanien, Äquatorialnähe, Tourismus und viele Steine“, spulte sie aus dem Gedächtnis ab.

„Hört sich toll an, genau das Richtige für meine wunde Seele. Und wenn mein Gemüt sich gar nicht erholt, kommst du schnell angeflogen.“

„Um dich zu retten?“

„Wir könnten ein Vermögen damit machen, indem du am Strand Touristen porträtierst.“

„Oh ja, diese Art von Künstler wollte ich immer schon mal sein!“

Tara blinzelte mit den Augen und verschwand wieder in ihrem Zimmer. Auf ihrem Laptop gab sie „Flieg-in-den-Urlaub.de“ ein und suchte Flüge nach Fuerteventura.

Sie buchte den frühesten Hinflug mit verschiebbarem Rückflug für den nächsten Tag. „Wenn schon, denn schon“, murmelte sie und gab die Nummer ihrer Kreditkarte ein.

Am nächsten Morgen brachte Maxi sie mit ihrem Peugeot 307 zum Flughafen. Nachdem Tara sich eingecheckt hatte und ihren Koffer losgeworden war, umarmten sich die beiden Freundinnen zum Abschied.

„Ich wünsche dir, dass du dort all das findest, was du suchst und was du brauchst. Und denk dran: Alles wird gut! Manchmal tut einem das Schicksal erst mal weh, um dann Platz für etwas viel Schöneres und Größeres zu schaffen!“

Tara weinte ein paar Tränen, rieb sich die Hand über die Augen und drückte Maxi ganz fest.

„Falls ich mich nicht sofort melde, mach dir keinen Kopf. Ich will versuchen, nach vorne zu schauen, und na, du weißt schon!“

Maxi nickte verständnisvoll und winkte hinter ihr her, als Tara in der Sicherheitsschleuse verschwand.

 

3. Last-Minute Fuerteventura

Im Flugzeug nach Fuerteventura versuchte Tara, ein bisschen zu schlafen. Der Flug dauerte fast fünf Stunden, und die sollten erst mal gefüllt werden, während sie auf engstem Raum und mit angeklappten Ellenbogen vor sich hin schmorte. Sie erwachte davon, dass die Flugbegleiterin ihr das obligatorische Essenstablett auf das ausgeklappte Tischchen stellte.

Neben ihr saß ein sportlich wirkender Mann Mitte fünfzig in Jeans und Jeanshemd.

„Guten Appetit“, meinte er und begann, seine Pakete aufzureißen. Tara blinzelte mit den Augen und brauchte ein paar Minuten, um wach zu werden. „Waren Sie schon mal auf Fuerteventura“, fragte sie, denn sie hatte das Gefühl, ihr Nachbar wollte ein Gespräch eröffnen.

„Ja, ich bin dort sozusagen Stammgast. Ich hab Freunde dort. Freunde von früher. Ich bin früher leidenschaftlicher Windsurfer gewesen und hab mich in der entsprechenden Szene getummelt.“

„Und? Was machen sie heute?“

„Mein Mountainbike steht unten im Flugzeugbauch. Fuerte ist großartig, um Rad zu fahren. Was haben sie denn vor?“

Tara überlegte. „Gute Frage! Ich war noch nie auf Fuerte und hab keine Ahnung was, mich dort erwartet. Genauso genommen bin ich nach einem Streit mit meinem Freund geflüchtet. Ich hab das erste Ziel gewählt, das sich ergab.“

„Gute Wahl“, meinte ihr Nachbar. „Fuerte ist genau der Platz, um sich auszuruhen.“

„Und warum ist das so?“

„Ich weiß es nicht. Weil man nicht abgelenkt wird von seinen Gedanken? Man kann sie sozusagen zu Ende denken. Die Insel ist anders als die anderen Kanaren. Nicht so ‚dekorativ’, um nicht zu sagen nicht so pittoresk. Sie ist steinig und karg und hat die schönsten Strände der Welt. Natürlich haben Immobilienhaie versucht, die Insel stückweise zu verkaufen. Hat aber nicht funktioniert. Es gibt einige leer stehende Geisterstädte. Wenn es nach mir ginge, würden die nicht nur leer bleiben, sondern auch bald verrotten.“

Tara warf einen Seitenblick auf ihren Nachbarn. Seine Ansichten gefielen ihr. Es gab wenige Menschen, die so dachten.

„Und was macht man sonst so auf Fuerte, außer Rad fahren?“

„Surfen, Kiten, Windsurfen. Alles, was man mit Wind und Wellen machen kann.“

„Und wo macht man das?“

„Oben im Norden sind die Surf- und Windsurfspots. Die Wellen und der Wind sollen dort am Besten sein. Es gibt auch haufenweise Surf-, Kite- und Windsurfschulen und auf Fuerte wohnen sogar einige ehemalige Spitzensportler. Einer von ihnen besitzt dort auch eine Fabrik, wo Bretter, Segel und Lenkdrachen konstruiert werden.“

„Wie komme ich denn in den Norden?“

„Die meisten mieten sich ein Auto. Wer sich auskennt, mietet es schon vor der Abreise. Aber es gibt auch Taxen und Busse, wie überall.“

 

Tara bedankte sich für die Informationen in Kurzfassung und widmete sich ebenfalls ihrem Plastikessen.

Nach der Landung, während sie auf ihren Koffer wartete, kam ihr Sitznachbar vom Sperrgepäckschalter auf sie zu. Rechts von ihm schob er sein Mountainbike. Sie verabschiedeten sich herzlich und ihr Nachbar drückte ihr seine Karte in die Hand. „Thomas Wagner, Werbefilmproduktionen“ las sie und darunter stand eine Adresse in der Hafencity. „Falls du mal Gesellschaft brauchst, ruf meine Handynummer an. Wir könnten essen gehen.“

Tara fand, es klang ehrlich und ohne jeden Hintergedanken, also willigte sie gerne ein.

Die Ferienzeit in Deutschland hatte gerade begonnen, das Flugzeug war bis auf den letzten Platz besetzt. Auf dem kleinen Flughafen in Puerto Rosario wimmelte es wie in einem Bienenstock.

Tara erkundigte sich an den verschiedenen Schaltern auf Englisch nach Mietwagen, hatte aber kein Glück. „Die sind alle unterwegs!“, sagte man ihr. „Sie hätten vorbestellen sollen.“

„Hinterher ist man immer schlauer“, meinte Tara und seufzte.

„Am Wochenende sieht es besser aus. Versuchen sie es dann noch mal!“

Tara nickte und schob ihren Koffer vor das Gebäude. Taxen gab es scheinbar auch zu wenige, die meisten Touristen verschwanden in großen Bussen, die sie dann zu ihren Animationstempeln bringen würden. Das war also auch keine Option, um von hier weg zu kommen. „Vielleicht hätte ich doch nicht ganz so spontan abreisen sollen“, dachte Tara und bereute es jetzt ein wenig, dass sie sich nicht besser über die Insel informiert hatte.

Ein kleiner dicker Mann fiel ihr auf. Er war damit beschäftigt, einen Stapel mit Pappkartons auf einen riesigen Pick-up zu laden. Tara schlenderte zu ihm hinüber und fragte: „Señor! Tu Taxi para mi in Norte? Para?“ Sie hielt ihm einen Fünfzigeuroschein unter die Nase.

Der dicke Mann schüttelte mit dem Kopf. „Por favor!“, bat Tara. „No Taxis, no Bus!“

„Okay! El Norte! Y 50 Euros“, murmelte er und schmiss Taras Koffer neben die Kartons auf die Ladefläche des Pick-up. Tara kletterte in die Kanzel und versuchte, es sich in dem Wust aus Flaschen, Zeitungen, Essensresten, Bierdosen, Zigarettenkippen und leeren Kaffeebechern einigermaßen bequem zu machen.

Sie verließen das Flughafen Gelände, tangierten die Ausläufer der Hauptstadt und fuhren durch eine wüstenartige Landschaft in Richtung Norden. Tara blickte interessiert nach rechts aus dem Beifahrerfenster. Da sie nur wenig Spanisch konnte, schwieg sie. Allerdings konnte es ihr nicht entgehen, dass der kleine dicke Mann sie hin und wieder etwas gierig von der Seite anstarrte. „Vielleicht legt sich das, wenn ich mich vorstelle“, dachte sie, hielt ihm die Hand hin und sagte: „Tara, mi nombre es Tara!“ Der kleine Mann nickte, aber sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht in Richtung freundlichen Verständnisses. „Pablo.“ Er hielt ihr eine verschwitzte Pranke hin, und Tara schüttelte sie entschlossen.

Tara seufzte und beschloss, Pablos Merkwürdigkeiten keine weitere Beachtung zu schenken. Man sollte immer an das Gute im Menschen glauben, nahm sie sich vor und begann, sich aus ihrem grünen Parka und ihrer Kapuzenjacke zu schälen.

Pablo blickte auf seine Armaturen und wendete sich an Tara: „Du mir geben 50 Euro. No Gasolina. Müssen tanken!“ Tara fand es ein bisschen merkwürdig, dass Pablo ihr Geld jetzt schon haben wollte. Aber schließlich war es ihr Vorschlag gewesen, ihm 50 Euro für die Fahrt zu zahlen. Sie fischte einen Schein aus ihrem Portemonnaie und hielt ihn Pablo hin. Der schnappte mit seinen kleinen, dicken Fingern danach, als würde sie einem Hund einen Knochen hinhalten.

 

4. Luke

Pablo bremste und lenkte den Pick-up auf eine einsam gelegene Tankstelle, die an der Straße in Richtung Norden lag. „In the middle of nowhere“, staunte Tara. Kein Haus, kein Baum, nicht mal ein Kaktus durchtrennte die Sicht auf den Horizont. Rötlicher Sand und bunt schillernde Steine bedeckten den Boden, der in der Endlosigkeit vor Hitze flimmerte. Am westlichen Horizont lag eine Bergkette, die sich bräunlich und in Dunst gehüllt von der roten Erde abhob.

Das flache Tankstellengebäude, erbaut im Stil der spanischen Pueblos, wirkte auf Tara wie ein riesiges, von Aliens gelegtes Ei, das mitten in dieser unwirtlichen Wüstenlandschaft vergessen worden war. Eine etwas kleinere Mauer, die einen Anbau verbarg, grenzte an das Hauptgebäude. Windschiefe Türen und eine dunkle, schmutzige Glasscheibe wiesen in das Innere des Kassenhäuschens. Unter dem Fenster stapelten sich ein paar rote Getränkekisten. Tara sah zwei Zapfsäulen, die auf einem kleinen Podest in etwa fünf Metern Entfernung zu der weiß getünchten Baracke standen. Am Rande der weißen Mauer entdeckte sie einen auf die weiße Wand aufgemalten Pfeil mit zwei Nullen. Der Pfeil zeigte um die Ecke des Anbaus herum.

„Fehlt nur noch, dass irgendjemand das Thema von ‚Spiel mir das Lied vom Tod’ pfeift“, dachte sie und schwang sich vom Beifahrersitz. Etwas angeschlagen von der Hitze schleppte sie sich durch die flirrende Sonne auf das kleine, eingeschossige Gebäude zu. Tara trug noch ihre Jeans, die sie sich morgens wegen des klassischen Hamburger Schietwetters angezogen hatte. Die Jeans war ihr eigentlich zu warm, aber sie hatte nach dem langen Flug bisher nicht die Zeit gehabt, sich umzuziehen. Den Kapuzenpullover und ihren Parka trug sie mit den Ärmeln um ihre Taille gewickelt.

 „Hamburg“, dachte sie beim Aussteigen, „ist weit weg. Tausende von Meilen weit weg!“

 Sie wollte Alexanders Worte und seine Meinung über ihre angeblich unprofessionelle Lebensführung so schnell wie möglich vergessen. Sie war weder unprofessionell noch chaotisch, auch das würde sie und der Welt sich beweisen. Gewiss, sie war spontan und sie war sprunghaft, eben impulsiv. Aber was Alexander als unprofessionell verdammte, stellte sich nach ihrer Deutung anders da. Sie fand sich eher „intuitiv“. „Und immerhin bin ich damit schon 35 Jahre alt geworden“, murmelte sie trotzig in sich hinein.

„Ich werde“, so entschied sie theatralisch, „ab sofort dem Zufall in meinem Leben eine Chance geben.“

Tara lehnte sich an die weiße Wand des Anbaus und ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen. Der Mann aus dem Flugzeug hatte recht: Nichts aber auch gar nichts lenkte ihre Gedanken ab.

Loslassen konnte sie die Ereignisse der vergangenen Tage noch nicht, zu frisch war das Chaos, das Alexanders Worte in ihr angerichtet hatte. Tara überlegte einen Moment, wer aus ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis eigentlich eine Familie oder zumindest Kinder hatte. Viele waren es nicht. Die meisten der Frauen, die sie kannte, hatten sich für die Karriere entschieden, hatten studiert und einen festen Job angenommen. Tara erinnerte sich an ein Klassentreffen, auf dem sie vor zwei Jahren in der Hamburger Kunsthalle gewesen war. Ein ehemaliger Mitschüler aus ihrem Englisch-Leistungskurs arbeitete dort als Kunsthistoriker, so konnten sie das Café kostenlos für das Klassentreffen mit ihrem Abiturjahrgang nutzen. Es war, gegen alle Erwartungen, ein lustiger Abend geworden. Sie hatte ursprünglich Angst gehabt, dass es eine Art „Wer hat es am weitesten gebracht“-Quiz werden würde. Aber sie hatte sich getäuscht. Niemand aus ihrer alten Stufe war gekommen, um anzugeben. Es war einfach nur nett, und sie quatschte mit ihren alten Freundinnen bei Rotwein und Wasser bis in den frühen Morgen. Es hatte ihr gut getan, alle mal wieder zu sehen. Aber eine Sache war ihr dann doch bemerkenswert erschienen. Niemand aus ihrer alten Freundinnenclique hatte Kinder. Fairerweise musste sie zugeben, dass sie auch keine hatte, und dass sie nicht mit den Mädchen befreundet gewesen war, die eine Heirat mit einem vielversprechenden BWLer inklusive kompletter Finanz-, Karriere- und Familienplanung als Krönung ihres Daseins betrachteten. Ihre Freundinnen waren wie sie, kritisch, ein bisschen versponnen, eher kreativ und ganz und gar unsicher darüber, welche Rolle in der Gesellschaft sie nun eigentlich spielten.

 „Ich habe es mir nicht zugetraut“, kam als Argument.

„Ich wollte meinen Kindern nicht das gleiche Schlamassel bereiten, wie meine Kindheit“ oder „wer kann in diese verseuchte, verschuldete und verdreckte Welt denn mit gutem Gewissen Kinder setzen?“

„Aber nun gibt es die Menschheit seit ungefähr 10.000 Jahren und seit eben dieser Zeit bekommen die Menschen ununterbrochen Kinder. 50 Jahre ist es her, und alles wurde anders. Die Menschheit, also die westliche Zivilisation, der ich ja nun mal angehöre, ist aufgeklärt, regelt ihr Leben mit sogenannter Vernunft und hat das Kinderkriegen irgendwie abgeschafft.“ Tara schüttelte stumm den Kopf und ließ ihren Blick über den Horizont schweifen, als schwebten dort hinten an der Bergkette die Antworten auf ihre Fragen.

Das Leben in der Zivilisation einer mitteleuropäischen Großstadt brachte Vorteile mit sich, da war Tara sicher. Sie gehörte nicht zu den Asketen oder Gesundbetern, die alles ablehnten, was neu und vor allem technisch war. Sie war durchaus modern und digital, fand sie jedenfalls. Es gab eine Menge Dinge, auf die sie nicht mehr verzichten wollte. Internet, Handy, Krankenhäuser, elektrische Fensterheber und Spendenbons für die Hamburger Tafel. Auch warmes Wasser zum Duschen, Ökoprodukte, Outlets für Designer- und Sportklamotten gehörten für sie zu den Segnungen eines funktionierenden Lebens dazu. Aber trotzdem hatte ihr die Auseinandersetzung mit Alexander gezeigt, dass es eben doch mehr gab als Versicherungen, Absicherungen und sonstige Sicherungen. Das Leben schien ihr viel zu groß, viel zu vielseitig und zu aufregend, um jetzt schon zu wissen, dass es sich für sie niemals ändern würde. Sie wollte keine absoluten Sicherheiten. Sie wollte nicht heute schon wissen, wo sie in zwanzig Jahren arbeiten, wohnen und einkaufen würde.

Sie wollte das ständig Neue, das Ungewisse und: Ja, sie wollte Kinder! Sie wollte trotz all der Unvorhersehbarkeiten Kinder. Kinder brauchten Liebe und Zuwendung. Sie wusste, sie würde ihre Kinder bedingungslos lieben. Egal wie sie wären. Sie würde keine Erwartungen an sie setzen und sie sich so entwickeln lassen, wie ihre Kinder es bräuchten. Genau das wollte sie: eine Familie, in der sich jeder nach seiner Fasson entwickeln konnte.

 Tara gab sich einen Ruck und ließ ihren Blick von der Hügelkette des Horizontes zurück auf die verlassene Tankstelle wandern. Pablo stand noch schwitzend an seiner Zapfsäule und bedeutete ihr mit Gesten, dass er drinnen in dem kleinen Laden einen Kaffee trinken würde. Tara nickte verstehend und verschwand um die Ecke zu den Toiletten. Die Türen waren nicht abgesperrt. Die Einrichtungen präsentierten sich ihr so versifft, als wäre ein Zunami hindurch gefegt. Tara seufzte und dachte etwas belustigt an ihre Meinung über die Segnungen der Zivilisation, die sie ja nun endlich mal hinter sich lassen wollte. Sie zog ihre Hose runter und hockte sich mit den Füssen auf die Klobrille, um zu pinkeln. Der Spülknopf funktionierte zu ihrer Überraschung. Der Versuch, den Wasserhahn in Gang zu setzen, war Fehlanzeige!

„Eine Tankstelle muss irgendeinen funktionierenden Wasserhahn besitzen“, dachte sie und wanderte zurück auf den großen leeren Platz. Die Wasserhähne und der Luftdruckschlauch lagen an der Seite rechts neben dem Gebäude. Tara öffnete den Wasserhahn und ließ sich das immer kälter werdende Wasser über die Hände bis zu den Oberarmen laufen. Sie hielt ihre Pulsadern unter den kalten Strahl, sammelte das Wasser in ihren zum Kelch geformten Händen und schmiss sich die Ladung ins Gesicht. Das Wasser rann ihr über die nackten Schultern und nässte die Haarspitzen. Tara war es gewohnt, sich unter kaltem Wasser zu erfrischen. Nach dem Training oder einem anstrengenden Spiel hielt sie oft den ganzen Kopf unter den Schlauch auf dem Tennisplatz. Nur hier erschien es ihr zu viel des Guten, sie würde anschließend wieder in den zugigen Pick-up steigen. Als sie die Haarspitzen schüttelte wie eine Katze, die in Milch gefallen war, merkte sie, dass sie beobachtet wurde.

Auf der anderen Seite der Tanksäule stand ein Mann. Ein ziemlich großer Mann. Er drückte einen der Zapfhähne in den offenen Tank eines Motorrades und schaute Tara fasziniert bei ihrer Katzenwäsche zu. Ganz offensichtlich tat er das schon länger, dachte Tara, denn er stand dort „wie zur Zapfsäule erstarrt“, lachte sie über ihr Wortspiel. Der Mann war schlank und sah aus wie jemand, der sein Leben lang Sport getrieben hatte. Er hatte einen sehnigen und muskulösen Körper und war von der Sonne gebräunt. Tara schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreißig, wobei seine sportlich Kleidung ihn wahrscheinlicher jünger erscheinen ließ, als stünde er im Businesszwirn an der Zapfsäule. Ein Helm hing am Lenker der schweren Maschine und ein Zweiter war hinten am Sitz festgezurrt. Der Mann wandte den Blick von Tara, zog die Benzinpistole aus der Öffnung des Tankes, hängte sie zurück in die Zapfsäule, drehte den Tankdeckel zu und ging mit federnden Schritten zu dem kleinen Kassenhaus. Tara sah ihn durch die verschmutzte Scheibe mit dem Amigo hinter der Kasse reden.

„Offensichtlich spricht der Fremde die Sprache der Einheimischen“, dachte sie amüsiert und ohne den Blick von ihm zu nehmen. Nachdem er bezahlt hatte, kam er zurück und schälte seine Gestalt aus dem Schatten des Hauses. Lässig wanderte er quer über den Platz zurück zu seinem Motorrad. Seine Jeans saßen locker auf den Hüften und ein schwarzes T-Shirt umspannte seinen Oberkörper. An den Füßen sah Tara ein paar Stiefel, wie man sie nur in Spanien kaufen konnte. Seine Haare waren dunkelblond, halblang und wuschelten lockig um seinen, soweit sie das aus der Entfernung beurteilen konnte, gut aussehenden Kopf herum. Tara lehnte sich an die Mauer, die die Tankstellenkasse mit den Toiletten verband und trank aus ihrer Wasserflasche. Der Mann mit dem schwingenden Gang drehte sich um und merkte, dass er von Tara beobachtete wurde.

 Ihre Augen begegneten sich irgendwo in der Mitte der Wüstenhitze und für einen Moment spürte Tara einen Stich, der sich vom Hals abwärts bis runter in ihr Herz zog. Es fühlte sich an, als stünde sie mitten in der Wüste in Flammen. Ihre Kopfhaut prickelte. „Was für ein Unsinn“, dachte sie schnell. „So schnell ist das Schicksal nicht, oder?“

Zwei schwarze Krähen zogen am Himmel über sie hinweg und blieben mit lautem Krächzen ein paar Meter neben ihr sitzen, als würden sie ihr die Antwort geben wollen. Tara wendete sich zu den Vögeln. „Okay. Nett gemeint, aber ich bleib mal auf dem Teppich!“ Und doch konnte sie sich das intensive Gefühl nicht erklären: „Es ist, als würde man einen guten Bekannten plötzlich mitten in Hamburg auf der Straße treffen“, dachte sie stolz.

Ja, sie hatte das Gefühl, ihn schon mal gesehen zu haben.

Tara schüttelte verwundert den Kopf. Der Fremde starrte sie immer noch mit leicht zusammengekniffenen Augen an und steuerte auf sein Motorrad zu. Sie musste lachen. „Was für eine Inszenierung! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich rüberlaufen und ihn um seine Telefonnummer bitten. Aber“, Tara war sich sicher, „sobald ich ihn aus der Nähe betrachte und seine Stimme höre, ist der Zauber dahin. Der Mann entpuppt sich als näselnder Langweiler und die Situation ist einfach nur peinlich.“

„Tara bleib hier stehen!“, befahl sie sich. Sie seufzte ein bisschen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ein bisschen unheimlich fand sie es schon. „Und jetzt setzt die Musik ein. Das Bladerunner-Thema wäre perfekt“, dachte Tara belustigt.

Lässig nahm er seinen Helm vom Lenker und setzte ihn auf. Tara konnte nun auch erkennen, was für eine Maschine er fuhr. Eine „Vincent Black Shadow“. Eigentlich hatte sie keine Ahnung von Motorrädern, aber genauso eine Maschine fuhr der von ihr verehrte Filmheld und Rennfahrer Steve McQueen. Sie war im Internet beim Surfen auf dieses Motorrad gestoßen. „Werber fahren eine Harley“, hatte Gernot, einer ihrer Freunde und Autoredakteur bei dem Internetmagazin „nova.de“, ihr mal erklärt. „Will er was Besonderes sein, dann fährt er eine Indian. Aber wer es richtig drauf hat, der hat eine Vincent in der Garage.“ So, er hat also eine Vincent. „Na, Ahnung von Motorrädern scheint Wuschelkopf dann ja wohl zu haben“, resümierte Tara.

Der Wuschelkopf ahnte nichts von ihren Gedanken. Immer noch starrte er Tara an, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, an Tankstellen in der Mitte einer spanischen Insel im Atlantik fremde Frauen anzustarren. Was er sah, war eine große, schlanke Frau, die ihm gut gefiel. „Wow!“, dachte er und schüttelte den Kopf. „Wieso sitzt dieses Wesen vom anderen Stern hier in der Wüste und wartet auf diesen miesen Typ im Pick-up?“ Das ging ihn genau genommen nichts an, aber er hatte kein gutes Gefühl bei dem Kerl. Die Frau war süß. Es hatte ihm gefallen, wie sie mit dem Wasser gespielt hatte und sich jetzt selbstvergessen an die Mauer lehnte. Er konnte ihr Gesicht nur aus der Ferne erkennen, aber ihr Typ, ihr Körper, ihre Haltung, ihr ….Alles an ihr gefiel ihm. So etwas war ihm noch nie passiert. Die Frau stand da vor ihm wie eine Erscheinung. Ob er sie ansprechen sollte? Was würde er ihr sagen? „Ich glaube, dein Chauffeur mit dem Pick-up ist ein schmieriger Typ. Steig mal lieber bei mir auf das Motorrad?“ Ganz sicher nicht. Sie würde ihn für komplett bescheuert halten. Sie sah nicht aus, als warte sie drauf, angequatscht zu werden. Andererseits hatte auch sie ihn ins Visier genommen. Er widmete sich seinem Helm, den er am Lenker angeklippt hatte.

„Vamos Señorita.“

Der dicke Pablo riss Tara aus ihren Gedanken und berührte etwas unsanft ihren nackten Ellbogen. Er war, immer noch schwitzend, hinter der Tankstellenbaracke aus Richtung der Toiletten wie aus dem Nichts aufgetaucht, und Tara erschrak leicht.

 Si, claro, antwortete sie betont burschikos und schlenderte hinter ihm her in Richtung Pick-up. Als sie den Blick wieder hob, sah sie, wie der Fremde mit seinem Motorrad in einer Staubwolke verschwand. „Schade eigentlich“, dachte sie und kletterte auf den Beifahrersitz. Sie lehnte sich seufzend gegen das Metall, um dem Motorradhelden ein bisschen hinterher zu träumen.

Pablo entfernte sich ein paar Kilometer von der Tankstelle und brabbelte während der Fahrt laut vor sich hin. Tara wollte lieber nicht zu genau wissen, was in seinem Kopf vorging.

Pablos laut ausgesprochene Gedanken waren ihr ein unheimlich. Mit einem Ruck verließ der Wagen die Straße und fuhr einige Hundert Meter querfeldein.

Tara rüttelte an seinem Arm und fragte etwas panisch auf Deutsch, was er vorhabe. Pablo stoppte den Motor und betrachtete sie mit gierigen Augen.

„Ich brauchen Geld. Du mir geben 200 Euros für Fahrt, oder du und ich machen Liebe. Tu muy bonita y yo te quiero!“ Das wenige Spanisch, das Tara verstand, reichte aus, um zu wissen, dass sie sich in einer beschissenen Situation befand.

Scheinbar hielt er eine allein reisende Frau für eine Art Freiwild. Sie musste jetzt ganz vorsichtig sein oder sie würde ganz schnell weglaufen müssen. Das, was hier gerade abging, gehörte nicht zu den Dingen, die man irgendwann seinen Enkeln erzählt. Tara schätzte die Situation ab und bekam Angst. Sie wusste, Angst war genau das, was ihr jetzt nicht weiterhalf. Sie wanderte an einer Kante entlang und diese Kante hieß Gefahr.

Die Tankstelle war zu weit entfernt, um von dort irgendwelche Hilfe zu erwarten. Niemand aus dem Laden würde kommen, um ihr zu helfen. Und was sollte sie auch rufen? „Verdammt, in was für eine beschissene Situation bin ich da geraten?“ Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, keine Angst zu zeigen. Sie würde entschlossen auftreten. Wenn das alles nicht nützte, würde sie Fersengeld geben und zurück zur Tankstelle laufen. Wozu trainierte sie schließlich seit Jahren? Der dicke Pablo konnte sie zwar in seinem Auto verfolgen, aber sie würde es schaffen, da war sie sicher. Pablo starrte so gierig auf ihre nackten Schultern, als seien sie mit Zuckerguss überzogen. Der Schweiß glänzte in seinem Gesicht, und er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Ihr Herz pochte.

Mit all der Überzeugung, die sie in ihre Stimme legen konnte, rief sie: „No! Tu 50 Euros, nada mas.“ Und: „No Amor!“ Dann sprang sie aus dem Pick-up. Doch Pablo hatte seinen Fahrersitz verlassen und kam auf sie zu. Er redete leise und schleimig auf sie ein, als sei sie ein bockiges Kind. Sie würde Pablo den Spaß versalzen, soviel war klar. So einfach ging das nicht. Auch wenn der schwitzende Mann stärker war als sie, ein paar Muskeln hatte sie auch, und die würde sie einsetzen, bevor sie zurück zur Tankstelle spurten konnte. Sie hatte die Hände in abwehrender Geste vor dem Körper aufgerichtet und wanderte, auf Abstand bedacht, rückwärts.

Das Geräusch von einem ziemlich lauten und hochtourig röhrenden Motorrad unterbrach die absurde Situation. Tara blieb staunend stehen und sah, wie das Motorrad sich unglaublich schnell durch den Wüstensand pflügte und abrupt zwischen ihr und dem schwitzenden Pablo mit einer aufstiebenden Staubwolke zum Stehen kam. Der Fremde von der Tankstelle stieg ab und marschierte, noch während er seinen Helm vom Kopf nahm ziemlich wütend auf Pablo zu. Pablo machte auf dem Absatz kehrt und verschwand behände wie ein Äffchen in der Führerkabine des Pick-ups. Noch bevor sich der Mann zu Tara umwenden konnte, sauste der Pick-up in einer Staubwolke davon.

„Und mein Koffer samt Handtasche mit ihm!“, dachte Tara und schaute dem Auto entgeistert hinterher.

Taras Beine begannen zu zittern. Sie ging langsam ein paar Runden im Kreis, atmete dabei ein paar Mal tief aus und erhob ihren Blick in die immer noch wütenden Augen des Mannes.

 „Danke! Das war dann wohl Rettung in letzter Minute!“ Als der Fremde merkte, dass es Tara wieder besser ging, verschwand die Wut und ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht. Eine gebräunte Hand streckte sich ihr entgegen.

„Ich heiße Luke.“

Tara schaute trotz des Schrecks halb belustigt, halb verärgert in Lukes Augen. „Tara mein Name. Ich habe heute Morgen meinen Heimatkral in Hamburg fluchtartig verlassen, bin gerade auf der Insel angekommen und dann so was!“ Sie schüttelte den Kopf. „Was für eine Wanze! Was wollte der Kerl denn von mir?“

„Du wirst ihm gefallen haben.“

 „Na, so ein Schlaganfall bin ich nun nicht, dass man gleich über mich herfallen muss!“

„Das kommt auf den Betrachter an.“

 Luke lächelte und schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Tara blickt ihm direkt in die Augen und sah, dass Luke ihrem fragenden Blick standhielt.

„Das ist ja eine tolle Insel! Erst gibt es keine Leihwagen mehr, Taxis ebenso wenig. Dann frage ich dumme Kuh diesen schleimigen Wurm, ob er mich für 50 Euro in den Norden fährt. Dann kriegt er unterwegs einen Hitzschlag mit Hormonkoller. Und will seine Bezahlung fürs Mitnehmen in Naturalien. Und jetzt erzählt mir mein fremder Retter, dass ich gut aussehe. Und was das Beste ist! Mein Koffer und meine Tasche, also alles was ich habe, liegt auf der Ladefläche des Pick-up und fährt mit ‚Wanze’ auf und davon.“

Tara atmete tief aus nach dieser Entladung, und Luke lachte unauffällig in sich hinein.

„Tja“, meinte er amüsiert von dem Temperamentsausbruch, „vielleicht hast du ein unentdecktes Talent und diese Insel bringt es zum Erblühen.“ „Und was soll das sein?“, fragte Tara neugierig. „Na, nach dem ersten Eindruck würde ich es mal ‚Talent für Schlamassel’ nennen. Ich werde dich jedenfalls nicht alleine hier stehen lassen. Irgendwie hast du dein neues Talent noch nicht so ganz im Griff.“ Tara boxte ihn scherzhaft in die Rippen und zog ein Gesicht, als sei sie gerade vom Lehrer beim Abschreiben erwischt worden.

Luke löste den zweiten Helm vom Sitz und drückte ihn Tara mit einem Grinsen in die Hand. „Dann wollen wir der stinkenden Wanze deine Sachen mal wieder abzujagen.“

Tara setzte den Helm auf, machte den Riemen enger, schwang sich auf den Rücksitz und legte ihre Arme um den Rücken ihres Retters. „Mmh“, murmelte sie zustimmend, lehnte sich gegen seinen Rücken und dachte: „Doch kein näselnder Langweiler. Dieser Rücken fühlt sich ziemlich gut an.“

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