Literatur, die bewegt!
Eine fantastisch spannende Geschichte um einen kleinen Jungen
Ohne Zweifel ist Paul mit seinen zehn Jahren der ungewöhnlichste Pilot der Welt. Sein Großvater, zu Lebzeiten ein echter Haudegen, hatte ihm einst einen altersschwachen Doppeldecker hinterlassen, und so kann sich der kleine Junge nun in einer Welt voller Regeln und falscher Erwartungen seinen Wunsch nach Freiheit und Abenteuer erfüllen. Pauls Eltern schenken jedoch den Erzählungen ihres Sohnes keinen Glauben – natürlich. Denn zu unerhört ist die Vorstellung, dass ihr Kind selbst die schwierigsten Flugmanöver beherrscht. Und so ist Paul anfangs auf die Hilfe seiner draufgängerischen Freundin Gülcan angewiesen, als immer mehr undurchsichtige Gestalten um ihn herum auftauchen. Scheinbar besitzt Paul ohne sein Wissen etwas, das ihm diese Männer abjagen wollen. Die Schatten aus Großvaters Vergangenheit leben wieder auf, nachdem Pauls Vater unfreiwillig das besondere Talent seines Jungen entdeckt hat und die beiden an eine entlegene Hütte in den Bergen verschlagen werden. Dort gerät Paul zwischen die Fronten von zwei rivalisierenden Schmugglerbanden, die auf der Suche nach einer gefährlichen gläsernen Truhe sind. Paul erlebt, wie aus Feinden Freunde werden und wie er sich ausgerechnet auf die Menschen am meisten verlassen kann, vor denen er sein Geheimnis am sichersten verborgen hat.
Detlef Scheiber, Jahrgang 1968, studierte Sozialwesen in Würzburg und arbeitet seit 1997 in der Jugendhilfe mit den Schwerpunkten Beratung, Fallsteuerung und Krisenintervention. Er spielt Didgeridoo und tritt als Solist mit einem Perkussion-Projekt auf. In seiner Arbeit mit Menschen, in seiner Musik und in seinen Texten kommt es ihm darauf an, einengende Sichtweisen zu öffnen, neue Zusammenhänge herzustellen und die Aufmerksamkeit auf bislang unbeachtete Aspekte zu lenken. Detlef Scheiber lebt mit seiner Frau und vier Kindern in Freudenberg am Main.
Detlef Scheiber: Paul hebt ab, 266 Seiten, Broschur, € 14,98, ISBN 978-3-86992-087-0
Titelbild zum Download (300 dpi)
Leseprobe:
Senkrecht gegen den Wind stieg die Lerche in den Himmel und sang dabei ihr Lied.
Die schwere Julihitze erdrückte ansonsten jeden Laut über den flimmernden Feldern.
Nur ein träger Windhauch strich über die wenigen dürren Sträucher, die Wache über ein ausgetrocknetes Land hielten. Der Sommer hatte seinen Höhepunkt erreicht, lange vorbei die Zeiten, in denen jeder Sonnenstrahl noch mit einem Lachen begrüßt wurde.
Die Hitze war zur Gewohnheit geworden, fast schon zur Last.
Gewaltig türmten sich nun die ersten Wolkenberge auf, deren überquellendes Weiß an den Rändern bereits in ein bedrohliches, schmutziges Grau übergegangen war.
Wohl gegen Abend würde das lange erwartete Gewitter losbrechen, aber noch hatte die Lerche den Himmel für sich.
Am Boden musste sie im Verborgenen leben und sich in den niedrigen Büschen verstecken, aber in der Luft war sie frei. Hier sang sie ihr Lied ohne Pause, eine verspielte, heitere Melodie. Unbeschwert ging eine Strophe in die nächste über, in vollkommener Reinheit erklang das Trällern, wurde lang anhaltend, unnatürlich gezogen, beinahe schrill. Jetzt wie eine Sirene, durchdringend und laut, ein hässliches Heulen, übertönt nur von kurzen Explosionen.
Ein schmutziger, verrußter Streifen durchzog die Wolken.
Aus einer Lücke zwischen den weißgrauen Massen schoss kurz ein alter Doppeldecker, um sofort wieder in die dichten Schleier einzutauchen.
Der Pilot kämpfte mit der Maschine, die immer schneller an Höhe verlor.
Schwarzer Qualm zog über das offene Cockpit und setzte sich auf der ölverschmierten Fliegerbrille und der ledernen Sturmhaube ab.
Auf die gläsernen Armaturen mit ihren wild kreisenden Zeigern schlug unruhig eine goldene Taschenuhr.
In kürzer werdenden Abständen gab der rauchende Motor beunruhigende Schläge von sich, hielt sich aber noch am Laufen. Flammen zuckten aus den grob vernieteten Blechabdeckungen.
Beim Austritt aus der untersten Wolkenschicht lichtete sich der Schleier und öffnete dem Piloten einen Blick über weite Felder, die bewaldeten Ausläufer des Gebirges und dahinter den großen See, der in der Sonne glitzerte.
Die Strecke über den See bis zur Landebahn an der alten Scheune würde das Flugzeug diesmal wohl nicht mehr schaffen, aber auf dieser Seite der Bergkette war keine Möglichkeit zur Landung auszumachen.
Etwas abseits standen drei Heißluftballons in der Luft und warteten auf das Auffrischen des Windes.
Auch auf die Gefahr hin, langsamer zu werden und dann wie ein Stein vom Himmel zu fallen, brachte der Pilot den Doppeldecker in Schräglage und zog in einer engen Schleife dicht an den drei Ballons vorbei, eine schwarze Spur aus Rauch hinter sich herziehend.
Beim Anblick des alten Doppeldeckers in Luftnot reagierten die Passagiere in den Körben sofort – sie zückten ihre kleinen Kameras und entfachten ein wahres Blitzlichtgewitter.
Das unruhige Knattern des Motors übertönend schrie der Pilot herüber: „Hey, hallo ihr da!“
Die Ballonfahrer ließen mit offenen Mündern ihre Kameras sinken, rief doch der Pilot aus dem kreisenden Doppeldecker mit der Stimme eines vielleicht zehnjährigen Jungen. „Hallo, ihr da drüben, gibt es hier in der Nähe einen Landeplatz?“
Ein Mann mit Glatze und Schnurrbart fand als Erster wieder aus seiner Verwunderung heraus: „Einen Landeplatz? Zum Landen?“
„Nein, zum Platzen!“, brüllte der Junge. „Wer hat euch denn hier hoch gelassen? Ach, vergesst es!“
Er schwang seine Maschine herum und steuerte auf die nahe gelegene Hügelkette zu, die sich um die Ostseite des Sees zog. Hier dürfte er genügend Auftrieb haben, um den Doppeldecker noch eine Weile in der Luft zu halten.
Der Junge schaltete schnell den brennenden Motor ab, bevor er ihm um die Ohren fliegen musste. Schlapp drehte sich der Rotor noch wenige Male, dann war nur ein unangenehmes Pfeifen zu hören.
Die Aufwinde am Berghang hielten das Flugzeug tatsächlich noch etwas in der Höhe. Dort, wo die Hügelkette abflachte, zog der Junge die Maschine im Gleitflug in einem langen Bogen um den See herum, weil er die kälteren Luftmassen über dem Wasser fürchtete.
Die Stadt schon im Blick, an deren Rand das Gehöft mit der alten Scheune und dem versteckten Landeplatz lag, steuerte der ungewöhnliche Pilot den Doppeldecker unter eine Wolke, weil er dort noch einen kurzen Auftrieb bekommen konnte.
Er wischte sich schnell über die verschmierte Fliegerbrille.
Schon oft hatte er sich bei seinen Flügen in gefährlichen Situationen befunden.
Aber noch nie zuvor war es so wichtig gewesen wie heute, die Ratschläge seines Großvaters bis ins kleinste Detail zu befolgen.
Jetzt über die ausgetrockneten Felder, um die aufsteigende Warmluft auszunutzen.
Die Landebahn noch immer unerreichbar weit.
Sein Großvater.
Von ihm hatte er diesen altersschwachen Doppeldecker geerbt.
Was hätte dieser verwegene Flieger jetzt gemacht, mit wie viel Zuversicht hätte er wohl noch die Maschine steuern können?
„Wenn du das Schicksal auf deiner Seite hast, dann brauchst du kein Glück mehr“, hatte er oft zu seinem Enkel gesagt.
Der Junge stellte die Zündung an und drückte die Nase des Doppeldeckers nach unten. Im Sturzflug begann sich der Propeller zu drehen, der Motor krachte und rauchte, bis er wieder unruhig lief und genügend Fahrt für den Landeanflug brachte.
Die ersten Gärten zogen unter den Tragflächen vorbei, jetzt noch über die Baumgruppe, dahinter lag schon die Landebahn.
Wenn sich das Flugzeug doch nur am Steuerknüppel nach oben ziehen ließe!
Ab über die Baumspitzen, ein Schlag wie eine schallende Ohrfeige am Rumpf, ein Rütteln in der Maschine, dann schwankend auf die Landebahn zugehalten.
Kurz vor dem Aufsetzen gab der Motor endgültig seinen Geist auf, viel zu schnell für eine Landung schlug der Doppeldecker hart mit dem Fahrwerk auf, hob wieder ab und stellte sich in der Luft quer. Der Junge riss das Seitenruder herum und setzte das Flugzeug schlingernd wieder auf.
Im Ausrollen zog der Doppeldecker wenige Meter vor der Scheune eine enge Kurve und reckte seine Nase in den dunklen Rauch, der über der Landebahn und der Baumgruppe lag.
Kaum dass die Maschine stand, sprang der Junge heraus, rannte über die Wiese und zwängte sich durch das alte, längst in Vergessenheit geratene Tor in die Scheune. Hier musste er noch über die sperrigen Möbel seines Großvaters steigen und kurz die Fliegerbrille und die Sturmhaube in die morsche Standuhr werfen. Vorbei an Bergen von Gerümpel stolperte er durch den vorderen Bereich der Scheune und schlüpfte durch das große Holztor hinaus.
Ein schneller Blick über den Hof mit der alten Linde, dann setzte er sich keine Sekunde zu früh auf den Mauervorsprung des gewaltigen Fachwerkhauses.
Eben bog die Mutter auf ihrem Fahrrad in den Hof, vollgepackt mit Einkaufstaschen. „Hallo Paul, wie siehst du denn aus?“
Paul strich sich eine ölverschmierte schwarze Locke aus dem verrußten Gesicht. Er wusste, dass es sich mit seiner Mutter wie mit dem Kreiselkompass in seinem Cockpit verhielt – wenn er den korrekten Kurs ansteuerte, dann drehte der Kompass genau in die entgegengesetzte Richtung. „Ich wäre beinahe mit meinem Flugzeug abgestürzt“, rief Paul. „Aber ich habe gerade noch eine Notlandung hin bekommen.“
„Ach Paul“, schüttelte seine Mutter den Kopf. „Du wieder mit deinen Geschichten. Hast du Robert beim Mofareparieren geholfen? Du weißt doch, dass dieser Umgang nichts für dich ist.“
Sie lehnte ihr Fahrrad an die Linde und nahm die Taschen herunter.
Es machte jetzt keinen Sinn, etwas richtig zu stellen.
Mehr als die Wahrheit konnte Paul ohnehin nicht sagen.
Seine Mutter trug die Taschen ins Haus und nickte ihm zu.
Paul grinste und zog den Ärmel seiner Lederjacke über die blutverschmierte Hand.
Manchmal sind Eltern einfach noch nicht bereit für die ganze Wahrheit.
Nicht für die Schule lernen wir
Frau Schmal-Wimmer ging vor der grünen Schiefertafel in die Hocke.
„Das kleine Einmaleins bietet die Grundlage für …“, sie richtete sich wieder auf und streckte die Hände an die Decke, „… das große Einmaleins. Und in Verbindung mit dem Dividieren ...“, sie teilte das Klassenzimmer mit ihrer Hand wie einen Kuchen, „... erhalten wir den Dreisatz.“
Die Kinder tuschelten angeregt durcheinander, was die Lehrerin jedoch nicht zu stören schien.
„Und wir lernen das alles für ein Leben in Freiheit und ...?"
„Selbstbestimmung“, sang die Klasse im Chor, auch wenn die Kinder mit diesen Begriffen noch nicht allzu viel anfangen konnten.
Sobald sich Frau Schmal-Wimmer zur Tafel drehte und mit quietschender Kreide ein paar Formeln aufschrieb, begannen hinter ihrem Rücken wieder die Plaudereien, die größtenteils nichts mit der höheren Mathematik zu tun hatten.
Aber Frau Schmal-Wimmer kümmerte sich nicht darum.
Wenn sie nur von Zeit zu Zeit die neuesten Lehrmethoden, die sie von ihren zahlreichen Fortbildungen mitbrachte, an den Schülern ausprobieren konnte, durfte der Lärmpegel in der Klasse gerne auch etwas höher liegen.
Nur auf eines reagierte die ehrgeizige Lehrerin allergisch.
Sie stoppte die Kreide mitten in einer Zahl und lauschte.
Dann drehte sie sich langsam um.
Aus dem allgemeinen Geschnatter hörte Frau Schmal-Wimmer etwas heraus, das ihr überhaupt nicht zu gefallen schien.
Sie horchte mit hochgezogenen Augenbrauen in die Klasse, als wäre sie ein Dirigent und müsste den Misston in einem Orchester suchen.
Fast lautlos bedeutete sie der Klasse mit hektischen Handbewegungen und zugespitztem Mund, still zu sein.
Allmählich verstummten die Kinder und es war bald nur noch von der hintersten Bank am Fenster zu hören: „D3?“ „Wasser! F2?“
„Treffer, versenkt.“
Frau Schmal-Wimmer hatte mit wenigen Schritten den Raum durcheilt und sich vor der Problembank der Klasse aufgebaut.
„Paul!“
Sie sprach den Namen des überführten Störers auf ihre besondere Weise aus, beginnend mit tiefer Stimme, dann immer höher ziehend und mit einem Überschlag am Schluss. Paul hatte dabei immer das Bild im Sinn, sein Name wäre ein Ball, der unter Wasser gedrückt wird und mit einem Plop in die Luft springt.
„Paul! Möchtest du nicht auch mit deinen Klassenkameraden in Gemeinschaft lernen?“
Dass Pauls Banknachbarin Gülcan gerade sein Frachtschiff zerstört hatte, interessierte Frau Schmal-Wimmer offensichtlich nicht. Sie nahm die beiden Blätter mit den Koordinatensystemen vom Tisch und überflog sie kurz.
„Deine Einstellung zum Lernen finde ich nicht ganz so gut. Aber ich sehe darin auch eine Chance. Du kannst deine Probleme bearbeiten und gleichzeitig etwas für die Klassengemeinschaft tun.
Würdest du bitte an die Tafel gehen und die Aufgabe anschreiben?“
Paul verdrehte die Augen, während er sich von seinem Platz drückte und nach vorne schlich.
Frau Schmal-Wimmer lehnte derweil an der hinteren Wand des Klassenzimmers. „Folgendes: Ein Auto muss, um von einem Punkt A zu einem Punkt B zu gelangen, um einen Berg fahren.
Es legt daher zu einem Punkt C1 eine Strecke von 4 km und zum Punkt B nochmals eine Strecke von 4 km zurück.
Das Auto fährt mit einer Geschwindigkeit von 120 Stundenkilometern. Zur selben Zeit startet von eben diesem Punkt A ein Flugzeug.“
Paul, der schon fast an der Tafel angekommen war, blieb stehen und hörte sich erst einmal an, wie die Geschichte weiterging.
„Es fliegt über den Berg, und zwar eine Strecke von 4 km hoch zum Gipfel C2 und 8 km zum Endpunkt B. Das Flugzeug fliegt mit einer Geschwindigkeit von 180 Stundenkilometern. Wer kommt als Erstes bei Punkt B an?"
Paul hatte sich auf das Lehrerpult gesetzt. „Das ist einfach, das muss ich nicht an der Tafel rechnen. Das Auto ist schneller.“
„Was? Nein!" Frau Schmal-Wimmer stolperte nach vorne an die Tafel. „Ich meine, würdest du die Aufgabe bitte anschreiben?“
Aber Paul dachte nicht daran.
Er rutschte vom Pult herunter, und während er zu seiner Bank schlenderte, erklärte er mit den Händen in den Hosentaschen: „Der Pilot im Flugzeug muss erst alle seine Instrumente überprüfen, seinen Treibstoff berechnen und die Wettervorhersage einholen. Außerdem sollte er sich den Weg auf der Flugkarte noch einmal genau ansehen – vielleicht muss er unterwegs auf Hochspannungsleitungen oder Türme achten. Aber am längsten dauert der Steigflug. Vier Kilometer bis zum Gipfel, das ist ziemlich nah. Weil er beim Start bestimmt nicht sofort über den Berg fliegen kann, muss er noch einen Bogen in die entgegengesetzte Richtung und wieder zurückdrehen, um an Höhe zu gewinnen. Das dauert.
Bis er am Punkt B ist, hat der Autofahrer dort schon sein zweites Eis gegessen.“ Frau Schmal-Wimmer machte ein Gesicht, als sei gerade etwas sehr Trauriges passiert.
„Paul, Paul, Paul. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich. Ich muss deinen Eltern leider mitteilen, dass trotz meiner Bemühungen deine Entwicklung immer noch nicht in der richtigen Bahn verläuft.“
Dann wandte sich die Lehrerin wieder der ganzen Klasse zu.
„Aber der Rest von euch ist glücklicherweise auf dem Weg in ein Leben voll Freiheit und ...?“ Nur Justin murmelte gedankenverloren vor sich hin: „Selbstbedienung.“
Die übrigen Kinder träumten davon, ein Flugzeug mit letzter Kraft über einen hohen Berg zu steuern.
Während Frau Schmal-Wimmer nun selbst die Rechenaufgabe mit zuckenden Bewegungen an die Tafel schrieb, erklärte sie: „Natürlich kommt nicht der Autofahrer als Erstes an, das werdet ihr gleich sehen. Gleichzeitig kommen beide an, gleichzeitig.
Das ist doch auch viel besser, weil es keinen Verlierer gibt. Eine Gemeinschaft zeichnet sich überhaupt erst dadurch aus, dass es keine Verlierer gibt.“
Paul ließ sich auf seinen Stuhl fallen und schüttelte den Kopf. Von wegen gleichzeitig, als wenn er nicht wüsste, wie so ein Flug über den Berg abläuft. Paul war schließlich ein erfahrener Pilot, und er war kurz davor, den Auftrag für seinen nächsten Kurierflug zu bekommen.
Natürlich gab es 100 Gründe oder mehr dafür, dass niemand etwas von seiner besonderen Begabung wissen durfte. Aber damit konnte er umgehen.
Das Flugzeug, einen alten Doppeldecker, hatte Paul von seinem Großvater bekommen, dem wahrscheinlich wildesten Piloten, der je den Himmel durchzogen hatte.
Sein Großvater erzählte oft vom Krieg. Damals war er mit seinem Doppeldecker über die kämpfenden Soldaten geflogen und hatte Farbbeutel hinunter geworfen, bis alle Soldaten von oben bis unten bunt gefleckt waren.
Und wenn sie sich dann alle gemeinsam im Fluss die Farbe abwaschen mussten und dafür ihre Uniformen ausgezogen hatten, wusste niemand mehr, wer Freund oder Feind war, und alle lachten und bespritzten sich mit Wasser.
Und über ihnen zog der Doppeldecker seine Kreise. Ja, so ein Kerl war Großvater.
Frau Schmal-Wimmer hatte nun schon fast die ganze Tafel vollgeschrieben, um mit ihren Formeln zu beweisen, was in der wirklichen Fliegerei niemals stimmen konnte. Dabei redete sie eifrig über ihr Lieblingsthema, die freie Gesellschaft, in der jeder über sich selbst bestimmen kann.
Paul langweilte sich und starrte aus dem Fenster.
Auf der Straße traten zwei Müllmänner ihre Zigarettenstummel aus, der Fahrer hatte sich schon ins Führerhaus geschwungen. Daneben zerrte eine Mutter ihr schreiendes Kind den Gehweg entlang. Als das Müllauto losfuhr, riss sich das Kind von der Hand der Mutter und sprang auf die Stellfläche neben die Müllmänner. Das Müllauto, das Kind und die hysterisch brüllende Mutter verschwanden aus Pauls Blickfeld und gaben die Sicht auf die gegenüberliegende Straßenseite frei, wo ein großer alter Mann mit schwarzem Mantel und Hut an der Ecke wartete – wahrscheinlich auf sein Taxi. Das also war das Leben, von dem Frau Schmal-Wimmer sprach.
Da konnte sich Paul mit der Freiheit eines Piloten schon eher anfreunden, auch wenn er diese Freiheit mit niemandem teilen durfte.
Opa hatte Paul den Rat gegeben, gut zu überlegen, ob er jemandem von seinem Flugzeug erzählen soll.
„Mein lieber Paul“, hatte er gesagt, „es gibt zwei Arten von Geheimnissen.
Da gibt es die Geheimnisse, die werden dir aufgezwängt, aber sie passen dir nicht. Sie sind wie eine viel zu enge Jacke. Sie drücken dir die Luft ab.
Wenn ein Schulfreund etwas angestellt hat und dich zwingt, niemandem davon zu erzählen, dann ist das so ein Geheimnis.
Und dann gibt es noch die anderen Geheimnisse, die tun niemandem weh.
So ein Geheimnis ist zum Beispiel eine abgelegene Bucht, in der du die besten Fische angeln und zur Ruhe kommen kannst. Paul“, und dann nahm ihn sein Opa in den Arm, „bei dem Doppeldecker musst du selbst entscheiden, ob du es erzählst. Aber ich könnte mir vorstellen, dass irgendwann der richtige Zeitpunkt von ganz alleine kommt, an dem du es weitersagen möchtest.“
Der alte Mann mit dem schwarzen Mantel war verschwunden. Paul hatte gar nicht bemerkt, wohin.
Frau Schmal-Wimmer hüpfte wieder vor der Tafel hin und her und erklärte ihren Lieblingsschülern die Feinheiten der Dreisatzrechnung.
Wenn nur dieser Schultag endlich ein Ende finden würde.
Paul blies eine schwarze Locke aus dem Gesicht. Seine Gedanken wanderten wieder zu seinem Großvater und dem Flugzeug.
Nach Opas Beerdigung hatte er sich entschieden, das mit der Fliegerei erst einmal nicht weiter zu erzählen – schon gar nicht seinen Eltern.
Die wären möglicherweise nicht begeistert von dem Gedanken gewesen, dass ihr Junge in die Lüfte abhob.
Gerade Pauls Vater war ganz anders als Opa. Er kam immer ganz spät abends mit Anzug und Krawatte von der Arbeit und dann erzählte er, wie wichtig die Ordnung im Leben ist. Da hatte er natürlich kein Verständnis für die abenteuerlichen Geschichten von Opa.
„Wie unrealistisch!“, schnaubte Pauls Vater dann immer und wollte damit wohl sagen, dass die Geschichten des Großvaters von vorne bis hinten erfunden waren.
Aber Paul mochte es, wenn sein Großvater mit einem schelmischen Augenzwinkern von früher erzählte, und ihm war eine spannende erfundene Geschichte tausendmal lieber als eine langweilige Geschichte, die tatsächlich passiert war.
Und wer konnte es schon so genau sagen – vielleicht war an den Erzählungen von Opa doch ein Kern Wahrheit.
Trotzdem war natürlich klar, dass Paul seinem Vater, dem Paragraphen und Vorschriften so wichtig waren, erst einmal nichts von dem Doppeldecker erzählen konnte. Vielleicht gab es ja ein Gesetz, das zehnjährigen Jungen das Fliegen verbot. Man konnte nie wissen.
Und Mama machte sich sowieso über alles Sorgen. Sie wurde schon ängstlich, wenn Paul auf einen Baum kletterte oder mit der Säge arbeitete.
Und selbst wenn es für Paul noch so schwer vorstellbar war – vielleicht hätte sich seine Mutter auch Sorgen gemacht, wenn sie von seinen Flügen in dem alten Doppeldecker gewusst hätte.
Paul bekam einen Stoß in die Rippen.
Gülcan, seine Banknachbarin, zeigte ihm mit einem kurzen Nicken, was sie unter der Bank hielt.
Eine kleine gelbe Plastiktüte, wie man sie im Schreibwarengeschäft bekam, wenn man nur einen Radiergummi und einen Spitzer kaufte.
Paul grinste.
Gülcan war zwar ein Mädchen, aber dafür ganz in Ordnung.
Die anderen Jungs aus der Klasse machten immer einen großen Bogen um das vorlaute Mädchen mit den dunkelbraunen Augen, aber Paul verbrachte seine Zeit am liebsten mit ihr. Anstatt sich wie die anderen Kinder über die langweiligen Fernsehsendungen des letzten Abends zu unterhalten, konnte Gülcan selbst die spannendsten Geschichten erzählen.
Wenn Paul sein Pausenbrot mit Gülcan teilte, dann lauschte er gebannt ihren Erzählungen über ein U-Boot, das sie im See versteckte. Das U-Boot, so Gülcan, hätte früher ihrer Großmutter gehört, die eine berühmte Forscherin war und nebenbei Schätze fand und Schiffbrüchige rettete.
Paul hatte natürlich keinen Zweifel daran, dass diese Geschichten frei erfunden waren. Es war vollkommen klar, dass ein zehnjähriges Mädchen kein U-Boot besitzen konnte.
Trotzdem zeigten diese spannenden Geschichten, dass Gülcan ein echtes Abenteurerherz hatte, und Paul konnte es sich beinahe vorstellen, Gülcan im Doppeldecker mitzunehmen.
Obwohl sie ein Mädchen war!
Die Gefahr, so wusste Paul als erfahrener Pilot natürlich, bestand darin, dass man einmal ein Mädchen im Flugzeug mitnimmt und dann nicht mehr damit aufhören kann.
Das hatte ihm sein Großvater einmal mit einem Augenzwinkern erklärt. Und Paul wollte sicherlich nicht immer mit Gülcan fliegen, das war dann doch des Guten zu viel. Deshalb behielt er sein Geheimnis erst einmal für sich.
Gülcan nickte ihm noch einmal zu und Paul kramte nach Opas alter Taschenuhr. Das überhaupt Wichtigste, was Paul für die Schule brauchte, befand sich immer in seinen Hosentaschen: eine kleine Dose Feuchtigkeitscreme und Opas goldene Taschenuhr mit der seltsamen Gravur.
Alles andere konnte er vergessen, die Hausaufgaben, sein Mäppchen, aber die Uhr und die Creme mussten in der Schule unbedingt dabei sein.
Paul zog die Uhr mit der langen Kette heraus und gab Gülcan ein Zeichen, dass es losgehen konnte.
Sofort begann Gülcan, unter dem Tisch mit der kleinen Tüte zu rascheln.
Die Spielregeln waren klar: Wer am längsten rascheln konnte, ohne erwischt zu werden, hatte gewonnen.
Schon nach wenigen Augenblicken spannte sich das Gesicht von Frau Schmal-Wimmer an.
Sie redete zwar weiter, suchte aber gleichzeitig das Klassenzimmer nach diesem seltsamen Störgeräusch ab.
„Jetzt bloß nicht übertreiben Gülcan“, dachte Paul.
Die beiden Schüler der Problembank steckten ihre Hände weit unter den Tisch, die Köpfe fast auf der Tischplatte.
Kurz bevor Frau Schmal-Wimmers Blick sie erfasste wie der Strahl eines Leuchtturms hörte Gülcan auf.
28 Sekunden, dieses Mädchen hatte Nerven.
Jetzt war Paul dran.
Uhr und Tüte wechselten ihre Besitzer.
Paul hatte als Zweiter natürlich nicht mehr so viel Zeit wie Gülcan.
„Zum Donnerwetter, was ist denn das?“ Frau Schmal-Wimmer blickte streng über die Klasse, ihre mausgrauen Locken hingen noch dünner als sonst vom Kopf.
„5 Sekunden“, flüsterte Gülcan.
„Jämmerlicher Versuch.“ Sie nahm Paul die Tüte aus der Hand.
„Jetzt zeige ich dir mal, wie das geht.“
„Willst du nicht wenigstens einen Moment abwarten, bis sich die Sache beruhigt hat?“, fragte Paul und kratzte sich am Kopf. Gülcan grinste: „Los, nimm die Zeit“, und sofort raschelte es wieder im Klassenzimmer.
Frau Schmal-Wimmers Gesicht bekam rote Flecken, die bis über den Hals liefen und der Lehrerin das Aussehen eines rötlich-weißen Marmorkuchens gaben. Hektisch versuchte sie, in den Gesichtern der Schüler abzulesen, wer hinter diesem unmöglichen Geräusch steckte.
Da meldete sich Gülcan, mit einer Hand frech unter der Bank weiter raschelnd. „Frau Schmal-Wimmer, bitte, hören Sie das? Da ist schon wieder dieses komische Geräusch, ich meine, es kommt von da vorne.“
„Meinst du? Ich hätte ja eher auf hier drüben getippt. Ach Kinder, jetzt seid doch mal leise.“ Die Lehrerin schaute in der vordersten Bankreihe in jede Büchertasche.
„Ich will es ja nicht übertreiben“, flüsterte Gülcan Paul ins Ohr. 43 Sekunden, unglaublich, wie abgebrüht dieses Mädchen war. Für Paul waren das jetzt ganz, ganz schlechte Voraussetzungen. Frau Schmal-Wimmer hatte ihren Unterricht abgebrochen und suchte die Büchertaschen nach etwas ab, das ein derart aufdringliches Geräusch verursachen konnte. Vielleicht sollte Paul noch die Zeit nutzen, in der sich die Lehrerin in der ersten Reihe zu schaffen machte. Er fing an.
„Paul!“
Und wieder hüpfte der Ball aus dem Wasser.
„Pauul!“ Frau Schmal-Wimmer stand noch immer vornübergebeugt an einer Tasche, schaute aber zwischen ihren Beinen quer unter den Tischen der Klasse auf Pauls gelbe Einkaufsrascheltüte.
So schnell konnte man nicht schauen, wie die Lehrerin durch das Klassenzimmer vor die Problembank sprang. Gülcan hatte gerade noch Zeit, die Uhr in ihre Tasche rutschen zu lassen.
„Paul, wusste ich es doch!“
Was für ein Glück war Frau Schmal-Wimmer eine verständnisvolle Lehrerin, die alle, wirklich alle ihre Schüler liebte und ihnen nur das Beste wünschte, sonst hätte sie nämlich diesen frechen Bengel an den Haaren gepackt, ihn in die Besenkammer gesperrt, ihn barfuß durch die Bubentoilette laufen lassen, ihm den Kopf in einen Mädchenturnbeutel gesteckt oder was der Lehrerin sonst noch so alles einfiel, wenn sie abends auf dem Heimtrainer saß und sich die Wut über diesen Lehrerschreck abstrampelte.
Aber glücklicherweise war Frau Schmal-Wimmer eine einfühlsame, verständnisvolle Lehrkraft, die ihre Schüler auf ein Leben in der Gemeinschaft vorbereiten wollte.
„Du kommst jetzt sofort mit, du fiese kleine Kröte, mal sehen, was der Schulleiter zu deinem unmöglichen Verhalten meint!“
Mit diesen Worten rauschte Frau Schmal-Wimmer durch die Klasse und zur Tür hinaus. Paul schaute sich erst noch kurz um, folgte dann aber der Lehrerin und musste dabei ordentlich Tempo machen, um nicht den Anschluss zu verlieren.
Jetzt auch noch mit lässiger Langsamkeit aufzufallen, war nicht ratsam. Durch die leeren Gänge und zwei Treppen hoch hetzte Paul hinter Frau Schmal-Wimmer her, die mit geballten Fäusten zum Direktorat dampfte. Auf einen Schritt der Lehrerin musste Paul fünf eigene machen.
Ohne anzuklopfen stürmte Frau Schmal-Wimmer in das Zimmer von Rektor Süß, Paul atemlos hinter ihr her stolpernd.
„Es reicht, Chef. Dieser Junge hier macht nicht nur alles, um sich selbst aus der Klassengemeinschaft auszuschließen, er behindert auch noch die Mitschüler, gute Leistungen zu erzielen.“
„Na, na, so schlimm kann unser Paulchen doch gar nicht sein.“
Rektor Süß stellte die Gießkanne neben seine Zimmerlilie und kam um den Schreibtisch gewackelt. Er hatte die Angewohnheit, den großen und kleinen Übeltätern, die zu ihm ins Büro gebracht wurden, mit Daumen und Zeigefinger in die Wange zu kneifen.
„Wir waren doch alle einmal Lausejungs, nicht wahr?“
Mit diesen Worten griff er nach Pauls Wange, rutschte aber gleich wieder mit den Fingern ab.
„Niemals die Creme vergessen“, dachte Paul.
Rektor Süß blickte irritiert zu Frau Schmal-Wimmer, dann versuchte er noch einmal, Paul in die Wange zu kneifen und wieder fanden die Finger keinen Halt.
„Vielleicht braucht der Junge nur eine engmaschigere Betreuung?“
Diesmal rutschte Rektor Süß an der anderen Wange ab.
Bei der vorangegangenen Jagd hinter seiner Lehrerin durch das Schulhaus hatte Paul zwar Mühe, das ganze Gesicht einzucremen, aber es hatte sich letztendlich doch gelohnt.
Rektor Süß rutschte mit den Fingern an beiden Wangen gleichzeitig ab. „Dieser Flegel ist ja die Heimtücke in Person, Frau Kollegin. Sie müssen ihn unbedingt beispielhaft zurück in die Gemeinschaft führen. Was schlagen Sie als Sanktion vor?“
Frau Schmal-Wimmer schaute mit verschränkten Armen auf Paul.
„Nun, ich hatte da an die Karten gedacht.“
Rektor Süß zog die Augenbrauen hoch.
Ein Problem seiner Schule bestand darin, dass die Klassen auf die Stadt und einige Dörfer ringsum verteilt waren. Freitags waren die Karten für den Erdkundeunterricht noch im Haupthaus.
Am Montag früh wurden sie in der ersten Stunde in einer entlegenen Nachbargemeinde gebraucht.
Die Lehrer drückten sich gerne um diese zusätzliche Fahrt, weshalb die Karten als beliebte Strafe, Frau Schmal-Wimmer würde sagen Konsequenz, für aufsässige Schüler dienten.
Weil die Karten zu sperrig für den Transport auf dem Fahrrad waren, mussten die Übeltäter eine wahre Odyssee mit dem Bus einschließlich langer Wartezeiten über sich ergehen lassen und bekamen dabei die Gelegenheit, über ihr Fehlverhalten nachzudenken.
Hatten sie dann endlich das kleine Dorf mit der Außenstelle der Schule erreicht, war natürlich kein Lehrer mehr im Dienst. Die Karten wurden dann von einem schrulligen alten Pfarrer in Empfang genommen, der meist sehr unwirsch mit den reumütigen Schülern umging.
Eine höchst unangenehme Begleiterscheinung dieser Art der Bestrafung war zudem, dass sie sich mittlerweile herumgesprochen hatte und jeder Bescheid wusste, der am Wochenende ein Kind mit einem unhandlichen Paket an der Bushaltestelle stehen sah.
Die Mütter und Väter wurden in den Elternbriefen regelmäßig dazu angehalten, ihren Kindern diese Erziehungsmaßregel nicht mit dem Auto zu erleichtern.
„Eine großartige Idee, Frau Kollegin. So kann unser kleiner Quertreiber seine Schulden am Gemeinwohl ausgleichen, indem er seine freie Zeit am Wochenende opfert.“
Paul zeigte keine Regung.
Am Wochenende sollte es schön warm werden, seine Klassenkameraden würden sich bestimmt im Schwimmbad treffen.
Keine Hausaufgaben, stattdessen Sonne und wolkenloser Himmel.
Paul unterdrückte ein Grinsen.
Beste Flugbedingungen.
Es hatte diesmal wirklich ungewöhnlich lange gedauert, bis Paul seinen Kurierflug mit den Karten in der Tasche hatte, aber zum Schluss war dann doch alles nach Plan gelaufen.
Wenn Paul selbst bestimmen konnte, was die Lehrer zu machen hatten, dann war das mit der Selbstbestimmung eine großartige Idee.
Dann konnte Frau Schmal-Wimmer voll und ganz mit Paul rechnen.
Der höchst eigentümliche Pfarrer Vierneisel
Wenn Frau Schmal-Wimmer gewusst hätte, welche Vorbereitungen ein geheimer Flug an einem Samstagvormittag benötigt, dann hätte sie ihren gesamten Mathematikunterricht über den Haufen werfen müssen.
Die Flüge zum alten Pfarrer Vierneisel, bei dem die abgestraften Schüler die Karten abgeben mussten, waren deutlich anspruchsvoller als alle anderen Unternehmungen zusammen.
Das lag hauptsächlich daran, dass Paul sich unbemerkt von seinen Eltern davon stehlen musste, was an einem gewöhnlichen Wochentag natürlich viel einfacher war als an einem Wochenende.
Gerade samstags fiel es der Mutter seltsamerweise immer ein, dass Paul wieder einmal sein Zimmer aufräumen könnte.
Und Pauls Vater bekam regelmäßig an den Wochenenden so merkwürdige Ideen, das Vater-Sohn-Verhältnis besonders herauszustellen. „Mein Junge, heute zeige ich dir wie man …“
Mit diesen Worten begann der Vater meistens die unvermeidliche Katastrophe, in deren Verlauf er Paul zum Beispiel den Ausbau einer Lichtmaschine am Auto oder ähnlich heikle Aktionen vorführte.
Paul stellte sich dann immer daneben und musste sich arg beherrschen, seinem Vater nicht ständig zu erklären, welch groben Unfug er da mit seinem Auto anstellte.
Meistens gingen diese Vater-Sohn-Geschichten so aus, dass Pauls Vater gegen Nachmittag kleinlaut nach einer Werkstatt suchen musste, die den angerichteten Schaden wieder in Ordnung brachte.
Unter diesen verschärften Bedingungen an den Wochenenden war natürlich eines völlig klar: Bevor Paul zum Pfarrer Vierneisel fliegen und dort die Karten abliefern konnte, musste er seine Eltern ausreichend beschäftigen.
„Papa, wie erkläre ich in der Schule am besten den Begriff Struktur?“
Pauls Vater schaute nicht einmal hinter seiner Zeitung hervor.
„Struktur, mein Sohn, ist das überhaupt Wichtigste im Leben. Sie ist wie ein tragendes Gerüst, oder wie ein fester Fahrplan, der alle Abläufe regelt.“
„Dann ist also die Art, wie Mama die Hausarbeit macht, ein gutes Beispiel für Struktur?“
Dafür bekam Paul von seiner Mutter, die gerade das Besteck abräumte, ein Lächeln.
Sein Vater hatte nun die Zeitung zusammengefaltet und lehnte sich, die Kaffeetasse wie einen Zeigestock schwingend, zurück.
„Interessant, dass du gerade das ansprichst. So, wie deine Mutter nämlich den Haushalt führt, fehlt tatsächlich jegliche Art von Struktur.“
Pauls Mutter ließ die abgeräumten Teller mit einem lauten Knall auf die Arbeitsplatte fahren. „Was soll denn das heißen?“, bellte sie. „Ich glaube, ich höre nicht recht!“
„Aber Liebling, bitte, das kann man doch auch ganz sachlich diskutieren. Und wenn der Junge und du dabei noch etwas lernt, dann haben wir alle etwas davon. Schau mal Paul, deine Mutter hat eben noch die Arbeitsplatte abgewischt und stellt jetzt das schmutzige Geschirr darauf. Strukturiertes Vorgehen würde aber bedeuten, dass sie erst ...“
„Ich räume wenigstens ab und lasse mich nicht wie der werte Herr von vorne bis hinten bedienen! Unglaublich! Erst muss ich mir sagen lassen, ich wäre mit meinem Haushalt überfordert, und dann soll ich auch noch hübsch freundlich bleiben. Möchten der Herr vielleicht noch eine Tasse Kaffee?“
„Oh ja, danke, das wäre nett. Wobei wir hier, Paul, zu einem weiteren anschaulichen Beispiel für meine Ausführungen kommen: dem Verschluss auf der Kaffeekanne.“
Pauls Vater angelte sich die Kanne vom Tisch und drehte sie in der Hand wie einen seltenen Brocken Mondgestein.
„Dieser Verschluss ist in unserem Haus genau wie der Deckel auf dem Honigglas nie gerade zugeschraubt, sondern verkantet im Gewinde. Ein planvolles, strukturiertes Vorgehen würde dagegen sicherstellen ...“
Während der Vater weiter schulmeisterte und sich dabei um Kopf und Kragen redete, beobachtete Paul die letzten Warnsignale seiner Mutter, die kerzengerade mit zurückgezogenen Schultern mitten in der Küche stand und langsam tief Luft holte.
Jetzt erinnerte sie Paul an eine Rakete kurz vor dem Start: Fünf, Vier, Drei, die Gerüste fielen rechts und links zur Seite, Zwei, Eins, die Triebwerke wurden gezündet, Rauchschwaden verhüllten die Sicht.
Das war genau der Moment, an dem sich Paul unbemerkt aus der Küche stehlen konnte.
Er wusste, wie es jetzt weitergehen würde: eine lautstarke Gardinenpredigt, in der seine Mutter ohne Punkt und Komma seinem Vater alles um die Ohren hauen würde, was sie die Woche über im Haushalt alles macht, während der „Herr Superwichtig“ es sich im Büro gut gehen ließ.
Papa würde immer hilfloser beschwichtigen, bis er einsah, dass er bis zum Äußersten gehen musste. Er würde Pauls Mutter dann fragen, ob sie nicht gemeinsam in die Stadt zum Einkaufen gehen möchten. Diese Wiedergutmachung schaffte genügend Zeit für den Flug zum Pfarrer Vierneisel.
Paul schlich sich über den Hof in die alte Scheune.
Im hinteren Bereich, dort wo kaum noch Licht vom großen Tor einfiel, standen der alte Rasenmäher, die Spielzeugeisenbahn und viele andere Dinge, die Pauls Vater irgendwann einmal bei seinen „komm Junge, ich zeig dir mal wie...“ Aktionen ruiniert hatte.
Weil Mutter immer schimpfte, dass diese Sachen endlich einmal repariert gehören, machte Papa einen großen Bogen um diesen Teil der Scheune und Paul konnte sicher sein, dass sein Flugzeug hier unentdeckt bleiben würde.
Paul holte die in einem schwarzen Leinensack verstauten Karten unter einem Stapel Kisten hervor.
Hier hatte er sie versteckt, damit seine Eltern keine peinlichen Fragen über die Schule stellen konnten.
Dann stieg er über die alten Möbel seines Großvaters und öffnete das verwitterte hintere Scheunentor, das von seinen Eltern schon lange nicht mehr benutzt wurde. Auf der Rückseite der Scheune lag die große Wiese, die Paul als Start- und Landebahn diente. Hier stand der Doppeldecker.
Im Morgengrauen, als die Eltern noch schliefen, hatte Paul das Flugzeug aus der Scheune gerollt und noch einige wichtige Reparaturen erledigt.
Paul klopfte zärtlich auf das Heck.
Es war ein wunderschöner Doppeldecker, dunkelgrün und schwarz lackiert, auf beiden Seiten glänzte jeweils ein Wappen mit einem brüllenden Bärenkopf.
Der Rumpf der Maschine hatte etwas Ähnlichkeit mit einer Walze, kurz und dick, zum Heck hin spitz zulaufend. Der Bug dagegen wurde bestimmt von dem mächtigen Motorblock und dem hölzernen Propeller.
Großvater hatte lange vor Pauls Geburt einen Zündmechanismus eingebaut, mit dem er den Motor auch alleine zum Laufen bringen konnte.
Als sie dann gemeinsam unterwegs waren, konnte der alte Mann den Propeller andrehen, während sein Schüler im Cockpit saß und die Maschine startete.
Jetzt war Paul alleine.
Er überprüfte die Instrumente und befestigte Großvaters goldene Taschenuhr am Armaturenbrett. Drei Symbole waren auf die Innenseite des Deckels eingraviert, darunter die Worte: mit Mut, mit Können, mit Liebe.
Paul stellte die Zündung ein, sprang vor das Flugzeug und drehte den Propeller erst ein paar Mal langsam in die entgegengesetzte Laufrichtung. Dann wuchtete er den Propeller schnell herum.
Nach dem dritten oder vierten Versuch sprang der Motor an und tuckerte von selbst vor sich hin.
Paul kletterte zurück ins Cockpit, setzte die Sturmhaube und die Fliegerbrille auf und gab vorsichtig Gas.
Der Doppeldecker war schon über 90 Jahre alt, und obwohl Paul erst vor ein paar Tagen den Motor auseinandergenommen, gesäubert und wieder zusammengesetzt hatte, rüttelte die Maschine ganz fürchterlich, als sie sich in Bewegung setzte.
Immer weiter schob Paul den Gashebel nach vorne und die Maschine beschleunigte auf dem Feld. Den Gashebel am Anschlag schoss das Flugzeug über die Wiese.
Jetzt den Steuerknüppel vorsichtig an den Bauch ziehen und abheben.
Sofort verstummten das nervige Quietschen der Räder und das Schleifen des Hecksporns auf der Wiese. Nur noch das Pfeifen des Windes und das monotone Auf und Ab des Motors waren zu hören.
Paul liebte den Start, das Kribbeln im Bauch und den Druck auf den Beinen, wenn der Doppeldecker nach oben stieg.
Die Welt unter ihm wurde kleiner und unbedeutender.
Er fühlte sich frei.
Nach wenigen Minuten hatte er seine Flughöhe erreicht und brachte die Maschine auf Kurs zum Pfarrer Vierneisel.
Die Felder zogen langsam unter ihm vorbei, im Süden lagen schimmernd der große See und dahinter das Gebirge. Paul malte sich oft aus, welche Länder wohl hinter den Bergen liegen mussten. Spannende Abenteuer gab es dort sicher zu bestehen und Paul nahm sich vor, irgendwann einmal über das Gebirge zu fliegen.
Irgendwann einmal, aber nicht heute. Heute brachte er die Karten zum Pfarrer Vierneisel. Auf und ab dröhnte der Motor und der Wind wehte um Pauls Gesicht.
Der Doppeldecker war früher als Schulungsflugzeug im Einsatz gewesen, deshalb gab es zwei hintereinanderliegende Cockpits. Paul saß hinten, vorne war Platz für die unhandlichen Karten.
Bei seinen ersten Flügen hatte Paul seinen Platz noch vorne einnehmen müssen, während sein Großvater die Maschine vom hinteren Cockpit aus steuerte und durch den Fluglärm all das nach vorne brüllte, was gerade besonders wichtig war.
Irgendwann einmal durfte Paul dann im hinteren Cockpit sitzen und das Flugzeug selbst steuern.
Großvater gab dann nur noch ein paar wenige Anweisungen, denn Paul war ein gelehriger Schüler, der schnell die Kunst des Fliegens beherrschte.
Die ersten Flüge zum Pfarrer Vierneisel mit den Karten hatte Paul noch mit seinem Großvater zusammen unternommen. Nach der Landung blieb der alte Haudegen aber immer beim Flugzeug und schickte Paul alleine mit den Karten zum Pfarrer.
„Besser, wenn ich hier bleibe“, meinte Großvater dann immer.
„Der alte Vierneisel kennt mich gut und er würde bestimmt erraten, auf welche Weise wir zu ihm gekommen sind.“
Die ersten Flüge zum Pfarrer Vierneisel nach Opas Beerdigung waren für Paul natürlich sehr schlimm. Er konnte nicht glauben, dass nun niemand mehr an der Maschine auf dem Feld wartete, nachdem er die Karten abgeliefert hatte.
Weil sich aber Großvater und der Pfarrer Vierneisel von früher wohl so gut kannten, hatte Paul nach einiger Zeit das Gefühl, mit den Besuchen im Pfarrhaus auch wieder etwas von Opas Geschichte aufleben zu lassen.
Der Flug bei diesem herrlichen Sommerwetter war das reinste Kinderspiel.
Paul schaute rechts am Motor vorbei und erkannte auch schon bald den Kirchturm. Er lenkte sein Flugzeug in eine leichte Kurve, damit er den möglichen Landeplatz erst einmal überfliegen konnte.
„Jeder Buschpilot“, so hatte ihm sein Opa beigebracht, „fliegt erst einmal über die Landebahn und schaut nach, ob sie auch in Ordnung ist.“
Paul ging meistens auf einem Feld abseits des kleinen Dorfes herunter, weil er dort durch eine Reihe großer Hecken vor neugierigen Blicken geschützt war. Aber natürlich musste er immer überprüfen, ob nicht gerade ein Bauer unter ihm bei der Arbeit war.
Am Wetterhahn der Dorfkirche konnte Paul die Windrichtung absehen und dann mit einer sanft gezogenen Kehre zur Landung auf dem Feld ansetzen.
Je mehr er mit zurückgenommenem Gas an Höhe verlor, umso schneller zogen die Felder und Büsche an ihm vorbei. Nur noch ein paar Meter bis zum Boden, Paul nahm das Gas weg, zog die Nase des Flugzeuges etwas nach oben und setzte sanft auf.
Sofort begannen die Räder wieder zu quietschen und Paul lenkte das knarrende Flugzeug an die große Hecke, stellte den Motor ab, packte sich die sperrigen Karten auf den Rücken und machte sich auf den Weg.
Nach einigen 100 Metern ging ein Pfad durch die Hecken an zwei Bauernhöfen vorbei ins Dorf.
Paul schlug den Weg zur Kirche ein.
Niemand war auf der Straße, nur vor dem Pfarrhaus stand ein dunkles Auto, in dem ein Mann mit einem schwarzen Hut saß.
An der Eingangstür des Pfarrhauses klopften zwei Männer ungeduldig gegen das Holz.
Paul versteckte sich hinter einer Hausecke.
Wenn die Männer die Landung des Doppeldeckers hinter der Hecke beobachten konnten, dann sollten sie nicht einen kleinen Jungen aus eben dieser Richtung kommen sehen.
Die beiden Männer an der Pfarrhaustüre hatten es wohl aufgegeben, weiter zu klopfen.
Sie stiegen in das Auto zu dem wartenden Mann und fuhren los. Nachdem der dunkle Wagen mit quietschenden Reifen um die Ecke gebogen war, kam Paul wieder aus seinem Versteck.
Der alte Pfarrer war offensichtlich nicht in seinem Haus, deshalb ging Paul gleich durch das schwere eisenbeschlagene Tor in den Pfarrgarten.
„Hallo, Herr Pfarrer?“ Der große Pfarrgarten war leer, nur von einem der hinteren Obstbäume kam ein Rascheln.
„Herr Pfarrer Vierneisel, hallo, sind Sie da?“
„Ja kann man denn nicht einmal in Ruhe von seinem Baum fallen!“
Paul musste zweimal nachschauen, woher diese krächzende Stimme kam.
Hoch oben auf einem der letzten Bäume, knapp vor der Dorfmauer, saß ein kleines Männlein, drückte sich immer wieder mit den Händen ab und ließ sich dann mit dem Hinterteil auf den Ast fallen. Der alte Pfarrer Vierneisel.
Beim Näherkommen erkannte Paul, dass sich der Pfarrer in einem besorgniserregenden Zustand befand. Das Gesicht blutverschmiert, über die Halbglatze zog sich eine lange Narbe.
Die schwarze Kutte war eingerissen und hing an manchen Stellen in Fetzen vom Körper. Der früher einmal weiße Kragen war dunkel von Blut und Dreck.
„Ist alles in Ordnung, Herr Pfarrer?“ Paul hatte die Karten an den Baum gelehnt und suchte den besten Blick nach oben durch die Äste.
„Nichts ist in Ordnung, jetzt geh weg da unten, nicht dass ich noch auf dich drauf falle.“
„Kann ich Ihnen nicht irgendwie helfen?“
„Doch natürlich, du kannst mir helfen, wenn du nur noch etwas da vorne am Tor wartest.
Wenn ich vom Baum gefallen bin, dann kann ich dich gut gebrauchen. Du könntest mir als Zeuge zur Seite stehen.“
Und mit diesen Worten sauste er wieder auf den Ast.
„Ich glaube, ich hole dann mal jemanden.“ Paul wandte sich dem Pfarrhaus zu.
„Halt, halt, halt, du musst dir keine Sorgen machen!“, rief der Pfarrer von oben herunter. Paul setzte sich in Bewegung.
„So ein unbelehrbarer Bengel!“ Flink kletterte der alte Pfarrer Vierneisel vom Baum, humpelte Paul hinterher und legte ihm keuchend die Hand auf die Schulter.
„Das wäre jetzt, na sagen wir mal, etwas ungünstig, wenn mich meine Schäfchen in diesem Zustand sehen könnten.“
Paul blickte den Pfarrer regungslos an. Er hatte schon oft die Karten abgeliefert, und seltsam war der Pfarrer Vierneisel eigentlich auch schon immer gewesen, aber so hatte ihn Paul noch nie erlebt.
„Was ist denn bloß mit Ihnen passiert? Soll ich nicht doch besser Hilfe holen?“
„Nein, auf gar keinen Fall! Mach dir keine Sorgen. Es handelt sich hierbei“, und er hielt einen Fetzen seiner Kutte hoch, „doch nur um die Folgen einer kleinen naturkundlichen Expedition.“
„Ich ruf dann mal einen Krankenwagen.“
„Aber wieso denn?“
Pfarrer Vierneisel war schnell um Paul herum gehuscht und versperrte ihm nun den Weg zum Pfarrhaus. Paul blickte ihm fest in die Augen. Nach einer Weile ließ der alte Mann die Schultern sinken. Er überlegte kurz, dann holte er tief Luft und sagte zu Paul: „Na gut, ich will es dir erklären. Es wäre aber nett, wenn du die Geschichte für dich behalten könntest. Es gibt überhaupt keinen Grund, alles an die große Glocke zu hängen, verstehst du? Aber du scheinst mir ohnehin geübt im Umgang mit Geheimnissen, oder?“
Bei dem „oder“ zog der alte Pfarrer nur eine Augenbraue hoch.
Jetzt konnte Paul seinem Blick nicht mehr standhalten. Er schaute auf den Boden und kratzte mit den Schuhen in der Erde herum.
„Hol die Karten, du bekommst im Pfarrhaus eine Limonade. Vom Baum fallen kann ich später immer noch.“ Pfarrer Vierneisel drehte sich um und humpelte mit auf dem Rücken verschränkten Armen zum Tor des Pfarrgartens.
Paul eilte sich, die Karten am Baum zu holen und hinter dem Pfarrer her zu kommen. Während Paul noch nach Luft suchte, begann Pfarrer Vierneisel seinen Vortrag: „Eine der bemerkenswertesten Vogelarten überhaupt ist doch wohl die Schleiereule, nicht wahr? Alleine über die Anordnung ihrer Kopffedern könnte ich dir stundenlang berichten.
Aber nun gut. Wir haben das seltene Glück, derzeit eine junge Brut dieser außergewöhnlichen Vögel in unserer Gemarkung zu haben, und zwar in der Scheune vom alten Bauern Zinsmeier.“
Pfarrer Vierneisel und der neben ihm herschnaufende Paul hatten das Tor des Gartens erreicht und gingen von hier aus quer über den gepflasterten Platz zum Pfarrhaus.
„Nun kümmert sich dieser störrische Bauer aber in keinster Weise um das wunderbare Schauspiel, das sich da unter dem Dach seiner Scheune zuträgt, und deshalb muss eben ich regelmäßig nach dem Rechten sehen.
Der alte Quertreiber weiß natürlich nichts davon, dass ich in seiner Scheune herumklettere, und das soll auch so bleiben. Der hätte sowieso kein Verständnis dafür, dass man sich auch um Tiere, die man nicht essen kann, kümmern muss.“
Pfarrer Vierneisel stieg die Treppen zum Pfarrhaus hoch und zog dabei sein linkes Bein auffällig nach.
„Heute Nacht nun war ich wieder in der Scheune bei den Eulen und dabei bin ich vom obersten Balken abgerutscht, durch den morschen Bretterboden geschlagen und in die Schnapsbrennerei gestürzt, die der alte Zinsmeier unten in seiner Scheune stehen hat.
Muss wohl ziemlich laut gewesen sein, denn gerade als ich wieder zwischen all den Flaschen mit Zinsmeiers bemerkenswertem Obstbrand zu mir kam, da rannte auch schon der Alte vom Haupthaus mit einer Schrotflinte im Anschlag auf die Scheune zu. Wo ist denn nur dieser Schlüssel?“
Pfarrer Vierneisel suchte in seinem zerrupften Umhang nach dem Schlüssel für das Pfarrhaus.
„Da es allerdings nur zu Missverständnissen führt, wenn mich der alte Zinsmeier in diesem Zustand in seiner Schnapsbrennerei erwischt, bin ich also geflüchtet, so schnell mich meine alten Beine noch tragen konnten. Aha, da ist er ja.“ Pfarrer Vierneisel schloss die Tür zum Pfarrhaus auf, blieb aber noch auf der Schwelle stehen und beugte sich zu Pauls Ohr hinunter: „Und weil ich natürlich eine Erklärung für meinen im Moment etwas unangemessenen Zustand brauche, will ich von einem meiner Obstbäume fallen. Wenn es mich nur ordentlich durch die Äste haut, muss ich nichts Falsches sagen, wenn man mich nach meinen jüngsten Verletzungen fragt. Und niemand bringt mich mit dem nicht ganz so offiziellen Besuch in der Scheune vom Zinsmeier in Verbindung.“
Pfarrer Vierneisel verschwand im dunklen, kühlen Gang des Pfarrhauses.
Paul hatte die schweren Karten auf der obersten Stufe abgesetzt und atmete erst einmal durch.
„Aber Herr Pfarrer, brüten die Schleiereulen nicht im Frühjahr?“
Drinnen im Pfarrhaus hörte man etwas klappern und auf den Boden fallen, dann erschien das Gesicht vom alten Pfarrer Vierneisel wieder im Gang.
„Natürlich, natürlich, nur handelt es sich bei den Eulen in der Scheune um eine sehr seltene Unterart, nämlich um den so genannten augustbrütenden Destillenkauz. Und gerade weil er so selten ist, benötigt er eben besondere Pflege und Fürsorge. Aber was weißt du denn schon. Komm in die Küche, da bekommst du deine Limonade und gut ist. Wo ist denn die Mamsell, wenn man sie mal braucht?“
Weil die dicke Haushälterin nirgends zu finden war, ging Pfarrer Vierneisel selbst in die Küche und kam mit einer Limonadenflasche und zwei Gläsern wieder heraus.
Paul ging wie immer bei seinen Besuchen im Pfarrhaus die vielen Fotografien im Gang ab. Da sah man vornehm gekleidete Geistliche in prunkvollen Kirchen, aber auch ein einfaches Holzkreuz inmitten von Lehmhütten, Bilder von lachenden dunkelhäutigen Kindern und alten Menschen, die ein wenig wie Indianer aussahen.
Eine Fotografie fesselte Paul besonders: ein Schwarz-Weiß-Bild, eher schon ins Rostrote übergehend, mit drei alten Flugzeugen auf einem Feld.
Ganz links ein heller Eindecker, der Pilot, der ab der Brust aus dem fast wie ein Holzbalken wirkenden Rumpf schaute, war beinahe die einzige Erhebung des Flugzeuges. Nur vorne am Bug war ein winkelartiges Gestell montiert, durch das die Verstrebungen für die Flügel liefen.
Daneben ein Doppeldecker mit weit ausladenden Tragflächen, die Nase war an der Unterseite abgeflacht, so als hätte man ein Stück des Motorblocks schräg abgesägt.
Und auf der rechten Bildseite der Doppeldecker, den Paul so gut kannte, mit wuchtigem Motor, kurzen Flügeln und walzenförmigem Rumpf.
Auf allen drei Flugzeugen war das Wappen mit dem Bärenkopf gemalt.
Die drei jungen Piloten lachten den Betrachter des Bildes fröhlich an.
Besonders verschmitzt wirkte der Pilot in Pauls Doppeldecker.
„Dein Großvater war ein ganz besonderer Mensch.“ Pfarrer Vierneisel stand hinter Paul und betrachtete ebenfalls das Bild. Seltsam nachdenklich wirkte er dabei.
„Ich habe später noch gute Männer gesehen, aber niemals bessere als diese drei.“ Paul kannte die Geschichte zu diesem Bild.
Die beiden Piloten neben Großvater waren der Oberst und Doktor Capello. Großvater und der Oberst gingen zusammen in eine Flugschule und lernten dort den Doktor kennen.
„Jetzt komm in die Stube“, drängte der Pfarrer.
„Du musst mir einiges erzählen.“
Im Wohnzimmer setzte sich Pfarrer Vierneisel in seinen Ohrensessel und legte die Füße auf einen Holzschemel.
„Was hast du denn diesmal angestellt, dass du die schweren Karten bringen musst?“
Paul nahm sich ein Glas Limonade, setzte sich auf einen Stuhl und erzählte dem grinsenden Pfarrer Vierneisel vom Schiffe versenken, von der verhauenen Rechenaufgabe und von Gülcans Raschelpapier.
„Unglaublich, wie sehr du deinem Großvater ähnelst. Der konnte auch nicht machen, was er sollte und ständig hatte er nur Unfug im Kopf. Na und die beiden anderen Männer waren auch nicht viel besser.“
„Aber der Oberst war doch bestimmt als Soldat so, naja, pflichtbewusst und zuverlässig?“
Pfarrer Vierneisel lachte laut heraus.
„Mein Junge, Oberst wurde er schon lange vor seiner Zeit beim Militär genannt. Er war halt schon immer ein schnittiger Kerl und hat gerne das Kommando geführt. Als ich die drei kennenlernte, da war da noch nichts mit zuverlässig, das kam erst später.
Dein Großvater und seine zwei Freunde haben mit ihren Flugzeugen so ziemlich alles angestellt, wovon man besser die Finger lassen sollte.“
Paul zog die Augenbrauen nach oben.
„Nicht, dass du etwas Falsches von deinem Großvater denkst“, beeilte sich Pfarrer Vierneisel zu ergänzen.
„Er war ein guter Mann. Die drei haben nur mit ihren Flugzeugen Sachen über das Gebirge geschafft, für die sie ganz schönen Ärger bekommen hätten, wenn sie den Gendarmen in die Finger gefallen wären.“
„Dann waren Opa und seine Freunde also Schmuggler?“
„Schmuggler? Ach weißt du, es waren eben drei junge Männer, die nach ihren eigenen Regeln lebten. Aber sie haben nichts herüber gebracht, womit ich nicht einverstanden gewesen wäre. Du darfst mir eines glauben mein Junge, die Kirche hier zum Beispiel würde nicht so aussehen, wenn es diese drei nicht gegeben hätte. Und ich habe ihnen geholfen.
Wenn zum Beispiel Nebel oder schlechtes Wetter war, habe ich die Glocken geläutet, damit sie ihre Landebahn finden konnten. Du musst dir das so vorstellen, Paul. Es gab durch das Gebirge nur zwei Möglichkeiten, wie man unterhalb der Gipfel und somit vor neugierigen Blicken geschützt fliegen konnte.
Einmal die Passstraße entlang, die hatte natürlich den Nachteil, dass man von einem Fuhrkarren oder von den Berittenen entdeckt werden konnte. Damals wurde schnell geschossen, auch auf Flieger.“
Paul vergaß zu trinken.
„Aber dann gab es auch noch die Bärenpassage, gefährlich und extrem schwer zu fliegen, nichts für Angsthasen.
Und die drei waren auf der Bärenpassage zuhause. Ich glaube, dein Großvater hätte sie auch mit verbundenen Augen fliegen können. Und wahrscheinlich hat er es auch gemacht. Na, lassen wir das.“ Der Pfarrer nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Paul hörte weiter still zu.
„Irgendwann war das wilde und ungebundene Leben vorbei, und ihr Land hat sie gerufen. Dein Großvater und der Oberst gingen in die Armee, Doktor Capello aber wollte so weitermachen wie bisher. Es war ja auch eine lustige Zeit und mit diesen gefährlichen Kurierflügen konnte man auch einen hübschen Gewinn machen. Aber es war sehr riskant, alleine zu fliegen.
Kurz nach der Trennung der Gruppe war Doktor Capello bei sehr schlechtem Wetter gegen den Rat seiner Leute gestartet, kam aber nie auf unserer Seite des Gebirges an. Drei Tage lang habe ich die Glocken geläutet, aber ohne Erfolg. Der Eindecker, das Markenzeichen vom Doktor, zog nie mehr über unseren Himmel. Wahrscheinlich liegt das Wrack in einer der vielen unzugänglichen Schluchten.
Der Oberst und dein Großvater haben sich den Tod von Doktor Capello sehr zu Herzen genommen.
Ich glaube, ihre Schuldgefühle, weil sie ihn alleine gelassen hatten, waren der Grund, warum sie sich später fast nicht mehr getroffen haben.
Der Oberst hat Karriere bei der Armee gemacht und wurde tatsächlich ein richtiger Oberst. Dein Großvater hat nach dem Krieg die Armee wieder verlassen, zu viele Regeln, sagte er. Ja, so waren diese drei. Das waren außerordentlich gute Flieger. Das wusste ich von Anfang an. Einen guten Flieger erkenne ich sofort am Blick.“
Pfarrer Vierneisel schaute Paul einen Moment zu lange an.
Paul wich dem Blick des Pfarrers aus und stellte sein leeres Limonadenglas auf den Tisch.
„Was hat denn der Bärenkopf auf den Flugzeugen bedeutet?“
Pfarrer Vierneisel schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel.
„Das erzähle ich dir auf dem Weg zur Kirche. Die Karten müssen noch auf die Empore.“
Es war allseits bekannt, dass der gute alte Pfarrer nach einem anstrengenden Wochenende montags gerne etwas länger im Bett blieb. Wenn dann in aller Frühe ein Lehrer die Karten für den Unterricht abholen wollte, dann schlief Pfarrer Vierneisel meistens noch. Mit der Schule hatte er deshalb die Vereinbarung, dass die Karten in der Kirche oben auf der Empore lagen und dort abgeholt werden konnten.
„Bist du so lieb, Paul, und trägst mir die Karten in die Kirche? Ich fühle mich noch immer etwas unpässlich.“
Paul stemmte sich den Packen auf den Rücken und der Pfarrer klopfte gegen den harten Lederumschlag: „Ein paar von den älteren Karten sind übrigens von deinem Großvater.
Nachdem sich die Gruppe aufgelöst hatte, spendete er einen Teil seiner Habseligkeiten der Gemeinde. Also trag die Karten mit Ehrfurcht.“
Paul und der Pfarrer verließen das Pfarrhaus und überquerten den Kirchplatz. Pfarrer Vierneisel verschränkte wieder die Hände auf dem Rücken.
„Also der Bärenkopf. Ja nun, das war ja nicht alles so ganz sauber, was die drei da mit ihren Flugzeugen machten.
Und öfters als einmal wurden sie von den Gendarmen gejagt, sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite der Berge. Wenn sie sich also mal wieder für ein paar Tage verstecken mussten, dann machten sie das in einer entlegenen Hütte in den Bergen. Zu essen gab es da natürlich nicht viel, nur die Fische, die sie aus einem nahe gelegenen Fluss fangen konnten. Allerdings gab es da auch Bären.“
Pfarrer Vierneisel nickte Paul zu, den Seiteneingang der Kirche zu nehmen. „Ich will nicht, dass mich vielleicht noch die Alten in der Kirche so sehen. Wo war ich? Ach ja, die Bären. Die haben sich natürlich auch die Fische aus dem Bach gefangen und niemand durfte in ihre Nähe kommen. Gefährliche Biester, sag ich dir.“
Pfarrer Vierneisel öffnete den Seiteneingang der Kirche einen Spalt weit, lugte hinein und grinste Paul dann an. „Deshalb sind immer zwei von den Männern in den Flugzeugen über den Fluss geflogen und haben die Bären verscheucht, der Dritte war am Fluss und hat den Fisch gefangen. Das muss da ganz schön wild zugegangen sein, die Piloten flogen knapp über dem Boden mit Überschlägen, um die Bären von dem Mann am Fluss weg zu halten.
Bärentanz haben sie dieses Spektakel genannt.“
Pfarrer Vierneisel schob Paul mit den Karten durch die Tür ins Seitenschiff der Kirche. Im Hauptraum vor dem Altar saßen ein paar alte Frauen, ins Gebet versunken. An der Wand entlang, vor möglichen neugierigen Blicken geschützt, huschte Pfarrer Vierneisel zur Empore. Der Begriff Empore war fast ein wenig schmeichelhaft für den kleinen Überbau der Beichtstühle, die an der Wand des Seitenschiffes standen.
Von Kirchgängern wurde die Empore nicht genutzt, vielmehr verstaute der Pfarrer hier entgegen den brandschutzrechtlichen Verordnungen die Fahnen für die Prozession.
Hier musste also jeden Montagmorgen ein Lehrer die Karten holen.
Am Fuß der engen Wendeltreppe, die auf die Empore führte, erzählte Pfarrer Vierneisel weiter: „Als einmal dein Großvater den Fisch fangen sollte, während die beiden anderen die Bären vertrieben, ist etwas Seltsames passiert.
Die Alttiere waren alle vor den Flugzeugen geflüchtet und hatten deshalb auch keinen Fisch, als ein noch ganz junger Bär den Tieffliegern zum Trotz auf deinen Großvater zu gewatschelt kam. Kerzengerade hoch in die Luft schossen der Oberst und Doktor Capello mit ihren Flugzeugen und stürzten sich wieder auf den kleinen Bären. Aber der ließ sich nicht einschüchtern. Vor deinem Großvater hat er sich aufgestellt, auch wenn er noch so klein war, dass er ihm nur bis zur Hüfte ging. Dein Großvater war am Anfang erschrocken, aber dann hat ihn der Mut des kleinen Bären beeindruckt, und er hat ihm ein paar Fische aus seinem Eimer an das Ufer gelegt.“
Pfarrer Vierneisel nahm Paul die Karten ab und keuchte die Wendeltreppe hoch. Oben auf der Empore verstaute er die Karten zwischen den Fahnen und sprach, so wie er es als Pfarrer am liebsten tat, zu dem unten stehenden Paul: „In dieser Geschichte hat sich alles das abgespielt, was den drei jungen Piloten wichtig war: der Mut des Bärenjungen, sich einer gefährlichen Situation zu stellen und unbeirrt zu sagen, ich will. Das Können der beiden Piloten in der Luft, und die Mildtätigkeit deines Großvaters.
Deshalb haben die drei den Bären zu ihrem Wappen gewählt. So“, Pfarrer Vierneisel ging wieder zur Wendeltreppe.
„Wenn du jetzt bitte noch“, Holz splitterte, krachte, knallte, ein Schrei, Rumpeln, Knallen, kurz nach oben geworfene Hände, Scheppern aus dem mittleren Beichtstuhl, Staub aus allen Ritzen, der Pfarrer weg.
Paul wusste erst einmal nicht, was er eben gesehen hatte. Und wenn er es gewusst hätte, dann wäre er nicht sicher gewesen, ob er es glauben sollte.
Von einem der seitlichen Beichtstühle flog die Tür auf, eine alte Frau sprang geduckt heraus „Jesusmariandjosef!“ und rannte zu den anderen Frauen im Hauptschiff.
„Der Leibhaftige! Der Leibhaftige ist in die Beichte gefahren!“
Paul eilte zur Tür des mittleren Beichtstuhls und riss sie auf. Von dem ehemals roten Samtbezug war nichts mehr zu sehen. Fast der ganze Beichtstuhl war voll zersplitterter Holzplanken und Lehmbrocken.
An einer abgebrochenen Latte an der Decke hing ein langer Fetzen des Umhangs von Pfarrer Vierneisel.
„Um Himmels willen!“ Vom Haupteingang der Kirche schrie die dicke Haushälterin.
„Herr Pfarrer!“ Sie rannte, was sie konnte zum eingestürzten Beichtstuhl, ihren gewaltigen Körper beim Laufen immer nach links und rechts schwingend.
„Weg da!“ Sie schob Paul zur Seite und begann, den Schutt aus dem Beichtstuhl zu schaffen, bis der blutige Kopf und der Oberkörper des bewusstlosen Pfarrers freilagen.
„Hochwürden, wachen Sie doch auf!“ Auf dem Schutthaufen kniend fing die Haushälterin an, den Pfarrer zu ohrfeigen, damit er wieder zu sich kommt. Links, rechts, links, rechts, vielleicht ein wenig fester, als es für die Erste Hilfe notwendig gewesen wäre. Die Ohrfeigen nutzten nichts, die robuste Dame ging dazu über, den armen Pfarrer mit Faustschlägen zu bearbeiten. Links, rechts, links, rechts, dass es nur so staubte.
„Ahhhh, nicht totschlagen.“ Die Stimme von Pfarrer Vierneisel klang noch schwach, die dicke Mamsell schlug noch zweimal sicherheitshalber zu, dann schaffte sie weiter Holzlatten und Lehmbrocken vom geschundenen Geistlichen. Mittlerweile hatten sich auch die alten Frauen aus dem Hauptschiff neugierig um den Beichtstuhl versammelt.
„Also wirklich, Herr Pfarrer“, schimpfte die Mamsell, immer noch den schweren Schutt zur Seite werfend.
„Was sollen nur die Leute denken. Stürzen sie während des Rosenkranzes in den Beichtstuhl!“
Pfarrer Vierneisel war noch nicht ganz freigelegt und röchelte leise vor sich hin.
„Wenn ich nicht ständig auf sie aufpasse, Herr Pfarrer. Sie machen aber auch Sachen. Das ganze Dorf wird sich wieder den Mund zerreden über diese Geschichte. Also wirklich.“
Pfarrer Vierneisel schlug die Augen auf.
„Das ganze Dorf?“
Er schaute zu Paul und hauchte: „das ganze Dorf!“
Dann blickte er mit einem seligen Lächeln nach oben.
„Dem Himmel sei Dank.“
Nur für Jungs
Eine lang gezogene Staubwolke wirbelte über das Feld, der Doppeldecker raste auf die dürren Hecken zu, Paul setzte sich die Fliegerbrille zurecht und zog den Bug nach oben.
Er musste schon den Kopf schütteln über das, was er eben beim Pfarrer Vierneisel erlebt hatte. Nur schade, dass er mit niemandem darüber reden konnte. Nicht mit seinen Eltern, die ihm die Fliegerei sicher verboten hätten und nicht mit Gülcan, die ihm wohl kein Wort davon geglaubt hätte. So wie Paul ihr die Geschichten mit ihrem U-Boot auch nicht glaubte, obwohl er sie immer sehr spannend fand.
Das Flugzeug stieg weiter nach oben und Paul wurde angenehm in seinen Sitz gedrückt. Jetzt bog er in eine sanfte Linkskurve und flog noch einmal einen Bogen über das kleine Dorf, wo jetzt ganz sicher die Geschichte vom Pfarrer und dem eingestürzten Beichtstuhl die Runde machte. Paul stellte sich vor, wie sich selbst der störrische Bauer Zinsmeier den Bauch vor Lachen hielt und nicht im Entferntesten auf die Idee kam, dass der Pfarrer einen Teil seiner Verletzungen von einem nächtlichen Besuch in der Schnapsbrennerei davon getragen hatte.
Paul umkreiste den Kirchturm und brachte sein Flugzeug dann auf den Kurs für den Nachhauseweg, unter ihm lagen die Dorfmauer und der Pfarrgarten.
Zum Glück blieb dem Pfarrer Vierneisel jetzt der Sturz vom Obstbaum erspart.
Bald hatte Paul seine Flughöhe erreicht. An einem derart heißen Samstag war die Welt unter ihm wie ausgestorben.
Da machte es Spaß, nicht ganz so hoch wie sonst zu fliegen. Die wenigen Radfahrer und der ein oder andere Bauer nahmen sich in dieser Ruhe nämlich die Zeit, zu dem alten Doppeldecker hinauf zu schauen und zu winken. Und Paul wippte als Antwort mit den Tragflächen. Er schmunzelte – sicher ahnte niemand auf dem Boden, dass hier oben der ungewöhnlichste Pilot der Welt seine Runden drehte.
Paul blickte zufrieden auf die goldene Taschenuhr am Cockpit, er lag gut in der Zeit, seine Eltern waren sicher noch beim Einkaufen. Das sollte heißen, seine Mutter war beim Einkaufen, sein Vater trug wie immer stöhnend die Taschen hinter ihr her.
Paul konnte sich über einen rundum gelungenen Kurierflug freuen. Nicht nur, dass er die Karten abgeliefert hatte und dem armen Pfarrer Vierneisel ein Sturz vom Obstbaum erspart blieb, Paul wusste jetzt auch, was der Spruch auf dem Innendeckel seiner Uhr bedeutete. Und wenn Paul noch ein paar weitere Streiche bei Frau Schmal-Wimmer aushecken würde und als Strafarbeit wieder die Karten zum Pfarrer bringen musste, dann könnte er auch bestimmt in Erfahrung bringen, was die drei seltsamen Symbole zu bedeuten hatten, die oberhalb des Spruches eingraviert waren. Ein Kreis mit zwei Strichen, ein dickes Kreuz und drei parallele Striche.
Der Sommerwind wirbelte um Pauls Nase, bei jedem Rütteln und Absenken des Doppeldeckers pendelte die Taschenuhr hin und her.
Außer dem Flugzeug war die Uhr das Wertvollste, was Paul besaß.
Er konnte sich noch gut daran erinnern, als er sie von seinem Großvater geschenkt bekam.
Es war nach ihrem letzten gemeinsamen Flug, und der alte Mann war damals schon sehr müde.
Nach der Landung half er nicht wie sonst dabei, den Doppeldecker in die Scheune zu schieben, sondern setzte sich schwer atmend auf einen Baumstumpf am Rande der großen Wiese. Als Paul nach dem Rechten sehen wollte, zog ihn Opa zu sich her, drückte ihm die Uhr in die Faust und umschloss sie mit beiden Händen. Dabei nickte er Paul mit zusammengekniffenen Lippen zu.
Paul konnte nichts sagen, er wusste genau, was dies zu bedeuten hatte.
Mit Tränen in den Augen starrte er seinen Großvater an, bis dieser aufstand und fluchend seine Fliegerhaube in den Staub warf: „Jetzt behandelst du mich auch schon so mitleidig, dabei reicht es vollkommen, wenn deine Eltern so tun, als wäre ich aus Porzellan.“
Dann stemmte Opa die Hände in die Hüften und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Er ging zu Paul zurück und strich ihm über den Kopf.
„Weißt du Paul, das mit dem Sterben ist doch eigentlich so, wie mit dem Hintern abwischen. Jeder macht es, aber keiner spricht darüber.
Und wenn man mal einen dabei ertappt, dann ist es gleich pfui und furchtbar peinlich. Aber glaub mir, es ist vollkommen in Ordnung und ihr müsst mich nicht immer so anschauen, als hätte ich viereckige Ohren.“
Und dann lachte Opa und boxte Paul leicht auf die Brust: „Also das Sterben, das kann ja so schwer nicht sein.
Das haben schon so viele gemacht, und ich hab noch von keinem gehört, der sich danach beschwert hat. Wichtig ist doch nur, dass du vorher eine Menge großer Aufgaben erledigen konntest und nicht gekniffen hast, wenn es Abenteuer zu bestehen galt.
Eben wie beim Hintern abwischen. Wenn du nur einen ordentlich großen Haufen gemacht hast, dann kann es dir egal sein, ob dir die Leute beim Abwischen zusehen. Denn das müssen sie dir erstmal nachmachen, bevor sie mit Tuscheln anfangen.“
Opa legte seinen Arm um Pauls Schultern und zwinkerte ihm zu: „Also ich habe ja in meinem Leben eine ganze Menge großer Haufen gemacht, ich meine Abenteuer bestanden. Habe ich dir zum Beispiel schon erzählt, wie ich im Krieg ganz alleine das Schwarze Bataillon besiegte?“ Paul wischte sich die letzte Träne aus dem Auge und blickte seinen Opa erwartungsvoll an.
„Also, das schwarze Bataillon war die am meisten gefürchtete Fliegerstaffel der gegnerischen Armee. Nur die besten Piloten flogen dort und das Bataillon war berüchtigt dafür, dass es selbst zahlenmäßig weit überlegene Feinde besiegen konnte. Dummerweise waren wir nicht in der Überzahl – genau genommen war ich der einzige Pilot weit und breit und es war klar, dass das schwarze Bataillon mit mir kurzen Prozess machen würde. Aber kneifen konnte ich nicht.
Unsere Soldaten am Boden erwarteten für den nächsten Morgen einen Angriff und die Flugzeuge in der Luft sollten ihre Leute am Boden schützen.
Es wäre grauenvoll gewesen, wenn meine Kameraden sowohl am Boden als auch aus der Luft angegriffen worden wären, ohne dass ich ihnen mit meinem Flugzeug beigestanden hätte. Deshalb bin ich in der Nacht vor dem großen Kampf in das feindliche Lager geschlichen.
Jetzt denkst du bestimmt, was für ein Unsinn. Stehlen hätte ich die Flugzeuge alleine nicht können, und wenn ich an den Flugzeugen etwas zerstört hätte, dann wäre das eben morgens wieder repariert worden. Aber ich hatte einen Plan.
Ich habe an jedem Flugzeug vorne am Maschinengewehr die Patronen herausgenommen und dafür Maiskörner in die Munitionskiste gesteckt. Dann habe ich mich wieder aus dem feindlichen Lager an den Wachen vorbei hinausgeschlichen.
Am nächsten Morgen begann der Kampf.“
Paul rutschte näher zu seinem Großvater, der nun mit leiser Stimme weiter sprach, aber mit seinen gewaltigen Händen unsichtbare Linien in die Luft zeichnete.
„Bei Sonnenaufgang stieg ich auf und drehte meine Kreise. Ich konnte sehen, wie sich die beiden Armeen am Boden immer näher aufeinander zu bewegten, aber vom schwarzen Bataillon war weit und breit nichts zu sehen. Hatten sie meinen nächtlichen Besuch entdeckt und schnell die Munitionskisten wieder aufgefüllt?
Plötzlich spürte ich, wie sich etwas mit der Luft um mein Flugzeug herum veränderte. Ich kann es nur schwer beschreiben, aber es war fast, als wäre gleich der Siedepunkt erreicht, jeden Moment müsste die Luft zu brennen anfangen. Und dann sah ich sie.
Aus der aufgehenden Sonne heraus stürzten sie sich auf mich, dreißig Flugzeuge oder mehr, schwarz mit den an den Seiten aufgemalten Drachenköpfen.
Ich riss mein Flugzeug herum und schraubte mich kerzengerade nach oben, bis der Motor das Gewicht der Maschine nicht mehr tragen konnte und ich seitwärts wegkippte. Schau mal, so ungefähr.
Ich konnte selbst nicht vorhersagen, in welche Richtung ich fiel, noch weniger konnten es also meine Verfolger ahnen, das gab mir einen kleinen Vorsprung. Ich flog eine scharfe Wende und steuerte geradewegs auf die Angreifer zu, die sich in ihrer berüchtigten Y-Formation auf mich stürzten. Da hörte ich vom vordersten Flugzeug den ersten Schuss – Plob. Habe ich eben Schuss gesagt? Nun Paul, du weißt es besser. Die Hitze der Motoren hatte den Mais zum Aufplatzen gebracht. Plob Plob, auch von den anderen Flugzeugen knallte es nun lustig zu mir herüber. Ich stieß durch die Formation und drehte eine weitere Schraube. Im Vorüberfliegen sah ich die gegnerischen Piloten, wie sie wütend auf ihre Bordwaffen einschlugen, aber es nutzte nichts. Unmengen von Popcorn flogen aus den Maschinen. Bald standen die Soldaten am Boden in einem wahren Regen aus leckeren weißen Flocken. Da hatte natürlich keiner mehr Lust zu kämpfen – alle ließen sie ihre Waffen fallen und rannten mit weit geöffneten Mündern durch den weißen Zauber.
Die Versuche der Jäger des schwarzen Bataillons, doch noch eine halbwegs anständige Luftschlacht zu bieten, wurden immer verzweifelter und sorgten nur dafür, dass jeder Meter am Boden mit Popcorn bedeckt wurde. Und dazwischen flog ich meine Kapriolen und reizte die Piloten des schwarzen Bataillons immer mehr, bis sie zerknirscht abzogen. Die Schlacht hat an diesem Tag natürlich niemand gewonnen, dafür aber haben die Soldaten das beste Popcorn ihres Lebens gegessen. Und das mein lieber Paul, ist doch das Allerwichtigste. Würdest du nicht auch ein leckeres Popcorn einem sinnlosen Krieg vorziehen, bei dem es den Leuten nur schlecht geht? Siehst du.
Und wenn ich alleine das schwarze Bataillon besiegen kann, werde ich das, was jetzt vor mir liegt, doch auch noch schaffen, oder?“
Der Motor des alten Doppeldeckers lief unruhig. Seit er Paul das letzte Mal beinahe um die Ohren geflogen wäre, gab es Probleme mit der Feinabstimmung. Ein paar Ersatzteile mussten ausgetauscht werden, und weil ein zehnjähriger Junge nicht so ohne Weiteres an Teile für einen 90 Jahre alten Doppeldecker kam, musste sich Paul mit ausrangierten Stücken aus alten Mofas behelfen. Auch der Rasenmäher der Familie lieferte immer wieder dringend benötigte Ersatzteile, Papa wunderte sich nur, warum er regelmäßig im Garten in einer stinkenden Wolke aus schwarzem Rauch stand. Aber Papa konnte natürlich problemlos den Rasenmäher zum Reparieren geben, das war Paul mit dem Doppeldecker nicht möglich.
Dass der 130 PS starke Umlaufmotor mittlerweile fast zur Hälfte aus Mofa- und Rasenmäherteilen bestand, hörte man beim Fliegen. Paul hatte es bis jetzt noch nicht geschafft, die 9 Zylinder sauber aufeinander abzustimmen.
Wenn man als Zehnjähriger ein Flugzeug besaß, dann hatte man eben immer etwas zu tun – umso mehr, wenn es sich dabei um ein gebrauchtes Modell handelte.
Hier oben in der Luft konnte Paul allerdings nicht viel ausrichten. Er überprüfte kurz Geschwindigkeit und Drehzahl, änderte dann die Gemischeinstellung und schon arbeitete der Motor wieder regelmäßiger.
Sein Großvater hatte den Doppeldecker über die Jahrzehnte am Laufen gehalten, da würde es Paul wohl auch schaffen.
Ja, sein Großvater.
Paul vergaß kurz den herrlichen Samstagnachmittag und verlor sich wieder in seinen Gedanken.
Der Tag, an dem er das Flugzeug übernommen hatte, war der traurigste Tag seines Lebens.
Es war kurz nachdem Paul die goldene Taschenuhr geschenkt bekam.
An einem schönen Sonntagmorgen setzte sich sein Großvater, als noch alle schliefen, mit seiner Fliegerhaube und der achteckigen Pilotenbrille auf dem Kopf ins Wohnzimmer, hielt den Schlüssel für seinen geliebten Doppeldecker in der Hand und blickte aus der offenen Balkontür über die Wiesen und Felder in die aufgehende Sonne.
Als Paul an diesem Morgen mit seinen Eltern zum Frühstück herunter kam und Opa noch immer auf seinem Lieblingssessel im Wohnzimmer saß, bemerkte Paul, dass der Schlüssel auf dem Boden lag.
Er konnte ihn gerade noch unbemerkt aufheben, bevor Mutter in der Türe erschien, die Hände vors Gesicht warf und Paul dann schnell auf den Gang zog, während sein Vater kopfschüttelnd um den Sessel ging und vor Großvater auf die Knie sank.
Seitdem flog Paul alleine. Er schob sich die Fliegerbrille nach oben und wischte sich mit dem Ärmel der Lederjacke über die Augen. Immer wieder gab es bei seinen Flügen besonders gefährliche, aber auch besonders schöne Momente, die er gerne mit jemandem geteilt hätte – mit seinem Großvater, aber auch mit Papa.
Aber Pauls Vater lebte in einer ganz anderen Welt als Opa und Paul.
Nicht das Abenteuer, sondern die Sicherheit war für Papa das Allerwichtigste.
Papa fuhr noch nicht einmal kurz zum Supermarkt, ohne am Auto das Reserverad und den Verbandskasten zu überprüfen. Deshalb fuhr Mama selbst für größere Einkäufe lieber mit dem Rad.
Alle großen Unglücke, so war Papas Meinung, hatten in ihrer Vorgeschichte einen Moment, an dem sie durch einen kleinen Handgriff hätten verhindert werden können. Nach dem Unglück musste man viel Zeit und Kraft aufwenden, um wieder mit dem Schaden fertig zu werden. Diese Mühe stand nach Meinung von Pauls Vater in keinem Verhältnis zu der Einfachheit des Momentes davor, an dem noch alles hätte gut werden können.
Papas große Leidenschaft galt nun diesem Moment, an dem man mit geringstem Aufwand eine große Tragödie vermeiden konnte.
Natürlich war es für Mama und Paul furchtbar peinlich, wenn sie mit dem Auto unterwegs waren. Die Straße vor ihnen war herrlich frei, hinter ihnen jedoch drängelte sich oft eine kilometerlange Schlange von Autos, Lastwagen und Traktoren, wütende Fahrer schimpften und machten Drohgebärden durch ihre heruntergelassenen Fenster. Aber Papa wollte einfach nicht den Moment verpassen, an dem er durch seine vorsichtige Fahrweise einen Unfall vermeiden konnte.
Auch mit den wilden Geschichten, die Großvater immer erzählte, konnte Papa nichts anfangen. Er schaute immer ganz säuerlich, wenn Opa und Paul die Köpfe zusammensteckten und vor sich hin kicherten.
„Du bist genauso wie dein Großvater“, sagte Papa manchmal in ärgerlichem Ton zu Paul und glaubte, dass dieser Vergleich eine besonders harte Strafe sein müsste.
Aber Paul bekam bei dem Gedanken, wie sein Opa zu sein, immer ein ganz warmes Gefühl ums Herz.
Paul erkannte weit vor sich das kleine Städtchen, an dessen Rand das alte Anwesen seiner Familie mit der Scheune und der behelfsmäßigen Landebahn lag. Bald konnte sich Paul auf den Landeanflug vorbereiten.
Während er die Geschwindigkeit drosselte und in eine lang gezogene Schleife einschwenkte, spürte Paul die Freude auf seine Eltern. Dabei ging ihm der Gedanke durch den Kopf, er würde vielleicht nur deshalb wegfliegen, um wieder nach Hause zu kommen.
Langsam näherte sich das Flugzeug der kurz gemähten Wiese, Paul brachte den Gashebel in die Leerlaufstellung und setzte sachte mit den Rädern auf, die nun wieder ohrenbetäubend quietschten.
Paul wollte gerade den Motor abschalten, während er noch auf das hintere Scheunentor zurollte, da sah er eine Gestalt, die sich von den Obstbäumen löste und auf ihn zu gerannt kam.
Sein Vater hatte ein wutverzerrtes Gesicht und ballte die Fäuste. Mit nur wenigen Sätzen hatte er das Flugzeug erreicht, sprang auf die untere Tragfläche und fuchtelte hektisch im Cockpit herum.
„Du gibst mir sofort den Schlüssel und kommst heraus! Den Schlüssel! Und raus hier!“
Paul konnte sich kaum mehr bewegen, sein Vater lag halb über ihm, suchte nach dem Schlüssel und wollte gleichzeitig seinen Sohn aus dem Flugzeug zerren.
In diesem Getümmel stieß wohl Pauls Vater den Gashebel nach vorne und der Doppeldecker nahm wieder Fahrt auf.
Schneller, immer schneller raste er auf die Scheune zu.
Der schimpfende Vater, die quietschenden Räder, der hochdrehende Motor – Paul dachte bereits in dem Moment, als sein Vater zwischen den Bäumen hervorgesprungen war, dass es wohl nicht mehr schlimmer kommen konnte.
Aber jetzt jagten sie in dem alten Doppeldecker auf die Scheune zu.
Schon war der Punkt überschritten, an dem man die Maschine noch hätte abbremsen können.
Immer stärker zerrte der Vater an Paul. Immer verzweifelter suchte er nach dem Zündschlüssel und sah nicht, dass die Scheune schon das ganze Blickfeld vor dem Flugzeug eingenommen hatte.
Die Maschine wurde nochmals schneller, gleich musste sie mitsamt Vater und Sohn in die Scheune einschlagen, niemand konnte den furchtbaren Zusammenstoß jetzt noch verhindern – außer natürlich dem ungewöhnlichsten Piloten der Welt.
Paul drückte sich nach hinten in seinen Sitz, weg vom tobenden Vater, und zog den Steuerknüppel mit einem lang gezogenen Schrei fest an sich heran.
Im Abheben riss er das Flugzeug in eine steile Linkskurve. Das rechte Rad durchschlug eine überstehende Dachlatte, morsches Holz flog splitternd durch die Luft, ein kurzes Wackeln, dann hatte Paul wieder die Kontrolle über sein Flugzeug, das er im leichten Steigflug ausbalancierte.
Jetzt konnte er aufhören zu schreien und sich stattdessen umschauen.
Sein Vater war durch die Wucht des ruppigen Startmanövers zur Seite geworfen worden.
Er hielt sich nun an den Verbindungsstreben zwischen oberer und unterer Tragfläche fest, während er versuchte, langsam wieder auf die Beine zu kommen.
Paul hatte mittlerweile wieder genügend an Höhe gewonnen, um gefahrlos – vor allem für seinen Vater dort draußen auf der Tragfläche – eine Schleife zu drehen und vorsichtig wieder zur Landung anzusetzen.
Paul wusste, dass dies sein letzter Landeanflug sein würde und er wollte ihn so schnell wie möglich hinter sich bringen. Da hörte er durch das Pfeifen des Windes von den Flügelspitzen her ein Geräusch, das er hier oben wohl am allerwenigsten erwartet hätte: „Juchei! Juhuhuchei!“ schrie sein Vater hoch über den Dächern ihres Städtchens. „Hahaha, haha!“
Pauls Vater stand nun aufrecht zwischen den Tragflächen, hielt sich an den Verstrebungen fest und reckte die Nase in den Wind.
Statt einer Kurve flog Paul jetzt eine Acht, immer noch mit dem johlenden Vater auf der Tragfläche.
Platzrunde und Kehre zur Landebahn.
Pauls Vater hielt sich jetzt nur noch mit einer Hand fest, die andere Hand wie einen Rammbock vor sich in die Luft gestreckt, die Krawatte wirbelte ihm links und rechts am Hals vorbei. „Ja! Ja! Ja!“
Paul setzte die Maschine wieder vorsichtig auf und rollte aus, sein Vater sprang von der Tragfläche und ließ sich über die Wiese purzeln.
Alle viere von sich gestreckt blieb er lachend auf dem Rücken liegen.
Nachdem Paul den Motor abgestellt hatte, lief er zu seinem Vater, gab ihm die Hand und half ihm beim Aufstehen.
Ihm war klar, dass er sich jetzt von seiner Fliegerei verabschieden musste.
Sein Vater wischte sich keuchend die Augen aus, dann betrachtete er lange den Doppeldecker.
„Das ist also das Flugzeug von Opa. Hätte nie gedacht, dass es das wirklich noch gibt. Und du hast es von Opa bekommen? Unglaublich.“
Er ging um den Doppeldecker herum und blieb kurz vor dem aufgemalten Bärenkopf stehen.
„Brauche wohl nicht zu fragen, wer dir das Fliegen beigebracht hat. Wahnsinn. Bist offensichtlich recht geschickt.“
Paul blickte auf den Boden.
„Geht so.“
„Und das Flugzeug, ist es denn in technisch einwandfreiem Zustand?“
„Na ja.“ Paul zuckte kurz mit den Schultern, was sollte er schon sagen. Es war eben alt.
Sein Vater schüttelte nur den Kopf. Er stand neben dem Heckflügel und starrte mit zusammengekniffenen Augenbrauen vor sich hin.
Paul wusste, was er nun tun musste.
Er ging zu seinem Vater und hielt ihm den Schlüssel für das Flugzeug hin.
Das war es dann.
Jetzt konnte er nicht mehr in den Himmel aufsteigen, um Opa nahe zu sein. Pauls Vater blickte den Schlüssel eine ganze Weile an.
„Was habe ich nur falsch gemacht?“
Paul streckte ihm noch immer den Schlüssel wortlos entgegen, sein Vater blickte ihn an, als würde ihm eine übergroße, behaarte Spinne entgegengehalten.
„Ich kann dir unmöglich erlauben, weiter zu fliegen. Das ist dir hoffentlich klar. Aber ich kann mich auch nicht einfach in einen Handel einmischen, den mein Vater mit meinem Sohn abgeschlossen hat. Es gab früher einmal einen Handel zwischen deinem Großvater und mir, in den hatte sich auch jemand eingemischt. Das hat mir damals das Herz gebrochen.
Verzwickte Sache. Was hätte wohl dein Großvater an meiner Stelle gemacht, ich meine, wenn er noch nie so ein Ding geflogen wäre und nun entscheiden müsste, ob sein Sohn sich damit in Gefahr begeben soll?“
Paul musste nicht lange überlegen, er hatte ganz deutlich das Bild seines Opas vor sich: „Opa hat immer gesagt, wenn er einen Fehler macht, dann lieber, weil er etwas getan hat und nicht, weil er etwas versäumt hat. Wenn er etwas falsch gemacht hat, dann war das eben so und er konnte es das nächste Mal besser machen. Damit war die Sache für ihn dann erledigt. Wenn er etwas versäumt hat, meinte er, dann würde es ihn sein Leben lang verfolgen.“
Pauls Vater kratzte sich am Kinn.
„Das hilft mir jetzt auch nicht weiter, schließlich geht es hier ja um dich. Da nehme ich nicht so einfach Fehler in Kauf. Ich weiß genau, jetzt ist der Moment, an dem ich vielleicht eine Katastrophe ganz leicht verhindern könnte.“
„Du könntest mit mir fliegen. Schauen, ob alles in Ordnung ist.“
„Mit dir fliegen?“
Pauls Vater legte die Stirn in Falten.
„Du meinst, ich soll mit dir fliegen, so richtig? Im Flugzeug sitzen und nicht auf der Tragfläche?“
Beim Gedanken an die letzten Minuten bekam Pauls Vater ein seltsames Kribbeln im Bauch.
„Noch einmal fliegen?“
Er ließ Paul stehen, lief ein paar Meter auf die behelfsmäßige Start- und Landebahn und blickte in den Himmel. Nach ein paar Minuten ging ihm Paul nach, schob seine Hand in die von Papa und beide standen nebeneinander, den Blick in die Ferne gerichtet.
Der Schrei eines Bussards riss Pauls Vater aus seinen Gedanken, er ging in die Hocke und blickte Paul in die Augen: „Es ist doch so, seit ewigen Zeiten hat es etwas gegeben, das von den Vätern an die Söhne gegeben wurde und die haben es dann an ihre Söhne weitergegeben. Das war etwas ganz Besonderes, das hatten dann nur die Väter und die Söhne gemeinsam. Und ich habe es wohl vermasselt. Mir hat dein Großvater nicht beigebracht, wie man fliegt.“
Papas Blick wechselte von Paul zum Schlüssel und wieder zurück.
„Ich glaube, ich habe einiges nachzuholen.“
Schließlich umschloss er mit seinen Händen Pauls Faust, die den Schlüssel hielt und sagte: „Lass mal gut sein, Paul. Ich glaube, das da eben sollte unter uns bleiben.“
Mit diesen Worten drückte er den Schlüssel an Pauls Brust, legte einen Arm um die Schulter seines Sohnes und ging mit ihm zum Haus.
Pauls Gefühle fuhren Achterbahn.
So viel ging ihm durch den Kopf, so vieles wollte er seinen Vater fragen, dass er am Ende nur etwas vollkommen Unwichtiges herausbrachte: „Ihr seid früh dran.“
„Ja, mit uns hast du jetzt wohl noch nicht gerechnet, was? Die Nachbarn hatten uns angerufen, als wir gerade beim Einkaufen waren. Sie haben geglaubt, dass ein paar Männer in unser Haus eingebrochen sind. Da mussten wir natürlich sofort zurückgefahren. War aber falscher Alarm. Klar, wer bricht schon mitten am Tag irgendwo ein?“
Paul blickte zu seinem Vater hoch: „Das mit dem gemeinsamen Flug, das ist versprochen, ja?“
Sein Vater schmunzelte: „Mit dir macht man was mit. Lass mir nur ein wenig Zeit, den Flug von eben zu verdauen. Das war ganz schön heftig.“
Sie gingen ins Haus.
Als sie im Flur in Hörweite von Mama standen, setzte Pauls Vater ein gespielt ernstes Gesicht auf und sagte zu Paul übertrieben laut: „Du bist genauso wie dein Großvater.“
Dann zwinkerte er Paul heimlich zu – wie Opa.