1 - 1 von 3 Ergebnissen

Hancel: Babeneen Senegal

17,98
Preis inkl. MwSt., zzgl. Versand

Spannend und interessant: Reiseerlebnisse und Beobachtungen in Senegal ba benneen! Das Wort aus dem Dialekt des im Senegal lebenden Volksstammes der Wolof bedeutet auf Wiedersehen. Senegal ist eines der westafrikanischen Länder, in die die Autorin mehrfach reiste. Es ist sowohl ihr Interesse an Menschen anderer Kulturen als auch die Herausforderung, durch das Leben mit der chronischen Erkrankung gesetzte Grenzen zu überschreiten und weiter zu stecken, die ihre Reiselust immer wieder aufs Neue wecken. Die hier vorliegende Reisebeschreibung erzählt von Menschen und Begebenheiten, denen Sabine Hancel auf ihrer Reise von Dakar über Gambia in ein Dorf im Süden Senegals, der Casamance, begegnet ist.

 

Sabine Hancl: ba beneen Senegal, 146 Seiten, Broschur, € 17,98, ISBN 978-3-86992-080-1

Titelbild zum Download (300 dpi)

Leseprobe:

 

1. Bild

Eine junge Frau. Anfang 20. Höchstens. Mittelgroß, schmal, schulterlange dunkelblonde Haare.

Blaue Augen. Ein ovaler Mund, wobei die Oberlippe voller ist, was verstärkt wird, durch ihre Angewohnheit bei Anspannung auf ihre Unterlippe zu beißen. Sie steht in einem Laden. Es ist eine Videothek mit Schwerpunkt Pornos. Etwas entfernt im hinteren Teil des Raums, der schwer erkennbar ist, sexy Unterwäsche. Daneben die üblichen Spielzeuge, Zeitschriften und Bücher mit einschlägigen Inhalten.

Also, sie steht da vor einem Filmplakat aus den vierziger Jahren, das sich deplaciert ausnimmt inmitten der anderen Plakate fleischlichen Inhalts, und flüstert leise. Man versteht nicht, was sie sagt. Sie schaut gebannt auf das Plakat, fast so, als wolle sie darin verschwinden, losgelöst. Eine laute Stimme reißt sie los.

„He, wird man hier auch bedient.“

Ein Mann Ende zwanzig, durchschnittlich aussehend, Jeans, kurzes T-Shirt, das seinen üppigen Bauchansatz freigibt, sehr kurze Haare, fast Glatze, steht provokativ vor ihr.

Lily, ihr Name ist Lily, taxiert ihn kurz, sachlich, unpersönlich, nickt mit dem Kopf und weist ihm die Richtung. Sie scheint ihn zu kennen. Ein Stammgast, der sie nicht interessiert. Der Mann verschwindet in einer der Kabinen. Lily wendet sich wieder dem Plakat zu.

Sie spricht jetzt lauter: „Er hat eine Vergangenheit. Sie hat keine Zukunft. Eine Leidenschaft gegen jede Chance.“

Sie seufzt und geht langsam zum Schaufenster direkt neben der Eingangstüre. Rote Abenddämmerung. So, als hätte der Liebe Gott einen Drink gemixt mit etwas zu viel Himbeersirup. Sie schaut fasziniert in den Himmel. Ihr Blick schweift ab und wird gefesselt durch das, was sie draußen sieht. Draußen, einige Meter weiter ist ein kleiner Platz, der jetzt Kulisse für ein Straßentheater ist. Sie kann die Worte nicht verstehen, aber die Handlung erkennt sie sofort. Um die Protagonisten herum stehen Leute, nicht zahlreich, aber immerhin, es gibt sie.

Sie sieht einen Mann in Frauenkleider aus dem 16. Jahrhundert und einen anderen Mann, der offensichtlich den Liebhaber spielt. Lily verlässt die Videothek, lässt die Tür offen und wirft noch einen kurzen prüfenden Blick auf die Kabine, wo der letzte Kunde sich abarbeitet. Lily registriert es gleichgültig. Sie geht weiter zu den Zuschauern. Sie stellt sich zu ihnen in die letzte Reihe, um die Szenerie zu beobachten und gleichzeitig die Videothek im Blickfeld zu behalten. Sie streift das Publikum mit ihren Blicken, bleibt einen Bruchteil zu lang an einen jungen Zuschauer hängen, der für sie auf eine ihr unerklärliche Art belanglos erscheint, was sie im Moment nicht hinterfragt. Ihre Blicke treffen sich. Lily beobachtet die Szene und ist zunehmend ergriffen. Es ist ein absurder Platz für ein absurdes Stück in einer eher runtergekommenen Gegend. Das hat was, Poesie, vielleicht. Die schäbige Umgebung betont durch die prunkvollen Kostüme, irgendeinem Fundus entliehen. Romeo und Julia für Arme. Julia wird gespielt von einem stark geschminkten Mann, sehr jung noch, vielleicht neunzehn, eine Mischung aus zerbrechlich und zäh. Der Andere, der den Romeo spielt, ist etwas älter, wirkt männlich und von sich überzeugt, fast überheblich.

„Ach Julia, warum bist du noch so schön? Kann denn der körperlose Tod auch lieben?“

Lily dreht sich besorgt zur Tür der Videothek. Nichts bewegt sich.

Romeo: „Hier will ich bleiben. Hier leg ich mich zu dir, zur ewigen Ruh und schüttle ab das Joch der Unglückssterne von meinem Fleisch, dem diese Welt nichts gilt“

Julia fängt in dieser tragischen Situation an zu zwinkern und ist einem Hustenanfall nahe, den sie verzweifelt stöhnend zu unterdrücken versucht. Romeo stößt ihr daraufhin sein Knie in die Seite, worauf sie schmerzverzerrt stillhält und von ihrem beginnenden Anfall erlöst ist. Lily bekommt die Details nicht so richtig mit, aber ihre Lippen flüstern verzückt: „Ihr Lippen nehmt das Recht zum Kuss dem Tode weg, der es für immer an sich reißen will.“ Sie steht da, versunken in sich selbst, schaut, zögert, kann sich nicht entschließen zu gehen oder zu bleiben. Ein Mann rempelt sie an, versehentlich oder vielleicht auch absichtlich.

Sie explodiert fast vor innerer Anspannung, aber beherrscht sich dann. Ihre Blicke treffen sich. Wieder. Sie geht mit einem aufgesetzt lockeren Gang zurück in den Laden und direkt zur Kabine mit dem letzten Kunden. Sie hört das Stöhnen. Angewidert aber auch mit einem überlegenen Gefühl macht sie die Geräusche nach, wird dann lauter und tritt mit ihrem Schuh gegen die Tür.

Die Kabine springt auf.

Der Typ mit heruntergelassener Hose schaut sie fassungslos an.

Offensichtlich ist er noch nicht so weit.

„Feierabend“, schreit sie. Sadistisch schaut sie auf sein Teil. Der Typ ist außer sich, seine Erektion, die sensibel auf die Störung reagiert, lässt keine aggressive Reaktion zu. Er versucht sich die Hosen hochzuziehen, was nicht auf Anhieb klappt. Lily, jetzt wieder milde gestimmt, sagt ihm freundlich, er möge doch bitte jetzt gehen, sie mache jetzt Schluss und morgen sei auch noch ein Tag und sie würde sich freuen, ihn dann wieder zu sehen. Der Typ schaut sie irritiert aber auch erwartungsvoll an und macht einen hilflosen Ansatz, ein Date mit ihr zu vereinbaren. Bevor er so weit kommt, schneidet sie ihm den noch nicht begonnenen Satz ab.

„Morgen wieder, aber bitte nicht so spät.“

Draußen hat sich die Menge verlaufen. Der Himmel, blau so blau, wie sie ihn liebt, das ewige Blau, ach, könnte er immer so sein, hat sich in ein Grau geflüchtet. Es sieht nach Regen aus. Der Platz hat sich geleert. Romeo und Julia packen ihre Sachen und suchen ihre Requisiten zusammen.

 Beide haben noch ihre Kostüme an und steuern mit ihrem wenigen Gepäck direkt auf den Laden von Lily zu. Lily beobachtet die beiden, und sie hat wenig Lust auf die zu erwartende Konversation. Mit verschränkten Armen steht sie da, ganz Ablehnung, arrogant.

Romeo: „Ich bin Paul und das da...“ – er deutet auf Julia – „... ist Art. Nichts los hier ...“ und geht völlig selbstverständlich durch den Laden, schaut sich um. Lily ist verärgert, ihr gefällt seine Ausstrahlung nicht, dieses „das ist jetzt meins“. Art steht schweigend da und schaut Lily bewundernd an, wie er alle Frauen bewundert. Lily weiß nicht, über wen sie sich mehr ärgern soll, über Art, den sie im Stillen gleich als Schaf einschätzt oder über Paul.

Paul geht zum Plakat OUT OF THE PAST.

„Mein Film.“

Lily sagt nichts. Fast eifersüchtig, dass außer ihr noch jemand anderes den Film kennt und sie teilen muss; ihre Bewunderung für ihn, ihre Sehnsucht nach dieser ausschließlichen Liebe, Verrat und Tod eingeschlossen. Spontan fängt Art an zu deklamieren, er fällt auf die Knie vor Lily.

„Was hast du da, mein Liebster in der Hand? Du Geiziger hast alles ausgetrunken? Und keinen Tropfen mir gelassen? Ich will Dir folgen, deine Lippen küssen“

Lily: „Kabine 2 ist noch frei.“

Art reagiert schnell.

„Möchtest Du mich heiraten?“ Mühselig steht er auf, stöhnt, als ob er Schmerzen hätte, und schaut Lily von unten schräg und bettelnd an.

Lily: „Lohnt sich das?!“

Art: „Probier es aus ...“

Paul meint aus der Entfernung: „Nimm ihn, es lohnt sich.“

Art dreht sich zu Paul um: „Für Dich hat es sich gelohnt.“

Paul: „Oh mein Gott, okay ist okay ... Mann, wir haben eine klare Absprache. Ich wohne bei Dir bis Deine Mutter zurückkommt und dann. Sehen wir weiter. Nerv nicht. Du fährst doch gut mit mir. Verdammt noch mal. Ohne mich …“

Art zuckt zusammen: „Was?“

Paul: „Ach, lass gut sein, wir ergänzen uns. Du hast was ich nicht habe und ich habe, was Du gerne hättest.“

Art: „Was zum Beispiel.“

Lily mischt sich ein: „Ihr Lippen nehmt das Recht zum Kuss dem Tode weg, der es für immer an sich reißen will. Auf unsre Liebe.“

Paul steht noch immer vor dem Plakat OUT OF THE PAST; vor seinen Augen läuft ein eigener Film ab, dessen Rolle und Drehbuch er noch schreiben muss.

„Die Drei von der Krankstelle ... Darauf sollten wir trinken.“

Er blickt um sich und sieht nichts Trinkbares. Er schaut Lily auffordernd an.

Sie reagiert nicht und sagt zu Art: „Wenn du richtig viel Geld hast, nehme ich dich.“

Paul schüttelt den Kopf und schnalzt mit der Zunge.

„Mein Gott, der will geliebt werden ...“

Lily antwortet altklug: „Wollen wir das nicht alle.“

Paul schüttelt resigniert den Kopf, geht zu Art und wischt ihm kurz über die Haare: „Hast Du ein Glück!“

In diesem Augenblick kommt eine elegante Dame um die vierzig in den Raum, schlank, sehr groß, mit langen gelackten schwarzen Haaren und einer silbernen Strähne, die wie eine glänzende Mondsichel hervorsticht und geht auf Lily zu.

Lily bedeutet den Zweien sich ruhig zu verhalten und begrüßt die Frau fast freundschaftlich. Sie geht mir ihr in den hinteren Raum. Paul schaut gebannt zu. Er strafft unbewusst seinen Körper, eine Geste, die er vermutlich verinnerlicht hat, und lehnt sich lässig gegen die Wand. Er sieht gut aus. Er fühlt sich gut. Sexy. Art schaut ihn abfällig von der Seite an.

Er kennt ihn, oder glaubt es zumindest, beneidet und verachtet ihn. Oder beides. Oder je nach dem.

 

 

2. Bild

Jim kniet auf einem Teppich, ein Orientteppich in rötlich/braunen Farben, darunter Laminat in Eiche. Vor ihm ausgebreitet liegt ein riesiges Puzzle mit einer Dschungellandschaft, oder dem, was es mal werden soll. Winzige Teile überall verstreut. Jim ist konzentriert, lässt sich Zeit, träumerisch viel Zeit. Jim, groß, mindestens 1,95m, dunkelhaarig, schlank und kräftig zugleich und gut aussehend auf eine neutrale Art. Ein Passepartoutgesicht, angenehm, austauschbar, mit regelmäßigen Gesichtszügen. Manchmal ertappt er sich dabei, vor dem Spiegel böse Grimassen zu ziehen, um wild und gefährlich auszusehen, was misslingt und ihn eher wie einen Idioten aussehen lässt. Nur in seinem Job ist er sicher, fühlt er sich sicher. Auch wenn er es sich nicht eingesteht, es gefällt ihm eine Waffe zu tragen, Macht auszuüben. Das versöhnt ihn mit seinem Allerweltsgesicht. Jim sucht ein bestimmtes Teilchen und fährt mit den Händen über die Fläche als wolle er ein Beschwörungsritual initiieren. Das Telefon klingelt.

Er lässt sich Zeit, steht langsam auf und geht zur Telefonanlage. Er liest auf dem Display „Martha“, er zögert und geht zurück zu seinem Puzzle. Er ist nicht bei der Sache, denkt über seinen Job nach, der einigermaßen erfolgreich für ihn ist. Zumindest sehen das andere so. Er hätte sich früher nie vorstellen können bei der Polizei zu landen. Ist er aber.

 Er grübelt, denkt nach, und weiß nicht warum, eigentlich. Eigentlich wollte er was ganz anderes. Was hat er vergessen. Aber da war etwas. Egal. Ein halbherzig erotisches Verhältnis mit der Kollegin Martha, bequem, unverbindlich, zumindest für ihn, das er geheim hält, so weit es eben geht. Weiter ging er nicht. Wozu auch. Träume, wer er war, ist, und wer er einmal sein wird, erstrecken sich vor ihm wie das Puzzle, an dem er schon seit Monaten arbeitete, was hätte längst zu Ende geführt werden können, aber eben hätte. „Hätte, hätte, hätte ...“, dachte er.

Das Puzzle beruhigt ihn, lässt ihm Zeit für seine Träume, entspannt ihn. Er will es nicht zu Ende bringen. Wozu auch. Um etwas Neues zu beginnen? Drogenfahndung. Frust. Er war achtundzwanzig und fühlte sich jetzt alt, und das schon länger. Polizeischule, Ernennung zum Kommissar. Er war der Jüngste. Und er war ausgelaugt wie ein nasser Lappen mit diesem undefinierbaren Geruch nach feuchtem Muff und Desinfektionsmittel. Nicht mal Lust auf Sex hatte er. Da musste er schon sehr seine Fantasien anstrengen und hinterher Leere, die er nicht ausfüllen konnte. Jim streicht mit der rechten Hand über die Landschaft und verwischt das halb fertige Bild. Der Kopf des Jaguars war fast komplett. Eines Tages ... dachte er.

Er lächelt und fühlt sich besser. Dann steht er auf und geht zum Fenster. Seine Wohnung: ein kleines 2-Zimmer-Appartement, unpersönlich, aber praktisch, in einem 8-stöckigen Hochhaus. Eine bezahlbare Dienstwohnung. Die Fenster gehen zum Innenhof. Ein großer Parkplatz, nummeriert, zu zwei Dritteln gefüllt.

Oft steht er am Fenster schaut auf die Mittelklassewagen und ihre Besitzer – langweilig und ordentlich. Beide. Er hat einen Dienstwagen. Nichts Besonderes. Ein BMW der Mittelklasse, neutral. Neutral war sein Lieblingswort, Neutralisieren seine Berufung.

Als ob er Angst hätte vor seinen elementaren Wünschen, reinzuschlagen, kaputtzumachen, zu töten. Jetzt hat er das Bedürfnis, seine Waffe zu spüren, danach bekam er immer eine Erektion und es ging ihm besser. Also, er steht noch immer vor dem Fenster und schaut raus.

Sein Blick bleibt haften an einem Mann, der torkelnd durch die wohlgeordneten Reihen von Autos geht. Der Mann sackt in sich zusammen. Fällt ausgerechnet auf das Auto von Jim, gleitet runter auf den Asphalt, krümmt sich zusammen. Jim denkt: „Idiot“ und verlässt die Wohnung.

„Hoffentlich kotzt er nicht drauf, oder hat schon womöglich ...“

Er hasst diesen ekligen sauren Gestank.

Im Fahrstuhl begegnet er einer Nachbarin, die nicht schlecht aussah, und ihrem Hund. Ein Golden Retriever, der auch passabel aussah, wenn man Hunde mochte. Jim mochte keine. Ihren unterwürfigen und um Zuneigung bettelnden Blick. Ihn faszinierten Katzen, Raubkatzen insbesondere. Die Zeit im Fahrstuhl kam ihm ewig vor. Er spürte, dass er noch immer eine Erektion hatte und hoffte, dass die Frau das nicht bemerkte. Die Frau schaute starr an ihm vorbei, angestrengt. Die Erektion hielt an, was Jim nervös machte. Normalerweise hatte er die volle Kontrolle darüber. Erdgeschoss. Wie auf Kommando ließ sie nach. Jim ließ höflich der Frau den Vortritt. Der Hund schnüffelte an Jims Hosenbeinen und machte Anstalten eines davon zu besteigen. Die Frau zerrte den Hund entsetzt von Jim weg. Jim fand das komisch, es versöhnte ihn mit seinen eigenen Trieben.

 

 

3. Bild

Jim geht durch die Reihen der parkenden Autos. Er sieht einen Mann am Boden, zusammengekrümmt. Eine Spritze steckt ihm in der Zunge. Das verleiht ihm einen idiotischen Ausdruck; wie ein zurückgebliebener Junge, der sabbernd das Fläschchen hält. Jim dreht ihn auf die Seite und hofft, dass er sich erbricht. Es ist ihm unangenehm den Mann anzufassen ohne Gummihandschuhe. Aber was soll’s. Er ruft einen Krankenwagen über sein Handy und seine Kollegen. Dann schaut er prüfend auf sein Auto, keine Kratzer, keine Spuren. Er hasst sich dafür so spießig und pingelig zu sein, aber er kriegt seinen Sauberkeitstick nicht in den Griff. Das erste, wenn er sich in der Wohnung einer neuen Freundin oder Gelegenheitsbekanntschaft aufhielt, war, dass er blitzartig alles im Raum erfasste, jeden noch so geringen oder vermeintlichen Dreck registrierte, jede Unordnung. Ein Grund, warum er lieber im Hotel übernachtete, auch da inspizierte er jede Delle im Bett, suchte die Laken nach Schamhaaren ab, prüfte die Waschbecken, die Dusche und das Klo. Und oft war die Lust dann weg, sowohl bei den potentiellen Freundinnen als auch bei ihm.

Das schätzte er an Martha. Ordnung nach außen und innen.

4. Bild

Lily sitzt im Taxi und fragt sich gerade, was sie da macht. Zwei junge Männer, die sie kaum kennt. Auf ihrem Schoß hat sie eine kleine Reisetasche, auf dieser thront ein großer Ghettoblaster. Sie ist unruhig. Paul fährt. Art sitzt hinten. Beide sind sie noch in ihren Theaterkostümierungen.

Trotzdem spürt Lily tief innen, dass von den beiden keine Gefahr ausgeht. Sie hat ihr mickriges Appartement im Porno-Shop so satt, so unendlich satt; die immer gleichen Typen, und die abgewrackten Frauen, die in den Laden kommen, um sich aufzubrezeln für ihre längst abhanden gekommenen Männer, was die Mühe nicht wert ist. Sie kann schon im Voraus sehen, was mit ihnen los ist. Die Frau heute im Laden war selbstbewusst und schön. Na ja, konnte ihr egal sein. Obwohl. Lily war noch Jungfrau und sprach nicht gern darüber, eigentlich sprach sie überhaupt nicht davon. Ging niemanden was an. Angebote gab es reichlich. Es ekelte sie vor den Typen, die in den Laden kamen, wenngleich sie sich wunderte, dass auch gut aussehende Männer darunter waren. Das machte sie besonders misstrauisch. Sei es drum. Der Job war okay und sie machte ihn gut. Sie schloss die Augen, nachdem sie das Fenster geöffnet hatte, und hielt ihr Gesicht in den Fahrtwind. Sie war auf dem richtigen Weg. Das spürte sie.

„Lass dich ein“, sagte eine innere Stimme zu ihr, es kann nur besser werden und es wurde besser mit jeder Sekunde. Sie stellte sich Arts Wohnung vor. Art war für sie kein Problem, er hatte etwas Kindliches, auch etwas Verträumtes. Mit dem würde sie locker umgehen können. Und Paul? Paul war eindeutig nicht an ihr interessiert. Sie erinnerte sich an die Jägermiene, die er bei der Frau im Laden aufsetzte. Und er hatte Erfolg damit und gleich deren Visitenkarte in der Tasche. Paul fuhr rasant die Straßen entlang, dachte an seine potentielle Eroberung, was ihn leicht machte. Art dachte nichts, er bohrte seinen Blick in den Nacken von Lily. Dann dachte er an seine Mutter, die schon seit Monaten auf Reisen war.

Ihn überfiel plötzlich panische Angst, dass sie nie mehr zurückkommen könnte. Er zweifelte, ob Lily ihren Platz einnehmen könnte. Die Idee aber, dass er das überhaupt in Erwähnung ziehen konnte, irritierte ihn. Das Taxi gehörte ihm, auf dem Papier. Paul verdiente sich was nebenher als Fahrer, um sein Schauspielstudium zu finanzieren. Art machte eigentlich gar nichts. Jedenfalls nichts Richtiges, wie er es nannte. Er bewunderte Paul für seine Leidenschaft zum Spiel und den Erfolg um jeden Preis. Trotzdem, die Julia zu verkörpern hatte auch ihm Spaß gemacht, und er hatte sich wohlgefühlt in den historischen Kleidern, den märchenhaften Idolen vom Liebestod. Urplötzlich kam ihm die Idee sich umzubringen, wenn seiner Mutter etwas zustoßen sollte.

Er wurde unruhig, zog sein Handy aus der Tasche und wählte ihre Nummer. Nur die Mailbox. Er sagte nichts. Er versuchte sich zu beruhigen, freute sich, eine neue Mitbewohnerin zu haben. Eine neue Ablenkung. Paul lebte schon seit einem halben Jahr bei ihm. Gut, er finanzierte ihn teilweise, wenn schon, Geld war genug da und für ihn, der nie gearbeitet hatte, war Geld einfach nur abstrakt. Und Lily? Warum nicht? Die Wohnung, oder besser gesagt das Penthouse, war groß genug. Die Sache mit dem Geld verwirrte ihn. Plastikkarten, auf die er manchmal starrte, als wären sie Fremdkörper aus einer anderen Welt, und die Macht besaßen, alle Wünsche zu befriedigen. Nur nicht das, was er sich wünschte. Liebe. Ausschließlich.

Art war ein schmaler junger Mann mit einer schlechten Haltung, feminin hübsch, weich, mit dunkelblonden Haaren. Er war fast zwanzig. Ein ebenmäßiges Gesicht, blaue Augen.

Die Mädchen starrten ihn an, oh wie süß, und die Typen erst. Er wusste nicht, was ihm unangenehmer war oder auch nicht. Er lächelte. Es gefiel ihm. Irgendwie und irgendwie nicht.

 

 

5. Bild

Martha ist wütend. Wütend auf sich selbst und auf Jim. Sie ist sich sicher, dass er zuhause ist und nicht abnimmt, wie er es oft tut, was sie nicht nur vermutet, sondern weiß. Sie denkt an ihren Sohn, den sie seit Jahren nicht gesehen hat und der jetzt 12 Jahre alt ist. Sie zählt die Finger an ihrer Hand, schämt sich dafür, dass sie nachrechnen muss und überlegt sich, ob er sie vielleicht vermisst. Vermisst sie ihn? Sie ist sich nicht sicher. Das war schon okay so. Oder doch nicht? Sie ärgert sich jetzt über sich selbst, sie hat es so gewollt, dass er beim Vater aufwächst in einem anderen Land auf einem anderen Stern. So kommt es ihr vor. Und trotzdem wünscht sie sich, er möge einfach anrufen, sagen, dass er sie vermisst und so. Trallala. Und „Mama“ sagt. Zu ihr. Jetzt muss sie grinsen, sie hat sich nie an das Wort Mama gewöhnen können, schon als er ein Baby war, das erste Wort was er sprach war „Auto“ und später, viel später, Martha. Sie dachte an den Vater ihres Kindes nicht mit Namen, obwohl er natürlich einen hatte, für sie war er einfach der Vater ihres Sohnes.

Ihr Sohn hieß Jim. Ironie des Schicksals. Jim scheint keine Erfolg versprechende Namenswahl gewesen zu sein. Der Vater, ihr Ex, so fremd. Sie kann sich nicht sein Gesicht vorstellen. Eine kurze Ehe, keine Höhen, keine Tiefen. Sie, bei der Polizei, Anfängerin, und er Entwicklungsingenieur bei einem Autokonzern.

Wenn die Schwangerschaft nicht gewesen wäre. Es beruhigte sie, dass ihr Sohn versorgt war und sie spürte tief in ihr, dass er es gut hatte. Sie und ein Kind. Ein Versehen. Ein Zufall.

Und doch. Es nagte an ihr, dass er sich nicht meldete. Jim, der kleine Jim, der jetzt 12 Jahre alt ist. Sie spielt mit dem Gedanken, sich eine Mail-Adresse nur für ihn einzurichten. Zieht die Idee zurück, weiß, dass die Sache gelaufen ist, oder doch nicht? Verzeihen Kinder? Verzeiht sie? Ihr Mann hat ihr nicht verziehen. Lumpige Affäre mit einem Kollegen. Noch dazu ein Vorgesetzter. Nichts Besonderes. Und das aus Langeweile. Perfekt. Alles ist perfekt so, wie es ist. Aber wie ist es? Eigentlich. Sie geht an den Kühlschrank, reißt die Tür auf und schaut angewidert auf den Inhalt. Nichts drin. Nichts, was sie anmacht. Sie schnappt sich ein Bier, lässt den Verschluss schnappen und trinkt aus der Flasche. Nicht mal das schmeckt ihr. Sie wird in die nächste Kneipe gehen, sich an die Bar hocken und was trinken.

Sie denkt: „Gott sei Dank habe ich mir das Rauchen abgewöhnt.“

Und komischerweise stört sie der Geruch nicht in Kneipen. Im Gegenteil. Er beruhigt sie. Sie wird nicht mehr denken.

Morgen ist auch noch ein Tag. Sie nimmt sich ihren Mantel, eine derangierte Umhängetasche, die mehr als scheußlich ist, aber aus nostalgischen Gründen hängt sie an ihr. Die Tasche passt nicht zu ihren Designerklamotten, die nicht auffällig sind, so eher klassisch, aber für sie genau richtig. Sie stellt sich prüfend vor den Spiegel, bürstet sich das hellbraune Haar mit den einzelnen schwarzen Strähnen streng aus dem Gesicht und mustert sich. Sie ist dreiunddreißig Jahre alt und findet, dass sie älter aussieht. Das macht ihr nichts aus. Im Gegenteil. Schon immer hat sie sich gewünscht alt zu sein und um ihrer Seele wegen geliebt zu werden.

„Welche Seele“, denkt sie zynisch, „... und Jim? Was soll’s.“

 

 

6. Bild

Jim betrachtet aufmerksam die Tätowierung des toten Junkies. Zwei seiner Kollegen sind inzwischen eingetroffen. Er streift sich Gummihandschuhe über und fährt über die Haut des Handgelenkes. Die Tätowierung ist frisch, noch leicht gerötet. Ein japanisches Zeichen.

Seine Kollegen sind älter als Jim. Dr. Brendel, seit 20 Jahren in der Drogenfahndung tätig, ein bullig wirkender Mann um die sechzig, mit einem weichen Gesicht, wenigen Haaren, der eine Zusatzausbildung als Polizeipsychologe hat. Böse Zungen behaupten, er habe in der Psychiatrie während seiner Zeit als Assistenzarzt mit fragwürdigen medikamentösen Therapien gearbeitet. Zugunsten der Pharmaindustrie, aber nicht der Patienten.

Böse Stimmen gibt es immer, dachte Jim und überlegte sich, was wohl die anderen über ihn selbst dachten. Dr. Brendel war Profi, und nur darauf kam es an. Und wenn er bei den Bullen gelandet war, na, wenn schon. Anderen soll es auch nicht besser gehen.

Michael, so um Mitte dreißig, war verträglich, hatte eine ähnliche Figur wie Dr. Brendel, aber ein kantiges Gesicht mit wachen Augen, die meistens zugekniffen waren, was an seinen Kontaktlinsen liegen konnte, oder an Gewohnheit. Er mochte es nicht, wenn man ihn direkt ansah. Zuverlässig. Mit blonden vollen Locken auf dem Kopf von grauen Strähnen durchzogen.

Sein Vorgänger bei Martha. Aber, kein Problem, dachte Jim. Michael dachte gar nichts. Er mochte Jim nicht. Auch Brendel nicht. Job war Job. Also, die Drei schauen sich die Tätowierung an. Alle haben sie Handschuhe an. Drehen und wenden den armen Kerl als wäre er ein Steak in der Pfanne. Jim stellt fest, dass die Tätowierung von hoher Qualität ist, die Exaktheit, die feinen Stiche. Brendel meint, das Japanzeugs sei gerade in. Michael sagt nichts, schaut in das Gesicht des Toten, das einen toten Ausdruck trägt. Was auch sonst. Jung. Sehr jung. Vielleicht 18, höchstens 21.

Brendel zu Jim: „Wollte er zu Ihnen?“

 „Ich habe ihn noch nie gesehen. Reiner Zufall.“

Brendel: „Merkwürdig, dass er sich gerade hier den Todesschuss gesetzt hat.“

Jim gereizt: „Ich habe ihn nicht erschossen.“

Jim prüft noch einmal mit verstohlenen Blicken sein Auto, ihm fällt nichts auf. Er ist beruhigt darüber, dass der Wagen wirklich in Ordnung ist.

Brendel winkt die 2 Sanitäter, die respektvoll 10 Meter entfernt warten, zu sich. Sie stecken den toten Körper emotionslos in einen Leichensack und verladen ihn im Auto. Es ist eine angespannte Atmosphäre zwischen Jim, Michael und Brendel.

Michael fängt an zu frösteln, er schaut Jim an, dann Dr. Brendel. Michael ist der unmittelbare Kollege von Jim, in der Hierarchie steht er unter ihm. Eine Stufe. Dr. Brendel gibt sich den Anschein über allen zu stehen, was stimmt. Michael winkt Jim und Dr. Brendel kurz zu und geht. Nicken von beiden. Man sieht sich.

Brendel verabschiedet sich formlos von Jim mit den Worten: „Wir sehen uns morgen.“

„Sicher, morgen ist auch noch ein Tag.“

Brendel ist irritiert und geht. Jim bleibt allein auf dem Parkplatz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

©2011-2020

Diese Kategorie durchsuchen: Hobby, Reise & Abenteuer
1 - 1 von 3 Ergebnissen