Städing: Nur noch das Leben zählt

17,98
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Das ergreifende Dokument eines Zeitzeugen: Der Autor erlebt als Kind den 2. Weltkrieg in der Nähe von Stettin bei seinen Großeltern. Zuerst war alles nur ein Abenteuer, doch bald schon wurde daraus bitterer Ernst. Der Luftschutzkeller wurde das 2. Zuhause zuerst nur nachts, dann aber sehr schnell auch am Tage. Die Ungewissheit, ob man gehen oder bleiben soll, machte sich in der Familie breit und übertrug sich auf die Kinder. Alles lieb gewonnene in Stich zu lassen war unvorstellbar, wurde jedoch immer mehr zur Realität, besonders mit Beginn des Jahres 1945. Dann kam die überhastete Flucht in den Westen ...

 

Bodo Städing: Nur noch das Leben zählt, Broschur, ca. 429 S., € 17,98, ISBN 978-3-86992-006-1

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Leseprobe: 

 

1. Kapitel

 

Bereits als kleines Kind begann ich, das Wort Krieg zu hassen, obwohl ich seine wahre Bedeutung nicht einmal ansatzweise kannte. Es waren nicht allein die ernsten Gesichter, die ich bei den Erwachsenen beobachten konnte, wenn sie über Luftangriffe auf unsere Städte sprachen, sondern eher die Einschränkungen, die mich – den kleinen Knirps von nicht einmal fünf Jahren – bedrückten: „Lauf nicht so weit vom Haus weg!“; „Wenn die Sirenen heulen, nimmst du die Beine in die Hand und rennst so schnell du kannst sofort nach Hause!“ ... Wobei ich sagen muß, dass am Tage kaum einmal eine Sirene heulte, jedenfalls keine Luftschutzsirene. Dagegen konnte ich ganz schön bockig werden, wenn ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wurde.

Je länger dieser Krieg dauerte, desto mehr neue Ermahnungen kamen hinzu; und alle sollte ich behalten, obwohl ich gerne weitergetobt hätte. Ich wußte zwar immer noch nichts mit dem Begriff „Krieg“ anzufangen, doch nahm er mir ein großes Stück Freiheit – bis schließlich nichts mehr übrig blieb. Er begleitete mich, wohin ich auch ging.

Als ich meinen Großvater fragte, warum es Krieg gibt, bekam ich zur Antwort: „Das versteht ein kleiner Junge noch nicht. Wenn du älter bist, werde ich es dir erklären.“ Dabei blieb es erst einmal. Was sollte er auch groß antworten.

Damit wusste ich zwar nicht, weshalb ich bei Sirenengeheul sofort zu rennen hatte, denn zwischen den verschiedenen Heultönen, die Alarm und Entwarnung bedeuteten, passierte nie etwas, und in den Luftschutzkeller habe ich am Tage auch niemanden rennen sehen. Wenn also nie etwas passiert, schleicht sich ein gewisser Schlendrian ein und die Ermahnungen haben es schwer, zu fruchten.

Ich wuchs wohl behütet bei meinen Großeltern in Altdamm, einem Vorort von Stettin, auf. Oma Emmy und Opa Paul waren die Eltern meiner Mutter, die als Krankenschwester in einem Lazarett arbeitete und für mich nie Zeit hatte. Und da bei uns im Haus und auch in der Nachbarschaft fast nur ältere Menschen wohnten – die jüngeren zog es in die Städte oder sie standen als Soldaten an irgendwelchen Fronten –, waren Spielkameraden Mangelware. So suchte ich mir meinen Zeitvertreib selber. Ich konnte mich stundenlang mit mir selbst beschäftigen.

So wusste ich schon sehr viel über die Eisenbahn, besonders über die Lokomotiven, die dicht an unserem Haus vorbeifuhren nach Gollnow und weiter zur Ostsee. Ich war ganz verrückt nach Sammelbildern von Lokomotiven. Die habe ich dann mit den großen, richtigen Loks auf der Bahnstrecke vor unserem Haus verglichen. Opa erklärte mir die Typennummern; und da ich noch nicht alle Zahlen kannte, lernte ich sie eben auswendig. Ich habe oft am Bahndamm gestanden und den Reisenden zugewunken.

Vor dem Bahndamm lag ein kleiner Teich. Der war sehr schlammig und im Sommer ganz mit Entenflott bedeckt. Hier habe ich stundenlang und gern herumgestochert. Es gab hier am Tümpel ständig etwas Neues zu entdecken und zu untersuchen. Ich habe Kaulquappen gefangen und beobachtet, wie daraus winzige Frösche wurden. Meistens sah ich am Ende dann selbst aus wie ein Laubfrosch, wenn mein Körper von oben bis unten mit den winzigen Blättchen bedeckt war ...

Da das Haus, in dem wir wohnten, das letzte in der Straße war und dahinter gleich ein großer Kiefernwald mit Blaubeeren und Pilzen begann, verzog ich mich oft auch hierhin – aber stets in Rufweite vom Haus.

Im Winter war Schnee bei uns Ehrensache. Nicht selten kam er in Pommern bereits im November; und wir wenigen Kinder konnten dann den ganzen Tag prima rodeln. Es kamen auch schon mal Kinder aus der entfernteren Nachbarschaft zu uns. Die konnten richtig gemein sein. Die haben mich dann fortgejagt, weil sie älter waren als ich und mich halbe Portion nicht für voll nahmen. Dann habe ich geweint, weil ich mir die Rodelbahn selbst gebaut hatte. Manchmal haben sie mich auch mit rodeln lassen, besonders wenn Opa Fibelkorn schimpfte – und das tat er oft und gerne. Wir hatten immer das Gefühl, als mochte er keine Kinder. Aber das war Quatsch. Er mochte nur keine Ausgrenzung.

Wenn wir mit dem Schlitten vom Bahndamm herunter gesaust sind, bekamen wir so ein Tempo, sodass wir über den zugefrorenen Teich bis an die Straße kamen. Natürlich nur, wenn Bello, Opa Fibelkorns Promenadenmischung aus Schäferhund und Dackel, nicht da war. Der konnte es nämlich nicht ertragen, dass wir laut johlend angesaust kamen. Der Köter war so doof, dass er sich genau auf die Schlittenspur stellte, in der wir rodelten, nur um zu kläffen. Weil wir ja nicht bremsen konnten, passierte es schon mal, dass ihn ein Schlitten rammte. Aber dann hättest Du Bello erleben sollen: Kreischend und jaulend fegte er mit eingeklemmtem Schwanz durch die Toreinfahrt zum Bauernhof von Fibelkorns, um kurze Zeit später – erneut kläffend – an der gleichen Stelle zu stehen. Natürlich machte es uns auch Freude, absichtlich den Hund zu rammen; doch wenn Opa Fibelkorn das sah, wurde er böse. Manchmal rannte er mit einem Knüppel hinter uns her. Gekriegt hat er uns nie, vielleicht wollte er es auch gar nicht.

Auf der anderen Seite der Kopfsteinstraße befand sich das Haus, in dem wir wohnten. Es war ein großes, graues und U-förmiges Gebäude, mit einem Innenhof und drei Eingängen zur Straße. Wir wohnten in der Mitte – Hochparterre rechts. An die anderen Bewohner kann ich mich nicht mehr erinnern.

Eigentlich war meine Familie in Gollnow zu Hause. Dort hatte Opa Paul eine Tischlerei. Als dann der Krieg ausbrach und seine Leute zum Wehrdienst einberufen wurden, meldete er sich freiwillig für den Instandsetzungsdienst in Stettin. Der sollte Aufräumungsarbeiten durchführen, falls irgendwelche Schäden durch Bomben entstehen. Da das 1942 noch nicht oft vorkam, hatte er sehr viel Freizeit, die er mit seiner Familie verbrachte oder irgendwelche Arbeiten für Bekannte ausführte. So auch für Familie Fibelkorn, was uns und besonders mich, mit der Landwirtschaft in Berührung brachte. Aber da ich absolut Lokomotivführer werden wollte, kam der Beruf als Bauer erst zweitrangig infrage.

In unserer Straße, die hieß „Ulrich Massow Straße“, standen alle Häuser nur auf einer Seite. Auf der anderen Seite zogen sich Felder und Wiesen bis an den Bahndamm heran. Die gehörten alle Opa Fibelkorn. Ich brauchte keine Angst zu haben, wenn ich über die Straße ging. Autos kamen ganz selten. Morgens kam der Milchmann. Der hatte nur einen Pferdewagen, der von einem ganz dicken Pferd mit struppigem Fell gezogen wurde. Es trug stets Scheuklappen vor den Augen, weil es immer verrückt spielte, wenn ein Zug vorüber ratterte und seine Ankunft im Bahnhof von Altdamm mit einem ausgedehnten Pfeifen signalisierte. Über seinem Rücken lag stets eine gefütterte Zeltplane, die vorne zugeknöpft war. Ich habe immer gesagt, „das Pferd hat eine Schürze um“, weil da ja auch Blumen draufgedruckt waren. Oma Emmy kaufte dann bei ihm Butter und Quark, das er aber nur gegen Lebensmittelmarken abgab. Unsere Milch habe ich fast jeden Abend von Oma Fibelkorn in einer Emaillekanne geholt. Die wusste schon immer Bescheid und gab mir stets mehr Milch als auf dem Zettel stand, den mir Oma Emmy in die Kanne gelegt hatte.

Hin und wieder kam auch der Kohlenhändler Mahnke, ein alter Ostpreuße, den ich nie verstanden habe, weil der so ein falsches Deutsch gesprochen hat. Der Mann ging immer ganz schief, weil er einem Buckel hatte. Das sah ganz lustig aus, aber wenn ich gelacht habe, hat Oma mir immer die Hand auf den Mund gelegt, damit der das nicht zu sehen bekam, weil es ihr peinlich war. Herr Mahnke fuhr so einen alten und dreckigen Tempo Rapid mit einem Kessel hinter dem Fahrerhaus – für Holzgas. Das war ein kleiner Lastwagen mit drei Rädern. Vorne eines und hinten nochmal zwei. Der Motor stank so stark nach Auspuffgasen, dass man in der Nähe kaum atmen konnte. Manchmal kam auch ein Möbelwagen. Der war riesig groß und holte die Möbel, wenn jemand auszog, oder brachte sie, wenn jemand einzog. Sehr oft war das aber nicht.

Ich lebte also in einer völlig anderen Welt, die Du dir heute nicht mehr vorstellen kannst. Es gab für mich weder Spielkreis noch Kindergarten, es gab den Teich, die Bahn und den schier grenzenlosen Wald gleich hinter den Bahnschienen und es gab Fibelkorns. Auf seinem Bauernhof habe ich viel und gern gespielt. Der war nicht groß, dafür gab es da eine Menge Tiere. Bello kläffte stets, wenn er mich sah. Das machte er bei jedem, der sich dem Hof näherte, auch wenn man nur vorbei ging. Kam doch einmal jemand, hat er sich verkrochen. Dann hast du ihn gehört aber nicht gesehen. Seinen Schwanz trug er ständig zwischen den Hinterbeinen eingeklemmt. Wovor er solche Angst hatte, kann ich nicht sagen, aber er ließ niemanden an sich heran. Zu seinem Fressnapf kroch er auf dem Bauch, wenn er sich sicher war, dass alle weg waren.

Die Enkeltochter von Opa Fibelkorn hieß Vera, sie war einige Jahre älter als ich und hat manchmal auf mich aufgepaßt. Dann hat sie Kränze aus Blumen geflochten und mir auf den Kopf gesetzt. Das fand ich so blöd, dass ich sie mir sofort heruntergerissen habe. Ich wollte doch nicht wie so ein zickiges Mädchen herumlaufen. Wir haben zusammen die Gänse gehütet, damit die nicht auf die Schienen liefen, oder haben im Sommer am Bahndamm gelegen und Sauerampfer gekaut, bis mir schlecht wurde. Oft lag ich nur faul im hohen Gras, mit dem der Damm bewachsen war und schaute in den Himmel. Opa Fibelkorn mähte im Sommer den Damm, weil er das Heu für die Kühe und seine drei Pferde gebrauchte. Dann konnte ich von dem Duft gar nicht genug kriegen. Es war herrlich hier leben zu dürfen.

Manchmal bin ich mit ihm zur Plöne gegangen. Das ist ein Fluß, der gleich auf der anderen Seite vom Bahndamm floß. Er war nicht sehr breit und auch nicht überall gleich tief, dafür war ihr Wasser so klar, dass man die kleinen Fische auf dem sandigen Grund stehen sah. Manchmal wurden sie von großen Barschen gejagt.

Opa Fibelkorn hatte dort seine Reusen aufgestellt, in denen er Aale und manchmal auch andere Fische fing.

Die hat Oma Emmy ihm fast alle abgekauft, weil Fisch das einzige Nahrungsmittel war, das es bei uns in Hülle und Fülle und ohne Lebensmittelmarken gab.

Vera nahm mich meistens mit auf den Hof und dann haben wir von ihrer Oma ein Butterbrot mit braunem Zucker drauf bekommen. Das Brot hatte sie selbst gebacken, und wenn es noch ganz frisch war, schmeckte es am besten.

Nicht, dass ich bei Oma Emmy gehungert hätte, oh nein, aber es war eben etwas besonderes, warmes Weizenbrot mit dick Butter und braunem Zucker drauf, zusammengeklappt auf die Hand zu bekommen.

Oma Emmy konnte gut kochen, das hat sie auf einem Gut in Demmin gelernt, das liegt in Mecklenburg.

Ebenfalls bei Oma und Opa wohnte meine Tante Loni.

Sie war die jüngere Schwester meiner Mutter und nur zwölf Jahre älter als ich. Für mich war sie keine Tante, deshalb nannte ich sie Onna, weil ich Loni noch nicht richtig aussprechen konnte.

Wir verstanden uns richtig gut, deswegen war sie auch der liebste Mensch für mich – außer Oma und Opa, ist doch klar.

Überall, wo sie hinging oder hinfuhr, nahm sie mich mit. Dadurch war ich häufig in Stettin und besuchte Uroma Hermine. Das war die Mutter von Oma Emmy.

Manchmal im Sommer fuhren wir mit dem Dampfer nach Swinemünde an die Ostsee. Was sie auch unternahm, ich war dabei.

Einmal ist auch meine Mutter mit nach Swinemünde gefahren. Da gab es einen sehr breiten Strand und man konnte im flachen Wasser enorm weit rauslaufen. Weil am Strand kaum Badebetrieb war, kamen wir uns vor, wie auf einer einsamen Insel.

Meine Mutter fuhr zwar viel lieber nach Mistroy an den Strand. Weil sie sich von Loni hatte überreden lassen, mit nach Swinemünde zu kommen, hatte sie schlechte Laune. Die hat sie dann an mir ausgelassen, indem sie nur herumgenörgelt hat. Darüber war ich auf meine Mutter sauer, und weil ich auf sie sauer war, war Loni auch auf sie sauer. So war jeder auf jeden sauer und der Tag war sauer, weil wir sauer waren. Er endete mit einem schweren Gewitter.

Nachdem es an uns keinen trockenen Flecken mehr gab, machten wir uns auf den Heimweg. Damit es schneller geht, fuhren wir mit dem Zug über Wollin und Gollnow nach Altdamm zurück.

Loni war noch in der Lehre. Sie lernte bei Bäckermeister Krause an der Ecke zum Bahnhof Verkäuferin. „Deswegen ging sie noch zur Berufsschule, damit aus ihr mal eine gute Verkäuferin für Torten und Kuchen wird“, sagte Oma Emmy. Wenn sie abends nach Hause kam, brachte sie mir manchmal was Leckeres aus der Backstube mit.

Von Opa Paul bekam ich immer weniger zu sehen. Er war in Stettin stationiert und führte einen Instandsetzungszug.

Er trug stets eine schicke feldgraue Uniform. Oma war mächtig stolz auf ihn.

Hinterm Haus auf dem Hof hatte Onkel Wilfried Kaninchenställe mit vielen Kaninchen. Opa hat hin und wieder eines geschlachtet. Dabei durfte ich aber nicht zusehen, nur beim Abziehen konnte ich bleiben. Opa sagte dann: „Damit du das eines Tages auch kannst.“

Onkel Wilfried war der Bruder von Loni und meiner Mutter Erika.

Oma hat dann das Fleisch in Weckgläser eingekocht, denn Gefrierschränke gab es noch nicht. Kühlschränke gab es schon, aber die waren sehr selten, weil die so teuer waren. Statt dessen hatten wir eine Speisekammer und einen kühlen Keller.

Der Keller ist von Opa mit dicken Balken und Bohlen verstärkt worden. Denn bei Fliegeralarm sollten wir da unten sicher sein, falls doch einmal Bomben auf Altdamm fallen sollten.

Immer, wenn etwas Besonderes bei uns los war, gab es Kaninchenbraten.

Jetzt, wo Opa Paul nicht mehr jeden Tag zu Hause war, mußten wir die Tiere auch füttern.

Darüber war Oma Emmi nicht gerade begeistert. Am liebsten hätte sie alle in Weckgläser eingekocht, aber das hätte Ärger mit Onkel Wilfried gegeben, wenn er auf Urlaub gekommen wäre, denn der war Soldat in Dirschau, das liegt in Westpreußen nahe bei Danzig.

Leider wurde es mit dem Urlaub nichts mehr.

Oma hatte immer Angst, dass er an die Front muß und hoffte sehnsüchtig auf ein Ende des Krieges, zumal wir doch überall nur siegten.

Dann eines Morgens kam das Telegramm von ihm: „Ausrücken Montag 7. 00 Uhr.“

Für Oma Emmy brach eine Welt zusammen. Sie hat den ganzen Tag geweint. Ich habe nicht verstanden, warum sie den ganzen Tag so sehr weinte. Ich wusste ja nicht, was Krieg wirklich bedeutete.

Ich weiß nicht mehr, welcher Wochentag es war, als der Postbote das Telegramm brachte. Aber ich weiß, es erzeugte eine wahnsinnige Hektik in der ganzen Familie.

Opa nahm sich Urlaub, auch Loni bekam einige Tage frei. Nur meine Mutter nicht, warum weiß ich nicht mehr. Irgendwie fühlte sie sich wohler, wenn sie nicht zu Hause war.

Was war das für eine Hektik im Haus. Loni backte Rosinenkuchen, weil Onkel Wilfried den so gerne mochte und sie konnte gut backen.

Oma war den ganzen Tag am Kaninchenfleisch braten. Nur die Hinterkeulen und der Rücken wanderten in Weckgläser, aus dem anderen Fleisch machte sie Leberwurst, die in Dosen abgepackt wurde und von Opa Fibelkorn mit der Maschine verschlossen wurden. Ich bekam immer so viel Dosen in meinen kleinen Korb, wie ich gerade tragen konnte, und trug sie hinüber.

Dann wurde Weißbrot gebacken, weil die Lebensmittelkarten sonst nicht für den ganzen Monat gereicht hätten und wir ja auch Marschverpflegung für die Reise brauchten. Nur das Kommisbrot kauften wir bei Krause.

Oma Fibelkorn machte aus dem Kaninchenfett, mit Schweinefett zusammen, Schmalz, das ebenfalls in Dosen gefüllt und verschlossen wurde. Sie verfeinerte es mit Äpfeln und Rosinen. So wurde aus der Not eine Tugend. Wir kamen mit den Lebensmittelmarken bestens aus. Wir konnten sogar mit den Nachbarn Marken tauschen.

Opa Paul schlug nur noch die Hände über dem Kopf zusammen, als er diese Mengen an Proviant sah: „Wer soll bloß den ganzen Quatsch essen, du tust gerade so, als gäbe es bei den Preußen nichts zu essen.“

Wieder brach Oma Emmy in Tränen aus: „Wer weiß, wie lange die Jungs unterwegs sind und ob sie genug zu essen bekommen, kannst du auch nicht sagen und übrigens wissen wir nicht einmal, ob Wilfried zurückkommt und schließlich sind das doch seine Kaninchen.“

Opa gab es auf und verließ kopfschüttelnd die Küche.

Wir alle hatten uns schick angezogen. Oma Emmy trug einen großen weißen Hut und ein hellgraues Kostüm.

Loni dagegen hatte immer Probleme mit ihren Strümpfen, weil sich die Naht dauernd verschob und sie ewig damit beschäftigt war, die gerade zu rücken.

Opa sagte dann: „Pariser Mode passt eben nicht zu Mecklenburger Füßen.“

Dann konnte sie fuchsteufelswild werden, und Oma mußte wieder schlichten.

Wir fuhren ganz früh mit dem Zug nach Stettin.

Am Hauptbahnhof stiegen wir aus und gingen zu Urma.

Sie lebte allein in einer großen Wohnung in der Lindenstraße in der Nähe vom Bahnhof.

Einen Uropa hat es nicht mehr gegeben, jedenfalls habe ich den nie kennengelernt, da er vor meiner Geburt gestorben ist. Er soll ein „Hohes Tier“ bei der Reichsbahn in Stettin gewesen sein, ein Inspektor.

Auch meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Er war Berufssoldat und somit von Anfang an im Krieg.

Meine anderen Großeltern haben wir nicht sehr oft besucht, obwohl Opa Willy, im Zimmer meines Vaters, dessen elektrische Eisenbahn für mich aufgebaut hatte.

Opa Willy war Lokführer auf einer riesigen Güterzuglokomotive und fuhr damit bis nach Frankreich. Dann war er mehrere Tage weg und Oma Liesel war sauer, weil sie die ganze Arbeit im Haus und im großen Garten allein erledigen mußte.

Sie hat sich immer nur beklagt. Ich habe niemals in meinem Leben einen Menschen kennengelernt, der mit sich und seiner Umgebung so unzufrieden war, wie diese Oma. An allem und jeden hatte sie etwas auszusetzen gehabt.

In ihrem Garten standen sehr viele Obstbäume und Sträucher. Hier durfte ich so viel essen, wie ich mochte, weil sie die dann nicht zu ernten brauchte. Meistens aß ich noch mehr, was mir natürlich gar nicht gut bekam.

Uroma hat mich fast täglich besucht, wenn ich bei meinen anderen Großeltern war. Das war überhaupt nicht weit und sie war trotz ihres Alters noch sehr gut zu Fuß.

Vom Stubenfenster konnte ich den Bahnhof sehen. Ich sah alle Züge, die rein und raus fuhren. Manchmal wurden die Güterzüge von zwei großen Lokomotiven gezogen, weil die so lang und schwer beladen waren. Die machten enorm viel Rauch, dass es im Zimmer fast dunkel wurde.

Ich stand dann meistens am Fenster, um mir den Bahnverkehr anzusehen.

Ich hatte von Opa Willy ein Buch geschenkt bekommen mit den Abbildungen fast aller Lokomotiven der Reichsbahn in Farbe.

Zu der Zeit wurden alle Züge von Dampflokomotiven gezogen. Es gab irre viele verschiedene Typen. Kleine Rangierloks und Personenzugloks, schwere Güterzuglokomotiven und schnittig verkleidete D-Zugloks, die rot gestrichen waren.

Da ich mir gut Zahlen merken konnte, wußte ich immer, welche Lok da gerade fuhr.

Heute hatten wir aber dazu keine Zeit, denn wir wollten ja alle zu Onkel Wilfried. Der war inzwischen nach Graudenz verlegt worden, da gab es einen großen Truppenübungsplatz. Das liegt südlich von Dirschau nicht sehr weit von Bromberg entfernt an der Weichsel. Uns stand eine lange Bahnreise bevor.

Uroma wollte unbedingt mit, deswegen haben wir sie abgeholt.

Sie trug wie immer ein langes schwarzes Kleid mit einem weißen Spitzenkragen, den sie herausknöpfen konnte und einen leichten grauen Mantel.

Am Hut hatte sie einen Schleier, der ihr vor dem Gesicht hing. Das sah lustig aus, aber lachen durfte ich nicht, weil sie dann böse wurde. Ich weiß nicht, ob sie das ernst meinte.

Über dem linken Arm trug sie ihre Handtasche und in der rechten Hand den Krückstock mit Elfenbeingriff. Mit dem fühlte sie sich sicherer.

Oma und Loni nahmen sie in die Mitte, damit es schneller ging, weil wir den Zug nicht verpassen durften, weil der ja auf uns nicht gewartet hätte.

Wir kamen rechtzeitig an, denn der Zug hatte, wie so oft, Verspätung.

Opa hatte bei der Ankunft das Gepäck aufgegeben, damit er die schweren Koffer nicht zu schleppen brauchte. Nun aber musste er sie noch auslösen und die Schlange am Schalter war beträchtlich. Trotzdem kam er noch rechtzeitig mit den schweren Koffern angeprustet.

Auf dem Bahnsteig standen sehr viele Leute. Ich hatte Angst, dass wir keinen Platz mehr kriegen würden, weil ich mich doch so auf die Reise gefreut hatte und auch auf Onkel Wilfried. Aber die Angst war unbegründet, wie sich herausstellte.

Als die Lautsprecher losdröhnten „Achtung Bahnsteig eins, es hat Einfahrt der D-Zug nach Thorn über Schneidemühl und Bromberg, auf Gleis zwei, Vorsicht an der Bahnsteigkante!“, überwog die Spannung.

Dann kam er angerauscht.

Voller Ehrfurcht nahm ich das Bild in mir auf. Die riesige Lok vom Typ 05 war total verkleidet und rot angestrichen. Nur ein Teil der gewaltigen Räder schaute unten heraus. Überall dampfte und zischte es. Der Zug fuhr so schnell, dass ich glaubte, er hält gar nicht an.

Das schafft der nicht, das geht gar nicht.

Doch dann fing er an zu kreischen und zu quietschen, dass ich mir die Ohren zu halten mußte.

Endlich kam er mit einem kräftigen Ruck zum Stehen.

Wieder begann die Stimme im Lautsprecher zu rasseln: „Stettin, Stettin Hauptbahnhof, der eben eingefahrene D-Zug aus Hamburg fährt weiter nach Thorn über Schneidemühl, Bromberg mit Anschluß nach Krakau. Wegen Gefahr von Luftalarm, beim Aus und Einsteigen bitte beeilen.“

Es wurde fürchterlich gedrängelt. Loni und Opa nahmen mich in die Mitte, damit ich nicht verloren ging.

Dann halfen sie Uroma, weil die allein nicht die steilen Stufen in den Wagen geschafft hätte.

Die Reisenden reichten sich ihr Gepäck durch die geöffneten Fenster in die Abteile hinein, weil das erheblich schneller ging.

Ein Kofferträger reichte Opa dann die Koffer hinein mit der Bemerkung zu, ob er wohl Vertreter einer Ziegelei sei und seine Muster mit sich herumschleppte, worin Opa ihm absolut recht gab. Wir mussten alle herzhaft lachen.

Ich hatte meinen kleinen Tornister auf dem Rücken, in den Oma unseren Proviant deponiert hatte.

Wir hatten dann ein ganzes Abteil für uns.

Opa öffnete zuerst das Fenster, weil es stark nach Zigarren oder Zigarettenrauch stank. Dann stemmte er mit äußerster Kraft die beiden Koffer ins Gepäcknetz über den Sitzen.

Ich stellte mich auf den Heizungskasten unter dem Fenster, damit ich hinausschauen konnte.

Auf dem Nebengleis hielt ein Zug mit einem roten Wagen, in dem die Reisenden an Tischen saßen, auf denen Teller und Tassen standen.

Opa hat es mir dann erklärt, dass das ein Speisewagen ist und der Zug aus Königsberg kommt und nach Amsterdam weiter fährt. Das stand auf einer weißen Tafel an einem Waggon.

Plötzlich fuhr unser Zug ganz leise in die falsche Richtung ab.

Ich war ganz aufgeregt, bis ich merkte, es war der Zug mit dem roten Speisewagen, der abfuhr. Leider konnte ich die Lok nicht sehen.

Dann wieder die laute Stimme im Lautsprecher: „Achtung Bahnsteig eins. Vorsicht an der Bahnsteigkante, der D Zug nach Thorn fährt, ab.“

Ein schriller Pfiff und ganz langsam ging es in die richtige Richtung aus der Bahnhofshalle hinaus.

Ich konnte aus dem Fenster sehen, Dampf und Qualm bekam ich ins Gesicht, das störte mich aber nicht. Ich machte meine Augen fast zu, damit mir nichts hinein fliegen konnte.

Kurz hinter der Bahnhofshalle fuhren wir in eine Kurve, dadurch sah ich am ganzen Zug entlang bis zur Lokomotive und zur anderen Seite bis zum Zugende.

Unser Zug führte auch einen roten Speisewagen mit, also bekamen wir hier auch etwas zu trinken und zu essen. Ich durfte in so einem schicken Zug fahren, in dem die Bänke nicht aus Holz waren, sondern weich und warm gepolstert.

Die Lok machte mächtig viel Qualm.

Wir fuhren vorbei an Arbeitstrupps, die Gleisarbeiten durchführten. Viele Arbeiter trugen gestreifte Anzüge.

Als ich Opa fragte, warum die solche Zebraanzüge trugen, sagte er: „Das sind Menschen, die etwas ausgefressen haben und dafür nun zur Strafe arbeiten müssen.“

Ich fragte ihn, warum denn da auch Soldaten mit Gewehren stehen und er sagte: „Damit die nicht abhauen.“

 

 

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