Literatur, die bewegt!
In dieser Sammlung findet man ironische und böse, humorvolle und satirische, ernste und harte, dramatische und tragische, alltägliche und menschliche Kurzgeschichten, die von unterwegs und von zu Hause erzählen: So verschieden die Themen sind, ziehen sich doch zwei rote Fäden durch die Texte: Die Geschichten enthalten den Aspekt des Zufalls, als willkürlichen Eingriff in das Leben von Menschen. Manchmal ist er grausam und zerstörerisch, ein andermal harmlos oder sogar wohlwollend, aber immer unausweichlich. Als zweites treffen wir überall auf die Sehnsucht, ob nach Leben, nach Liebe, nach Erfolg oder Rettung. Sie ist die Triebfeder menschlichen Strebens und Handelns und oft stärker als die Vernunft. Das bedeutet nichts Anderes als ein offenes Bekenntnis zur Romantik.
Winfried Thamm, 1955 geboren, wuchs in Essen-Altenessen auf. Seine Mutter war Schneiderin und sein Vater Straßenbahnfahrer. Nach dem Abitur studierte er Germanistik und Kunstpädagogik, wurde Lehrer. Er gründete zusammen mit Leo Kowald das Kabarettduo "Zwei ATÜ" und schrieb dafür Lieder, Dialoge & Gedichte. Im Theaterpädagogischen Zentrum im "Grend" lernte er die Schauspielerei. Die eigene Theatergruppe "Theater Schräglage" entstand. Heute wohnt der Autor mit Frau und Sohn in Essen-Bergerhausen.
Winfried Thamm: Glück geht anders, Unglück auch, Broschur, ca. 150 S., € 13,98, ISBN 978-3-86992-020-7
Titelbild zum Download (300 dpi)
Leseprobe:
Die Sonne will noch nicht untergehen. Und doch werden die ersten Sundowner bestellt. Die Bar liegt zwischen Strand und Dünen, malerisch, sagt man wohl. Ihre offenen Flügeltüren weisen auf eine große Holzterrasse. Auf ihr stehen etwa zwanzig Tische aus Rattan, mit je vier armlehnigen Stühlen, auch aus Rattan, ein Hauch Kuba. Die Sonnenschirme spielen Kokospalmen, ein Hauch Karibik. Blau-weiß-rote Fahnen knattern in der Meeresbrise, Holland. Es wird wieder eine laue Sommernacht werden. Langsam trudeln die Abendgäste ein, zum Sonnenuntergang.
Zwei Männer betreten die Terrasse und wählen einen Tisch am Rand, ungestört. Zwei sonnenrote Köpfe, ein entspanntes und ein verspanntes Gesicht.
„Ist das nicht ein herrliches Fleckchen Erde, Roland!“
Beide lassen sich in die Rattansessel fallen, synchron. Die Möbel antworten mit Ächzen, auch synchron.
„Schon nicht schlecht, hast Recht, Gerd.“
Roland hebt zwei Finger Richtung Theke. Man kennt sich, man versteht sich. Internationale Rituale. Biere werden gezapft.
„Was heißt hier: schon nicht schlecht?! Sonne, Sandstrand, Luxusstellplatz, prima Wohnwagen, mein neues Vorzelt, dein neues Chemo-Klo, kaltes Bier und gleich geht extra für uns, Alter...“ Gerd boxt Roland männerfreundschaftlich auf den Arm, „...die Sonne im Meer unter, genau da drüben. Ich liebe Westküsten wegen dieser Sonnenuntergänge. Habe ich dir schon mal erzählt, dass wir uns vor Jahren in der Bretagne genau deswegen sieben Campingplätze an einem Nachmittag angeguckt haben, bevor wir den richtigen hatten? In Ploumanach. Herrliche Sonnenuntergänge waren das. Der Strand allerdings ziemlich veralgt. Na ja, man kann nicht alles haben.“ Gerd sondert Euphorie ab. Das Bier kommt, zwei große.
„Ja endlich! Ja, hast erzählt. Haben wir verdient, das Bier.“ Rolands Mundwinkel wagen sich nach oben.
„Na also, es geht doch, Herr Griesgram.“
Sie stoßen an, nehmen tiefe Züge, frisches Bier, synchron.
Gerds Glück will reden: „Dass Helga und Petra heute Abend bei den Kindern bleiben und uns diesen Abend schenken, ist doch unheimlich nett von ihnen, oder?! Wir haben doch echt Glück mit unseren Frauen, find ich.“
„Ja, doch. Können nicht meckern“, gesteht Roland.
Sie trinken wieder große Schlucke aus großen gläsernen Krügen, synchron. Wie eingeübt.
„Eigentlich nicht“, ergänzt Roland.
„Wie meinst du das? Was ist uneigentlich?“, merkt Gerd.
„Nicht der Rede wert“, blockt Roland.
Sie trinken wieder, nicht mehr ganz so synchron. Ihre Blicke wandern über den sich langsam leerenden Strand. Sie streichen absichtlich über anmutige junge Rundungen, treffen zufällig auf welkes ältliches Fleisch, fliegen über behaarte Fettberge und Waschbrettbräuche zurück zu den knackigen jungen Rundungen. Die ganze Farbpalette menschlicher Haut: brutzelbraun, krebsrot, leichenblass.
„Was hier alles so rumliegt, erstaunlich. Streckenweise sehenswürdig, mal ästhetisch gesehen“, brummelt Roland.
„Ja, so kann man es auch ausdrücken. Zum Angucken ist das ja was fürs Auge, aber keine dieser knackigen Strandnixen würde ich gegen meine Petra eintauschen. Das ist doch nur junges Abenteuergemüse. Nichts, im Vergleich zu einer langjährigen gewachsenen Beziehung, oder?!“ Gerd sucht Einigkeit.
„Na ja.“ Roland setzt Fragezeichen.
„Was ist eigentlich los mit dir? Du sagst so was und siehst dabei ziemlich verdrossen aus. Nun sag schon: Ist was mit Helga?“, bohrt Gerd.
„Was soll schon sein. Alles in Ordnung. Nichts Wichtiges.“
Blicke auf den Strand. Kaum noch Leute. Keine Rundungen mehr. Nur noch quengelnde Blagen und genervte Eltern.
Gerd trinkt aus. Roland hat schon. Ein Zeichen, zwei Finger, zwei Große, prompt. Roland trinkt. Gerd hat gerade noch.
„Nee, jetzt sag mal. Was meinst du mit, nichts Wichtiges? Werde mal konkret!“ Gerd wünscht ehrlichen Austausch unter Männern.
„Ach, nur Kleinigkeiten, ewige Kleinigkeiten. Machen mich kribbelig.“ Roland will nicht, noch nicht.
„Komm Alter, Butter bei die Fische. Lass es raus.“ Gerd riecht Nähe.
„Ja, Zett Be, abends im Wohni. Kinder pennen. Wir lesen. Alles still. Helga isst Möhren. Beißt rein: Krach! Kaut: Krabb, krabb, krabb. Macht mich wahnsinnig. Anschreien, wegrennen, erwürgen?! Kann ihr doch nicht das Möhrenessen verbieten.“ Mundwinkel unten.
„Das ist alles? Mein Gott ...“, grinst Gerd.
„Geht weiter. Hat schon ganz orangene Handflächen und Fußsohlen. Sie hat total orangene Füße, von den Möhren, verstehst du?! Tonnenweise Möhren. Ist das normal? Nee, albern, peinlich!“ Roland schaut auf seine Hände am Bierkrug.
Gerd gluckst vor Lachen, will sich nicht einkriegen. Schaut Roland an. Er blickt auf seine Hände am Bierkrug, streng.
„Ach du meine Güte. Petra isst unentwegt Kohlrabi und Stangensellerie. Das hört sich genau so an, riecht nur ein bisschen strenger. Aber das ist doch besser als all die Süßigkeiten, die sich andere Frauen reinziehen und dabei alle Badeanzüge sprengen. Unsere Frauen haben doch noch eine gute Figur, trotz der Jahre und der Geburten. Überleg mal, all die Möhren wären Snickers oder Mars. Übrigens Raider heißt jetzt Twix! Ha, ha, ha !“ Gerd rollt sich ab.
Er gluckst in seinen Bierkrug. Roland trinkt erst nach Gerd, asynchron.
Ein Zeichen, zwei Finger, zwei Neue.
“Ach deshalb hat Helga so einen frischen Teint. Ich dachte immer, sie ginge heimlich auf die Sonnenbank. Ist doch prima. Was willst du eigentlich?“, flachst Gerd.
„Lach nicht. Gibt noch mehr.“ Roland wird schmallippig. „Sie organisiert alles. Sich und mich zu Tode. Für zwei Stunden Strand wird der halbe Wohnwagen eingepackt, vom Bollerwagen mit Buddelspielzeug ganz zu schweigen. So ähnlich sind meine Eltern damals aus Polen geflohen. Wenn das schon losgeht, morgens, krieg ich Pickel.“
Von so vielen Worten erschöpft trinkt Roland den halben Krug leer. Gerd zieht nach.
„Ja, so ist Petra auch. Ich lasse sie. Solange sie mich in Ruhe lässt, geht´s. Das hat auch was Praktisches.“ Gerd ist guter Laune, Roland will sie nicht, diese Laune.
„Frauenversteher!“ Bier durch Rolands Kehle.
„Pseudo-Macho!“
Schweigen. Bier. Die Sonne will sich endlich auf den Horizont legen. Keiner der beiden merkt es.
„Jetzt mal im Ernst.“ Gerd versucht zu verstehen. „Letzten Sommer bin ich mal allein mit den Kindern zum Strand gegangen, so wie ich mir das dachte. Nur mit Handtüchern und Badehose. Der Kleine hat sich die Ohren angebrannt, weil ich die Sonnencreme vergessen hatte. Der Große hat nur rumgeätzt, weil er sein Spielzeug nicht dabei hatte und ich habe ein Vermögen gezahlt für all die Pommes, Cola und Eis, die die Kinder verschlungen haben. Wir sind eben nicht James Cook auf Entdeckungsreisen. Wir sind Familienväter. Das Organisieren hat auch was Sinnvolles. Ich finde das im Grunde okay.“ Mit diesen Sätzen landet Gerds Friedensengel auf dem Rattantisch.
Roland hasst Engel.
„Mir noch nicht passiert“, knallt Roland als Trumpf auf den Tisch.
„Weil du mit den Kindern noch nie alleine zum Strand gegangen bist.“ Sein Trumpf ist höher. Und sein Friedensengel fliegt weg.
„Na und. Nicht mein Ding. Im Sand buddeln. Überall Sand: in den Haaren, in den Ohren, in den Zähnen, sogar in der Kimme. Hass. Du himmlischer Vater, du! Ätzend!“ Roland gräbt im Sand nach dem Kriegsbeil.
Er leert seinen Krug in einem Zug. Gerd hält verkrampft mit. Ein Zeichen, zwei Finger, zwei Neue.
Schweigen. Die Sonne taucht glutrot in die See, unbemerkt.
„Und das Theater um die Kinder?! Das kann deine Petra besonders gut.“ Rolands Attacke. „Hat Helga direkt infiziert. Basti, kletter nicht so hoch! Max, spring nicht so tief! Paula, renn nicht so schnell! Am liebsten würden sie die Kinder in einen Sud aus Sonnenmilch, Autan und Sagrotan einlegen, sie in die Sitzpolster unserer Wohnwagen einschnüren und noch eine Brandschutzdecke aus dem Verbandskasten drumwinkeln, bis sie ersticken. Kinder sollen ihre eigenen Erfahrungen machen, harr, harr!“ Rolands Spaß hat ein Loch.
„Langsam hab ich die Faxen dicke! Was war denn letzten Herbst, als sich dein Basti mit dem Fahrrad langgelegt hat? Wer hat denn da deiner Helga die Vorwürfe gemacht, dass dein Stammhalter keinen Helm getragen hatte und deswegen die dicke Platzwunde am Kopf kassiert hat. Du arbeitest zehn bis zwölf Stunden am Tag und kriegst nur im Urlaub mit, dass du Kinder hast. Und dann soll alles so laufen, wie du es meinst. Du hast überhaupt keine Ahnung!“ Der Lila-Laune-Bär verlässt jetzt auch Gerd.
„Ich habe eben keinen Halbtagsjob mit vollem Lohnausgleich, du Lehrer, du Oberlehrer.“ Rolands Finte trifft.
„Jobverkriecher! Arschloch!“ Gerds schwacher Trumpf sticht nicht.
Schweigen. Bier in erhitzte Köpfe. Das Nachglühen des Sonnenuntergangs, wunderschön, doch wiederum unbemerkt.
Langes Schweigen. Bier austrinken. Bedacht asynchron. Ein Zeichen. Zwei Finger. Zwei Neue.
Verschwiegenes Schweigen. Blicke auf Hände, jeder auf seine.
„Okay, vergessen.“ lenkt Roland ein. „Aber was ist mit der ganzen Psychokacke unserer...Gattinnen?!“ Das `Gattinnen` klingt wie eine Ohrfeige.
„Was meinst du?“ Gerd wünscht sich seinen Friedensengel wieder.
„Was? Ach! Am ersten Abend musste ich mir von meiner Frau“, und jedes Wort spricht Roland aus wie eine Anklageschrift, „anhören, ihre Müdigkeit fühle sich so anders an, so windumweht, so sonnenhitzig. Das hält doch kein Schwein aus! Sie, unsere Grazien, spüren Träumen nach, belegen noch teuere VHS-Seminare zu diesem Unsinn. Sie lernen, wie sich der Schmerz anfühlt, als sei er eine Zwergziege im Streichelzoo. Am liebsten würden sie in esoterischen Frauenseminaren, allein unter Frauen, am Lagerfeuer den Schrei der Wölfinnen nachheulen und sich dabei in archaischer Trauer des Frauseins in die Arme sinken, sich die peruanischen Ponchos nass weinen und solidarisch bei Vollmond auf einem Grünkernfeld menstruieren. Weißt du noch, wie wir uns abgerollt haben vor Lachen über das Programm dieses Frauenseminarhauses in der Vulkaneifel: `Frau, komme mit in die Herbsthöhle der Bärin, erlebe das Beben unserer Mutter Erde, deiner Gebär-Mutter.` Wenn man, entschuldige, frau genug Zeit hat, kann frau auch viele Gefühle fühlen. Sie kann das Leben, die Kindheit, die Mutter- oder Vaterbeziehungen, die Geschwisterkämpfe und die Freundinnenkonkurrenzen so lange drehen, wenden und kneten, bis sie endlich weh tun. Anschließend wird beflissentlich und konsequent mit Herzkasper, Atemnot und Phantomschmerz reagiert. Und dann geht`s ab in die Therapie. Und schließlich hat deine Frau meine Helga auf den Trip mit den Steineiern gebracht. Jetzt schleppt sie all diese Granit- und Marmorkullereier gegen alle möglichen Widrigkeiten und Schicksalsschläge des Lebens überall mit hin. Emanzipierte, intelligente Frauen. Ist das normal?!“
Gerd lacht. Roland findet das Scheiße.
„Das, mit den Ponchos und dem Grünkernfeld war gut. Glatt kabarettreif.“ Gerd will wieder gute Laune.
„Ach, hör doch auf. Wir Männer sind doch nur unsensible Merknixe aus der Steinzeit. Sprache kennen wir nur als Imperative: Achtung, Mammut von links! Keule hoch, hau drauf! So denken die Frauen über uns. Was ist mit unseren wirklichen Kämpfen und Konkurrenzen um Selbstvertauen, Anerkennung, Stellung, Geld und Job? Meinen die, wir hätten keine Angst? Aber die ist nicht herbeigeredet! Das Leben draußen ist doch die eigentliche Gefahr. Das macht richtig Angst.“
Roland ist erschöpft. Er hat lange nicht mehr so viel am Stück geredet, über sich. Sogar seine zwei Finger, das Zeichen, international, sind krumm und traurig. Aber das Bier kommt trotzdem. Und zwei Schnäpse, ein Gruß vom Wirt. Sie prosten ihm zu und trinken schweigend. Fast synchron.
Gerd wünscht sich den kleinen Engel auf den Tisch.
„Du hast ja Recht. Aber dass unsere Frauen all das nur herbeireden, das sehe ich nicht so. Mein Gott, wie habe ich unter meinem strengen Vater gelitten, bis heute. Ich nehme mir nur nicht die Zeit...nein, mir fehlen einfach die Worte dazu, und unsre Frauen haben sie, die Worte. Die können einfach besser reden über ihre Gefühle. Und klar ist das manchmal ganz schön abgedreht. Aber diese extreme Psycho-Sprachwendungen sind doch nur Stilblüten, die den Kern nicht treffen. Bei dem ganzen Drehen und Wenden von Erfahrungen, Vorstellungen und Lebensentwürfen mit ihren Zweifeln und Ängsten passiert doch etwas. So was wie Relativierung und Bewusstwerden. Wenn sich unsere Frauen miteinander unterhalten, spüren sie Nähe und Solidarität. Wann haben wir so etwas? Heute Abend? Nein, wir streiten uns. Wenn wir ein Problem haben, kriegen wir die Zähne nicht auseinander, gehen in die nächste Kneipe, betrinken uns und am nächsten Tag haben wir immer noch das gleiche Problem, ohne Trost, weil wir nicht geredet haben, und noch einen Kater dazu. Es ist ja nicht so, dass ich mich nicht mit mir und meinen Innereien beschäftige, nur ich rede selten darüber. Petra hat da so eine Antenne. Sie merkt, wenn ich nicht rund laufe. Und sie fragt, und zwar penetrant, Gott sei Dank penetrant. Und sie knackt mich. Wir reden dann und danach ist die Welt wieder lebenswert. Und darum liebe ich sie, du Mammut. Und um diese Fähigkeit beneide ich sie. Punkt“, engagiert sich Gerd.
Er prostet seinem Freund zu. Sein Feind Roland schaut auf seine Hände am Krug. Die Sonne ist längst untergegangen. Auch das Nachglühen ist jetzt Vergangenheit. Gegen die Dunkelheit kämpft das kleine Teelicht auf ihrem Tisch.
„Gerd, du bist so ein selbstgerechter kleiner, pissbürgerlicher Scheißer, mit deinem allmächtigen Verständnis! Mach doch gleich `nen Seminar zur Frauwerdung der Männer auf. Mit dem Titel: Wie quatsch ich meinen Pimmel weg. Ich halte das nicht mehr aus!“ Rolands Augen kotzen Abneigung.
„Du bist unfair!“ Gerd ist verletzt. „Jetzt benimmst du dich genau so lächerlich wie die Frauen, die du so bescheuert findest. Du willst nur Trost, Streicheleinheiten und Verständnis. Armer Roland, alle Frauen sind doof, nur du nicht. Kriegst du aber nicht von mir. Jammer ruhig weiter, du schlapper Lämmerschwanz. `Neue Sicht auf meine alte Welt, nein danke. Kritik an meiner Person, um Gottes Willen. Weiter denken, anders fühlen, nicht mit mir. Erkenntnis, geh mir weg. Frisches Fleisch für einen alten Knochen, eh zu spät!´ Was willst du eigentlich, du verbaler Neandertaler? In der Steinzeit hätten sie dich schon längst plattgekeult, du Memme!“ Gerds Abend ist nicht mehr der mit dem Sonnenuntergang. Sein Kinn zittert leicht.
Sie halten die leeren Krüge fest wie Rettungsringe.
Ein Zeichen, zwei Finger, zwei Neue und zwei Schnäpse, ein Gruß vom Wirt.
Schweigen.
Gerds Beschwerde: „Jetzt haben wir auch noch den Sonnenuntergang verpasst.“
„Arschloch.“
Langes Schweigen. Viel Bier.
„Achtung, Mammut von links.“
„Keule hoch und rums.“
„Arschloch.“
„Selber Arschloch.“
„Oberarschloch.“
„Oberlehrer.“
Obermerknix.“
„Fang nicht wieder an!“
„Okay, prost.“
Sie prosten sich zu und trinken und schweigen
und prosten sich zu
und trinken
und schweigen,
und lächeln verlegen,
wie richtige Männer.
Die harte, körnige Fläche schmeckt nach Teer, Benzin, Autoreifen, Regen und Blut. Mit der Wange auf dem Asphalt am Rande des Seitenstreifens liegt er im Regen und zittert. Ein dumpfer Schmerz irgendwo in ihm. Bewegen geht nicht. Da ist die Angst vor dem großen Schmerz.
„Atmen, atmen ist wichtig. Ganz ruhig. Ich schmecke Blut. Wie komme ich hier hin? Mir ist kalt, ich bin ganz nass. Ich will nicht sterben.“
Walter Brennemann fuhr an diesem verregneten Septembertag wie immer gegen acht Uhr abends von Essen nach Duisburg auf der A 40, um sich mit seinem Badminton-Team in einer Fitnesshalle zum allwöchentlichen Spiel zu treffen. Das war einer der regelmäßigen Programmpunkte in der Woche. Er liebte solche festen Termine.
Kurz vor der Abfahrt Kaiserberg streikte plötzlich der Motor seines BMWs. Die Nadel der Tankanzeige stand schon gestern Abend auf Reserve.
„Ich Trottel, das ist mir seit zwanzig Jahren nicht passiert. Ich habe einfach vergessen zu tanken“, fluchte er noch. Er erreichte im Ausrollen noch knapp die Ausfahrt Kaiserberg. So stand er da im Regen und fummelte sein Handy aus der Tasche. „Akku leer. Das darf doch nicht wahr sein.“
Als er aus dem Wagen stieg, kam gerade ein Auto vorbei. Er machte ihm Zeichen anzuhalten. Der alte Kadett mit Spoiler und verdunkelten Scheiben fuhr an ihm vorbei und bremste scharf. „Na, prima, der wird doch bestimmt ein Handy haben, für den Abschleppdienst und ein Taxi“, war sein letzter normaler Gedanke.
Pulsierender Rap aus dröhnenden Boxen, drei Männer, eher Jungs, Schlabberhosen, Turnschuhe und Trainingsjacken, Wollmützen. Der erste mit Sonnenbrille und Klappmesser, der zweite von hinten, sein Mantel wird zur Zwangsjacke, ein Schlag ins Gesicht, heiseres Lachen, Blut auf weißem Kragen, ein Griff in die Innentasche, Brieftasche, Uhr, Handy, Schlüssel, Sporttasche, Autoradio, in Sekunden im Kadett. Dann der dritte mit Baseballschläger, Seitenspiegel und Windschutzscheibe splittern. Dann ein Tritt vom ersten in Brennemanns Genitalien. Er reißt das Knie hoch, lenkt den Fuß ein wenig ab, trifft den Oberschenkel hart. Plötzlich der Stoß in den Rücken, wie eine Abrissbirne, sein Körper klatscht schwer auf den nassen Asphalt. Reifenquietschen, Stille.
„Wenn ich mich bewege, kommt er, der Schmerz.“ Kampf mit der Panik. Er kontrolliert zuerst seinen Mundraum mit der Zunge. Alle Zähne sind noch da und tun nicht weh. Die Oberlippe ist aufgeplatzt, daher der Blutgeschmack, eher taubes Gefühl als Schmerz. Vorsichtig hebt er den Kopf. Es geht. Seine Hand auf der Wange entdeckt Blut und leichtes Wehgefühl, also Abschürfungen. Er richtet seinen Oberkörper auf. Der Schmerz sticht in den Rücken, unerwartet aber auszuhalten. Langsam dreht er sich auf alle Viere und hievt sich dann auf die Beine. Als er sein linkes Bein belastet, zuckt er zusammen. Der Oberschenkel glüht und sticht. Schmerzprotokoll: Lippe: nein. Wange: wenig. Rücken: mittel. Oberschenkel: arg. Resümee: erträglich, bei langsamen Bewegungen.
Er atmet schwer vor Anstrengung, die ihm die Angst vor dem Schmerz breitet hat. Langsam und schief humpelt er den Standstreifen der Ausfahrt entlang, lädiert, durchnässt, verschrammt mit Schmerzen im Bein und Übelkeit im Bauch. Mit Mühe erreicht er die Ampel an der Querstraße. Er muss sich an einem Verkehrsschild festhalten, um nicht wieder zu fallen.
„Hey, alter Mann, was ist denn mit dir los?“, hört er plötzlich hinter sich. Ihm sacken die Knie weg vor Angst, er fällt aber nicht, jemand hält ihn. Seine Arme fuchteln, wehren sich wehrlos. Er kann nicht mehr.
„Lass man gut sein, hey, ich tu dir nix, siehst ja schlimm aus. Was ist denn passiert?“, beruhigt ihn das zottelbärtige Gesicht.
Jetzt stehen sie sich gegenüber, ein durchnässter, blutverschmierter Verkaufsbereichsleiter auf der mittleren Managementebene mit Frau, Tochter, BMW und Eigenheim im völlig durchnässten und verdreckten Designer-Anzug und ein ungewaschener, graubärtiger Penner mit langen aschblonden Haaren unter einer Baseballkappe in verschlissenen Jeans und graugrünem Parka mit verquollenen Augen, braunen Zähnen und schlechtem Atem mit einer riesigen Ikea-Tasche über der Schulter.
„Hast eins auf die Fresse gekriegt? Sieht so aus, oder? Nimm erst mal ´n Schluck, ist kalt heute und ziemlich nass. Bernie heiß ich, kannst ruhig Bernie sagen, hier nimm!“, grinst er und hält ihm die Flasche hin.
Brennemann nimmt die Flasche, zögert, trinkt dann doch, eher aus Angst. Der Schnaps rollt wie Lava durch den Hals in den Magen. Er muss husten. Hilfsbereit schlägt Bernie ihm auf den Rücken. Der Schmerz lässt ihn einknicken.
„Bisschen zu geschmeidig in den Knien, was Alter?“ Bernie stützt ihn. Sein Lachen klingt wie das Meckern einer Ziege. „Ich bin überfallen worden. Alles haben sie mir weggenommen: Geld, Papiere, Handy...alles. Die Schweine. Haben Sie vielleicht...?“ Er schaut Bernie an.
„Seh´ ich so aus?“, winkt Bernie ab. „Erst trinken wir mal, dann schaun wir mal“, lacht er und gibt Brennemann die Flasche. Er nimmt einen tiefen Zug. Wieder dieses Lava-Gefühl. Bernie trinkt auch. „Jetzt komm mal mit. Wir müssen nur über die Straße und dann den Weg rein, da vorne. Da ist `n Parkplatz und da ist Lisbeth. Der fällt immer was ein.“
Ohne zu fragen hakt Bernie Brennemann unter und führt ihn behutsam über die Straße auf die Zufahrt zum Parkplatz.
„Üble Gegend hier, muss man aufpassen. Ich pass immer auf. Was hältst du hier auch an. Macht man doch nicht, auf´m Seitensteifen, mitten in der Ausfahrt. Weiß ich doch, hatte auch mal `n Führerschein. Lange her“, plaudert Bernie los.
„Mir ist der Sprit ausgegangen, ich hatte einfach vergessen zu tanken. Das ist mir seit Jahrzehnten nicht mehr passiert.“
„Jau!“, lacht Bernie, die Ziege, wieder. „Den dicken BMW fahren, aber kein Sprit auf ´n Kolben. Gibt´s denn sowas? Pass auf. Lisbeth ist da auf dem Platz im Wohnwagen. Die wohnt da nicht wirklich, aber jeden Abend, wenn´s nicht zu kalt ist, ist sie da, nur nicht im Winter. Das lohnt dann nicht. Jedenfalls geh`n wir da jetzt hin. Die wird sich wundern, ich und so´n reicher Pinkel, mit so ´nem feinen Anzug. Bist ja ganz nass, holst dir sonst den Tod oder was an die Blase oder so, kenn mich da aus.“ Die Ziege lacht schon wieder.
Sie erreichen den Parkplatz. Der Regen hat aufgehört. Die beginnende Dämmerung zieht die Farben aus den Dingen. So erscheint alles Beleuchtete künstlich bunt. Der noch nasse Asphalt spiegelt die Szenerie wie eine billige Fata Morgana. Es riecht nach Straße, Erde und feuchtem Laub. Brennemann bleibt stehen und schaut sich um:
Wenige Wagen stehen mit laufendem Motor ungeordnet auf der Fläche. Auffällig viele in Goldmetallic, Ferrari-Rot und Mafia-Schwarz mit verdunkelten Scheiben, fast alle gespoilt und tiefergelegt. Plakativ geschminkte, leicht bekleidete Frauen steigen aus, begrüßen die anderen, verabschieden ihre Beschützer, Tyrannen und Besitzer. Quietschende Reifen verlassen den Platz, neue Goldkettchenkarren tauchen auf und laden ihre lukrative Habe ab, zur Arbeit am Mann. Brennemann erstarrt, die Angst fährt ihm in den Bauch.
„Was ist denn hier...das ist ja...ich will hier weg!“
„Nu ma sachte. Die tun nichts, die wollen nur spielen.“ Wieder das Ziegengemecker. „Ja, das ist hier der Mobilpuff, na und?! Der Straßenstrich von Duisburg auf dem Parkplatz der Uni, das hat doch was, oder?“, grinst Bernie.
„Wie heißt du überhaupt?“
„Brennemann, Walter.“ Seine Blicke wandern ängstlich über die Auswüchse der Duisburger Unterwelt.
„Ah, Walter, na geht doch. Komm mit, Walter.“
Bernie führt ihn zu einem alten Wohnwagen, der am Rand des Parkplatzes steht und klopft an: „Ich bin´s, Bernie. Hab hohen Besuch mitgebracht.“
„Komm schon rein. Aber Füße abputzen, macht mir den Teppich nicht dreckig nach all dem Regen. Wen hast du denn da mitgebracht?“ Lisbeths Stimme hält die Waage zwischen gutgelaunter Einladung und genervtem Vorwurf.
Bernie zieht seinen nassen Parka aus, hängt ihn gleich vorne an der Tür an einen Haken, die Tasche dazu, und setzt sich auf die schmale Bank neben dem kleinen Herd. Brennemann macht es ihm gleich mit seinem Mantel und setzt sich neben ihn.
„Meine Güte, wie sieht der denn aus, der ist ja nass bis auf die Knochen und blutverschmiert. Versau mir bloß die Bezüge nicht. Sitzen bleiben und nicht bewegen“, sie kramt in einer Kiste, „Nenn mich Lisbeth, machen hier alle. Was ist denn mit dir passiert, hast wohl eins auf die Zwölf gekriegt, na, noch alles dran? Und wen darf ich begrüßen?“
„Brennemann, Walter Brennemann. Nicht weit von hier haben mich...“
„Der feine Walter also, kann mir schon denken. Ihr beiden kriegt erst mal ´nen heißen Tee mit ´nem ordentlichen Schluck drin, damit ihr wieder beikommt. Ist auch gerade fertig. Bernie, sitz´ nicht rum, tu´ Rum rein.“ Sie lacht unbekümmert über ihren Scherz. „Hier, ich hab noch ´n paar Sachen von meinem Seeligen gefunden, da könntest du reinpassen, also, runter mit den nassen Klamotten, sonst holste dir den Tod.“
„Ja, das ist doch nicht nötig, ich muss nur telefonieren, dann werde ich abgeholt.“ Brennemann riecht skeptisch an der geblümten Tasse und trinkt einen Schluck. Der Tee ist aromatisch, der Rum wälzt sich wohlig wärmend durch seinen Bauch. „Also, Frau....Lisbeth, der Tee ist ein Gedicht und erweckt mich wieder zum Leben. Sie sind in Engel“, gibt sich Brennemann alle Mühe.
„Ja, Walter, lass man gut sein. Und alle, die ich in meinen Wagen lasse, sagen ´du´ zueinander, kapiert?! Und jetzt zieh dir andere Sachen an und wasch dir das Blut ab. Brauchst dich nicht zu genieren. Ich hab schon mal ´nen nackten Mann gesehen.“ Und wieder gluckst sie mädchenhaft über ihren eigenen Witz.
„Ich brauche doch nur ein Telefon, dann...“, versucht es Walter noch einmal.
„Ausziehen, waschen, anziehen! Muss ich alles zweimal sagen?“, keift Lisbeth ihn an.
Dann Stille.
Er gehorcht und zieht sich ängstlich in die Ecke mit dem kleinen Waschbecken zurück. Lisbeth und Bernie prusten los. Sie gibbeln, glucksen und schreien vor Lachen, japsen nach Luft und grölen, bis ihnen die Tränen die Wangen herunter laufen.
„Dass ich mal so´n feinen Pinkel zusammenscheiß´, hätte ich nicht gedacht“, lacht sie Bernie zu. Walter hat sich umgezogen. Er trägt jetzt ein weißes Hemd unter einer dunkelblauen Smokingjacke mit leuchtend blauem Seidenrevers und eine dazu passende Hose mit einem seidenen Seitenstreifen. Er trinkt seinen Tee aus. Bernie gießt nach, halb Tee, halb Rum.
„Also Lisbeth, erst einmal danke ich dir für deine Hilfe“, beginnt Walter.
„Lass man stecken, Walter. Nicht der Rede wert, vergiss es“, erwidert sie mit verlegenem Blick auf ihre Tigerpumps.
„Zumindest will ich dir jetzt erklären, was vorgefallen ist. Denn eigentlich...“
„...willst du alles andere als bei ´ner abgerockten Puffmutter zusammen mit ´nem Penner im Plüschwagen sitzen. Das weiß ich doch. Prost Walter, ist nicht deine Welt, das hier. Ich weiß. Aber die Klamotten kannste behalten, als Andenken an mich und meinen Tee. Prost.“
Sie stoßen an und trinken aus. Dann schiebt sie ihm das Handy über den Tisch. Walter wählt. Zu Hause ist niemand. Seine Frau ist bei einer Freundin, erinnert er sich. Seine Tochter ist nur noch sporadisch zu Hause. Rolf, sein alter Freund, geht auch nicht an den Apparat.
„Dann schließlich ein Taxi. Irgendwie werde ich schon ins Haus kommen“, denkt er, als mit einem Knall die Wohnwagentür auffliegt.
„Der da geht, und zwar sofort“, schnarrt ein hageres Gesicht mit schmalen Lippen und harten Augen in den Plüschwagen. Die Tür knallt zu.
„Das ist Ernst und der meint es auch so. Also, raus. Bernie, du auch.“ Lisbeths Blick flattert vor Angst.
„Auf Wiedersehen, Lisbeth, und danke.“
„Ja, schon gut, haut jetzt ab, aber schnell.“
Und schon stehen sie draußen. Bernie zieht Walter am Ärmel vom Wohnwagen weg zur Ausfahrt des Parkplatzes.
Die Dämmerung ist zur Nacht gedunkelt. Stumpf schimmert der antrazitene Asphalt unter den gierigen Scheinwerfern der umherschleichenden Wagen. Die spiegelnden Frontscheiben verbergen die hungrigen Blicke der Freier nach schneller, billiger Beute. Die Luft ist wärmer geworden. Es riecht nach Abgasen, Autoreifen und Parfüm, schmutzig, aufregend, verboten. Als sie die Straße erreichen, kommt ihnen eine sehr schlanke, sehr blonde Frau mit wiegendem Gang auf weißen Highheels entgegen. Sie trägt weiße Strümpfe mit Strapsen. Unter einem weißen, sehr kurzen Kittel. Als sie aneinander vorübergehen, sieht er in ein sehr junges Gesicht mit sehr rotem Mund. Als Bernie sie grüßt, zeigt sie ein kleines Lächeln.
„Das ist Püppi, sie macht die Krankenschwesternummer. Kommt gut an. Wart´ mal, ich hab eine Idee.“
Bernie dreht sich um und läuft Püppi hinterher. Sie reden kurz miteinander, sie drückt Bernie etwas in die Hand. Schon ist er wieder bei Walter. „Püppi ist ein Engel“, lacht er und hält eine Handvoll Scheine in die Höhe. „Jetzt gehen wir erst mal einen trinken. Komm mit, ich zahle alles.“ Jetzt lacht Bernie wie eine ganze Herde Ziegen.
„Das ist nett von dir, Bernie, aber eigentlich brauche ich nur ein Telefon, um eine Taxe zu rufen. Ich will nach Hause. Mir tun immer noch alle Knochen weh und...“,
„...du hast keine Lust mit ´nem dreckigen Penner in einer stinkenden Hurenkneipe zu saufen. Du Pinkel! Aber in dieser Scheißkneipe ist dein Scheißtelefon für dein Scheißtaxi, das dich zu deiner scheißteuren Scheißvilla fährt, wo deine scheißelegante Scheißgattin auf dem scheißnoblen Scheißsofa sitzt und zu scheißvornehm ist, den Scheißhörer abzunehmen. Wir gehen jetzt Scheißbier saufen und danach gebe ich dir sogar noch das Scheißgeld für das Scheißtaxi, klar?“
„Ja, Scheiße,... danke.“ Sie lächeln sich an, etwas schräg.
„Und hör jetzt auf mit deinem Scheißdanke.“
„Und du mit dem ewigen Scheiß, Scheiß, Scheiß.“
Sie gehen die schlecht beleuchtete Straße ohne Gehsteig entlang. Die Dunkelheit unterstreicht die Stille der Nacht. Auch Bernie sagt nichts. Walters Körper hat sich etwas erholt. Der Schmerz ist eher so wie nach einem harten Training. Ein Muskelkater der Ereignisse.
Hinter der nächsten Kurve sehen sie von weitem die Beleuchtung einer Kneipe.
„Da vorne ist es. Ist nicht mehr weit. Mann, hab ich ´nen Brand. Habe ich eigentlich richtig gelegen mit Villa und Frau und Geld und so?“, will Bernie wissen.
„Ja, so ähnlich, nur nicht mit dem Scheiß davor“, grinst Walter. „Ich bin ein gutbezahltes Arbeitstier, habe ein Haus, keine Villa, eine elegante Frau, da hast du recht, und eine neunzehnjährige Tochter, bildhübsch und schlau dazu. Eigentlich wollte ich heute Badminton spielen, wie jeden Mittwoch, bis mir diese...“
„...Arschlöcher dazwischen gekommen sind“, ergänzt Bernie meckernd. „Wir sind da, hereinspaziert.“
Als sie das Lokal betreten, schlägt ihnen ein Schwall von Gerüchen entgegen. Schales Bier, abgestandener Rauch aus ungespülten Aschenbechern, saurer alter Schweiß, teures Parfüm und billiges Deo und für Walter deutlich und unverkennbar der Duft von Frikadellen. Das Bauernstuben-Inventar mit der schweren Holztheke und den fabrikgedrechselten Stühlen mit den einfachen Holztischen erinnert Walter an alte Zeiten. Ein Stück Jugend, ein Stück Ruhrgebiet.
Die Kneipe ist fast leer. Ein glatzköpfiger Wirt mit starken Armen und mächtigem Bauch, einem goldenen Ring im linken Ohr, spült gelangweilt Gläser. Marianne Rosenberg singt Schlager aus einer Jukebox.
„Tach Holger, zwei Bier, zwei Samtkragen“, bestellt Bernie.
„Knete sehen lassen“, knurrt Holger. Bernie zeigt das lose Bündel.
„Er redet nicht viel, ist noch zu früh. Aber das wird noch mit dem Wirt.“ Wie Lisbeth lacht er über seinen Scherz. Bier und Schnaps kommen prompt. Sie trinken und plaudern über Wirte, Kneipen, Bier und Preise.
„Weißt du, dass du mich heute gerettet hast?“, fragt Walter schließlich.
„Wenn du jetzt `danke` sagst, sag ich wieder `Scheiß`, ich warne dich“, meckert er. Auch Walter lacht entspannt. Sie trinken aus. Holger bringt das Gleiche noch einmal, ohne Bestellung. Hier winkt man nur irgendwann ab oder fällt um.
„Es riecht nach Frikadellen. Ich habe Hunger. Kann ich mir vielleicht...“, setzt Walter an.
„Holger vier Frikos mit Kraut“, reagiert Bernie. „Du bist mein Gast, sag jetzt nichts Falsches. Wieso hast du bei Lisbeth mit dem Handy keinen angerufen.“
„Ich hab´s ja versucht, zu Hause. Es war niemand da. Und auch Rolf nicht, mein bester Freund.“
„Sonst kennst du keinen Menschen?“
„Doch, aber keinen, der mich vom Duisburger Straßenstrich abholt. Meine Frau ist eh nicht zu Hause heute Abend. Ich dachte höchstens, dass meine Tochter..., der hätte ich das erklären können.“
„Und sonst.“
„Ich kenne viele Leute über den Job oder befreundete Familien mit Kindern, so alt wie Marie, meine Tochter. Aber, …ich glaube, ich habe nur einen alten Freund, Rolf, und der ist heute Abend woanders. Meine Frau hätte ich auch nicht angerufen. Sie ist meine Frau, aber nicht mein Freund.“
Beide trinken, Holger bringt Neues und die Frikadellen.
„Walter, du bist eine reiche, arme Sau. Prost.“ Beide beißen in die Klopse und schlingen gierig den Krautsalat. „Und was ist mit dir, Bernie.“
„Ich bin eine arme, arme Sau, im Vergleich zu dir. Habe aber eine Menge Freunde, Lisbeth und Püppi zum Beispiel. Sie hat mir die Kohle gegeben, damit ich ihr Shit besorge. Sie weiß aber genau, dass ich die Knete jetzt hier mit dir versaufe. Sie weiß, jetzt hat sie was gut bei mir. So geht das.“
„Und früher? Was hat das Leben mit dir gemacht? Du bist doch nicht einfach so...“, Walter sucht nach Worten.
„...Penner geworden, meinst du?“ Bernies Mund wird schmal.
„Ja.“ Walter sieht ihm in die Augen.
Bernie weicht erst aus, dann schaut auch er ihn an.
„Kurzbericht für feine Pinkel, damit sie sich besser fühlen: Hauptschule, Lehre bei Thyssen als Schlosser, dann übernommen worden“, er spricht jetzt sehr schnell und monoton, „mit neunzehn Gabi kennen gelernt, zwei Jahre später geheiratet, kurz vor der Geburt von Kevin. Guter Job, gutes Leben, Familie, prima. Dann Autounfall, Gabi tot, Absturz, Suff und Puff, Job weg, Wohnung weg, Kind weg, fertig. Fragen?“ Kippt das Bier, den Schnaps, frisst wie ein Schwein.
„Ja, das war für reiche Pinkel. Und jetzt die Fassung für...“„Für wen denn sonst, du...“,
„Unterbrich mich nicht dauernd. Lass mich endlich ausreden. Jetzt die Fassung für deinen... Saufkumpan. Was war es, was du nicht ausgehalten hast?“
Lange hat Walter nicht solche Nähe gespürt.
„Ich habe die Trauer von Kevin nicht ertragen. Dass Gabi tot war, hat er irgendwie kapiert und wieder nicht. Er war sieben. Die Fragen, wann sie wiederkommt, warum sie nicht wiederkommt, wo sie jetzt ist, Nächte lang hat er gejammert und geweint. Ich bin kaputt gegangen da dran, hab ihn zu meiner Schwester gebracht. Dann war saufen und prügeln angesagt. Schließlich Klapse, Ende aus, Micky Maus. Extra, mit Absicht. Wollte mich umbringen, konnte nicht. Da dachte ich: Ab in die Klapse, wie früher ins Kloster. Aber nach zwei Jahren haben die mich rausgeschmissen, ich war zu normal. Kevin seit neun Jahren nicht mehr gesehen. Der müsste jetzt so alt sein wie deine Tochter. Jetzt zufrieden, ....Walter?“ Tränen laufen lautlos über seine hohlen Wangen in den langen grauen Bart. Walter nimmt Bernie in den Arm. Bernie überlässt sich diesem Halt.
„Trink mit mir, Pinkel, Scheißarschloch.“ Er versucht ein Lächeln.
„Prost, du Penner“, lächelt Walter schief. Sie trinken Bier und schweigen. Bernie schaut ins Glas. Walter schaut sich um.
Marianne ist heiser und hat den Platz für Wolfgang Petri freigemacht. Langsam hat sich die Bodega gefüllt. Stille Trinker und laute Trucker, Straßenhuren aller Altersklassen. Hier und da Goldkettchentypen mit harten Augen und Cowboystiefeln.
„Ich muss mal, – wie sagt man hier –, für Königstiger“, sagt Walter und geht zum Klo. Als er zurückkommt, hält er sich den Bauch vor Lachen.
„Was ist mit dir, Marlene Dietrich auf´m Pott getroffen?“
„Nee, viel schlimmer, mich selbst. Da ist ein Spiegel. In diesem Anzug seh´ ich ja aus wie ein drittklassiger Quizmaster. Kennst du noch Lou van Burg, der `Goldene Schuss`, `Bruno den Bolzen`?“ Walter kriegt sich kaum ein.
„Stimmt, war der vor oder nach Vico Toriani ?“
„Was weiß ich?!“ Jetzt können beide lachen.
„Komm, ein letztes Pils, dann gehen wir. Du mit ´ner Droschke, ich zu Fuß.“
„Okay. Wo bleibst du heute Nacht?“
„Komm schon klar. Hab ´nen Deal mit Lisbeth und ihrem Plüschwagen. Mach´ dir keine Sorgen, wo ich penne oder wer mich füttert. Irgendwo fällt immer was ab. Wenn du dir unbedingt Sorgen machen willst, dann um...“
„... Kevin. Jetzt habe ich dich unterbrochen.“
„Ja.“
„Suche ihn, rede mit ihm. Du hast nur einen Sohn und ein Leben. Versprich mir das, Penner?“
„Versprochen, Pinkel.“
Sie trinken das letzte Bier, Bernie zahlt, gibt ihm Taxigeld. Draußen umarmen sie sich kurz und wortlos. Jetzt steht Walter allein vor der Kneipe in seinem geschenkten Quizmastersmoking, raucht die letzte Zigarette von Bernie und ist wach und betrunken zugleich. Er hat sich lange nicht so wirklich gefühlt.
Die Temperaturen sind gestiegen. Die Straße dampft den Rest des Regens aus. Leichter Nebeldunst über der Fahrbahn nimmt den Konturen die Sicherheit. Der Asphalt riecht nach Huren und Begierde, nach Bernie und Kevin, nach Verlangen und Sehnsucht, nach Leben.
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