Shepard: Das Protektorat

19,98
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Während sich die Bevölkerung in den Städten und Dörfern sicher wähnt, herrscht in den Katakomben unter ihnen und in den Schatten der Straßen ein erbitterter Kampf um eine der kostbarsten Nahrungsquellen der Erde: den Menschen. Um sich gegenseitig in Schach zu halten, sehen sich die Heerführer der Vampire und Werwölfe gezwungen ein Bündnis einzugehen, dessen Ergebnis eine Gruppe von Wächtern ist, die keiner Seite angehört: Das Protektorat. Als neutrale Beschützer eines zerbrechlichen Gleichgewichtes müssen die Protektoren jedoch erkennen, dass die rasant fortschreitende Technik des 21. Jahrhunderts nicht das einzige Problem darstellt, wenn man eine Existenz im Verborgenen führen will. Stattdessen nehmen die alten Gegner den Kampf wieder auf, nur haben sich diesmal ihre Ziele und Vorgehensweisen geändert…

 

NC Shepard: Das Protektorat, Broschur, € 19,98, ISBN 978-3-86992-026-9

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Leseprobe:

Bergland von Edom, Jordanien 800 v. Chr.

Erinnerungen

Der Krieg tobte jetzt schon seit Jahrhunderten und in den letzten Jahrzehnten hatte sich der Konflikt weiter verschärft. Große Teile des fruchtbaren Halbmondes zwischen Ägypten und Sumer lebten im Schatten der Angst. Verwesung lag in der Luft, und Halbwesen, die er nie hätte dulden dürfen, streiften durch die Straßen. Der Vampir verzog vor Abscheu sein Gesicht und trieb sein Pferd vorwärts. In anderen Teilen der Welt sah es nicht viel besser aus und es wurde Zeit, die Sache wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Als er und sein Gefolge vor der Felswand ankamen, in die der Tempel für einen Gott, der ihn nicht berührte, gebaut worden war, zwang er sein Reittier zum Halten und forderte seine Begleiter zum Absitzen auf. Die andere Seite war bereits eingetroffen, also gab es keine Zeit zu verlieren. Im Inneren war es stickig. Sonnenstrahlen, die durch das Oberlicht fielen, brachen sich in den aufgestellten Spiegeln und erhellten den Raum. Eine einfache Arbeit, die ihren Zweck für das menschliche Auge erfüllte. Er betrachtete den tanzenden Staub, den seine Schritte aufwirbelten. Der Werwolf erwartete ihn bereits und die braunrötlichen Augen beobachteten jede seiner Bewegungen. Fixierten ihn. Der Vampir unterdrückte mühsam den Impuls, seinen Gegner direkt anzugreifen, er musste sich auf den Anlass seines Kommens konzentrieren. Es brauchte Zeit, eine Strategie zu ändern, etwas Neues zu erschaffen und er brauchte den Werwolf, um seine Pläne in die Tat umzusetzen.

„Sethiel, ich begrüße dein Erscheinen“, seine eigene Stimme klang schneidend in der Stille des Raumes. „Ich hatte dem zugestimmt und ich stehe zu meinem Wort.“ Das Knurren des Werwolfes klang misstrauisch und er würde dieses Misstrauen umgehen müssen, wenn er seine Wache haben wollte. Für eine Weile lastete Stille im Raum, und sie maßen sich wie Gegner einander mit Blicken.

Der Vampir wusste, jede unbedachte Bewegung, jede Provokation zöge ein Blutbad nach sich, aber er brauchte die Kriegspause und würde sie mit allen Mitteln erwirken. Auch wenn sie nur für eine unbestimmte Dauer anhalten sollte. Es würde ein zerbrechlicher Frieden werden, auf sehr dünnem Eis gebaut. Doch vielleicht würde es lange genug sein, dem Krieg Einhalt zu gebieten, der hungrig jeden Tag neue Landstriche verschlang.

„Also du willst eine Wache“, die Muskeln im Nacken des dunkelhäutigen Werwolfes spannten sich an.

„Eine neutrale Wache, es gibt zu viele sinnlose Ausschreitungen“, die Lippen des Vampirs verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. Es war wichtig, dass die Werwölfe glaubten, es würde eine neutrale Wache werden.

„Wie immer ihr es nennen wollt, Endras“, bemüht, den Namen nicht wie einen Fluch klingen zu lassen, verzog der Werwolf das Gesicht, „und von drei Völkern je einen Teil?“ Die Augen des Dunklen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

„Weder von der einen Seite noch von der anderen beeinflusst“, ergänzte der Vampir mit sanfter Stimme.

Der Dunkle nickte, doch seine Haltung verriet unverändert Misstrauen. „Mischlinge. Ich habe noch nie einem Mischling getraut und dir noch weniger, Endras“, das Knurren ihres Anführers ließ Unruhe in den Reihen der Werwölfe aufkommen.

„Nein, Sethiel“, der Vampir machte eine beschwichtigende Geste, „es ist das Ende des Wahnsinns, den wir die letzten Jahrhunderte gelebt haben. Sieh hin! Unsere Armeen vernichten das, was wir jagen. Unser Blut tränkt die Erde. Gräueltaten, die keiner von uns gewollt haben kann, geschehen an den unterschiedlichsten Orten.“ Er rief sich selbst zur Ruhe und seine hellen Augen blickten ernst. „Jeder von uns hat acht bestimmt. Sechzehn, die die Länder durchstreifen, die über das wachen, was wir nicht mehr kontrollieren können.“

Der Vampir schloss die Lider und atmete tief ein, wenn es funktionieren sollte, brauchte er den Werwolf, ob es ihm gefiel oder nicht. Langsam hob er die Hand, er musste diese Verhandlungen vorantreiben, was immer es kostete. Acht Männer, die bisher hinter seiner Leibwache gewartet hatten, traten hervor. Er hatte sie gut ausgewählt. Ihre Bewegungen verrieten, dass sie Kämpfer waren, ihre Haut war von der Sonne gebräunt und sie hielten ihre Köpfe gesenkt.

„Überzeuge dich, kein besonderes Blut“, ermunterte er den Werwolf und beobachtete, wie sich sein Gegenüber wachsam den Männern näherte. Herzschläge verstrichen. Der Werwolf ließ sich Zeit, dann nickte er zustimmend. Innerlich begann der Vampir zu lächeln. Dieser Teil der Täuschung war gelungen. Sein Plan würde aufgehen.

„Du hast anscheinend Wort gehalten, Bluttrinker.“ Auf eine Handbewegung des Werwolfs hin traten weitere Männer nach vorn. Der Vampir musterte sie kurz, dann nickte er. Wie erwartet hielt sich Sethiel an die Abmachung, Menschen auszuwählen, es genügte ihm, ihre Bewegungen zu sehen. Was für ein Narr. Es war ein Wunder, dass sie die Werwölfe noch nicht geschlagen hatten. Dann hätte er sich seinen Zug sparen können.

„Dann lass es uns vollenden, bevor ich es mir noch anders überlege und meine Zähne in deine Kehle schlage, um diesen Krieg auf andere Weise zu beenden“, grollte Sethiel und begann sich unruhig zu bewegen. Innerlich triumphierte der Vampir, der Pakt zwischen ihnen bestand und nun würden die Männer die Blutlinien in sich vereinen, um die zerbrechliche Balance zu wahren. Der Wolf machte eine Geste und eine Frau huschte herein. Ihre Bewegungen waren katzenhaft. Als einer der Leibwachen ihr versehentlich zu nahe kam, gab sie einen zischenden Laut von sich, woraufhin ein vielstimmiges Knurren erklang. Der Vampir konnte die Anspannung spüren, als die Frau eine Kiste vorn auf den Marmorblock stellte. Was hätte er in diesem Moment für einen Empathen gegeben. Aber er musste das Beste aus der Situation machen. Ihn noch immer beobachtend, nickte der Werwolf der Frau zu: „ Das Blut. Auch wenn mir schleierhaft ist, was es dir hilft.“

Der Vampir nickte und rief seinen Boten. Neben ihm tauchte ein Junge auf. Die Haut weiß und die Augen halb geschlossen. Er übergab seinem Herrn eine Amphore aus Jade. Zärtlich strich der Vampir ihm über das Haar. „Das Gift, unser Geschenk.“

„Wir wissen nicht, was daraus entsteht, unsere Völker haben sich niemals vermischt.“ Der Werwolf sprach das letzte Wort aus, als wäre eine Vermischung für ihn etwas Abscheuliches.

„Ich teile deine Bedenken, Sethiel, aber welche Alternativen bleiben?“, entgegnete der alte Vampir lächelnd, er war seinem Ziel so nahe. Auf keinen Fall würde er zulassen, dass etwas seine Pläne vereitelte. Sobald die neue Wache Erfolg hatte, würde er einen Weg finden, sie für seine Zwecke zu nutzen. Berechnend blickte er den Männern hinterher, als sie in den unteren Bereich des Tempels eskortiert wurden. Seine Wahl war gut und alles würde nach seinen Plänen verlaufen. Sollten sich die Werwölfe in Sicherheit fühlen, zu spät würden sie bemerken, wie dünn das Eis war, auf das er sie gelockt hatte. Er lauschte den Schreien der Männer, als sich in ihnen das Blut und das Gift vermischten, hörte wie ihre Herzen das letzte Mal schlugen. Einer seiner Berater lehnte sich zu ihm herüber und der Vampir blickte überrascht auf, als er die Information des Telepathen hörte. Dass es seinen Wesen nach dem Blut ihrer Schöpfer verlangte, hatte er nicht vermutet. Ein ungewollter Nebeneffekt, aber er würde es in der weiteren Planung einkalkulieren. Wichtig war nur, dass er am Ende die Waffen besaß, die ihm zum Sieg führen würden. Alles was er brauchte, war etwas Zeit und die würde er sich durch diesen Frieden verschaffen. Sein Lächeln war auch dann noch nicht verschwunden, als er sein Pferd nach Norden lenkte. Den Werwölfen hatte er Sicherheit geschenkt, für den Moment. Aber welche Rolle spielten schon ein paar Jahrhunderte. Werwölfe dachten einfach zu kurzfristig, wie es eben ihre tierische Natur war.

 

Boston, Vereinigte Staaten von Amerika, 2005

2484 Meilen

Wenn es etwas im Leben gab, um das sie ihre Mutter beneidete, dann war es die Art, wie sie ihr Leben lebte. Es war geradlinig, konstant und es gab keine Eventualitäten darin. Zwar war ihr Vater nicht bei ihnen geblieben, aber sie hatte ihre Mutter und konnte sich nicht vorstellen, dass ein Vater viel an ihrem Leben geändert hätte. Viele Menschen wuchsen mit nur einem Elternteil auf und in ihrer Familie gab es dafür mehr als ein Beispiel. Es war zu einer traurigen Tradition geworden. Kiara blickte vom Ticket in ihrer Hand hinauf zu den sich verändernden Tafeln der Abflugzeiten. Seattle würde es also werden, 2484 Meilen entfernt von dem Ort, wo sie die letzten sechs Jahre verbracht hatte und genug Meilen, um wieder atmen zu können. Eine neue Stadt mit einem neuen Punkt auf ihrer ganz persönlichen Landkarte. Die ersten Wochen würde sie in diesem Haus wohnen, das sie über das Internet gemietet hatte, danach würde sie sich eine Bleibe und einen Job suchen. Nur erst einmal weg. Es war jetzt 38 Stunden, 27 Minuten und einige Sekunden her, seit ein einziger Satz sie dazu gebracht hatte, wieder einmal auf gepackten Koffern in einem Flughafen zu sitzen: Ich hab mir das überlegt, wir passen einfach nicht zueinander. Zehn Wörter, die ihre gesamte Planung umgeworfen hatten. Genug Silben, um wieder einmal ein Buch zu schließen und den Titel auf dem Einband zu ändern. Irgendwie weigerte sich ihr Leben hartnäckig, geradlinig zu verlaufen und so wie bei den allermeisten anderen Menschen zu sein. Das Telefon klingelte lautstark in ihrer Tasche und sie musste nicht auf das Display schauen, um zu wissen, dass es ihre Mutter war.

„Hi Mom, nein ich habe es mir nicht anders überlegt, ich glaube nicht, dass mir Boston noch liegt … Nein, ich möchte nicht nach Oslo kommen. Ich muss los und ruf dich wieder an, wenn ich gelandet und im Haus bin. … Nein, mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung, ich ziehe nur wieder einmal um.“ Ich ziehe zum fünften Mal in meinem Leben um und ich habe Übung darin, fügte sie im Stillen hinzu.

Aufkommende Kopfschmerzen zogen zielstrebig von ihrem Nacken aufwärts den Hinterkopf entlang und sie schob es auf die ewig anwesenden Klimaanlagen. Ihr Bruder hatte sie bestärkt und gesagt, es würde ihr guttun, einfach eine Weile auf dem Land zu leben, sich erst einmal zu entspannen. Nun, sie würde es versuchen, bis sich etwas anderes fand.

Kiara schloss die Augen und setzte sich auf den Koffer. Auf der einen Seite fühlte sie sich matt und müde, auf der anderen konnte sie gar nicht schnell genug aus der Stadt kommen, mit der sich so viele Erinnerungen verbanden. Der Buchstabe S war gar nicht so schlecht und wenn sie einmal nach Phoenix umziehen sollte, dann hatte sie ein perfektes Pentagramm über die Bundesstaaten gezogen. Die Passagiere der ersten Klasse wurden aufgerufen. Sie zog die Baseballkappe tiefer in die Stirn. Die ganze Welt machte Unterschiede, leider gehörte sie zu dem Teil, der absolut durchschnittlich war und von jedermann einfach übergangen wurde. Jemand stieß sie mit der Aktentasche im Vorbeigehen an. Sie erkannte italienische Maßschuhe und seufzte. Es gab immer Typen in italienischen Maßschuhen und den Moment, in dem sie eröffneten, dass sie die Assistentin interessanter fanden, als die graue Maus, die selbst in einem Kleid von Dolce & Gabbana unscheinbar wirkte. Sie würde es wie immer machen, das T-Shirt, das er in ihrem Schrank vergessen hatte, in einem feierlichen Akt verbrennen und sich danach in ein neues Leben stürzen, während sie das Mineralwasser trank, das sie zum Löschen mitgenommen hatte. Es würde ein Leben voller Zahlen sein, in dem keine Männer vorkamen. Programmcodes waren nicht so aufregend wie ein Leben in der High Society, zumindest wenn es nach ihrem Ex, Darren ging. Wie hatte sie nur so dumm sein können, auch nur einen Moment zu glauben, in seine Welt zu gehören, wo Dinge glitzerten und Partys zum täglichen Programm gehörten. Ein unauffälliger Spatz unter Paradiesvögeln, bei denen selbst ein Missgeschick noch elegant wirkte.

Der Lautsprecher rief ihre Sitzreihe auf und sie blickte auf die lange Schlange der Wartenden. Der Flug würde eine Weile dauern und es war ein gutes Gefühl, dass niemand auf sie wartete. Niemand, der sie, ihre Vergangenheit und Fehlschläge kennen würde. Kein mitleidiges Tuscheln, wenn sie sich einen Kaffee holte. Mit dem sicheren Gefühl, etwas zurückzulassen und ein neues Kapitel zu beginnen, griff sie nach ihrer Tasche und schloss sich den langsam vorrückenden Menschen an. Irgendwo in 2484 Meilen würde etwas Aufregendes beginnen und sie wollte es nicht länger warten lassen.

Der Regen schlug gegen die Scheiben, so als wollte er sie daran erinnern, dass hier in Boston nur Tränen zurückblieben. Sie reichte der Frau am Schalter ihr Ticket und ging die Gangway entlang. Die Helligkeit und der Lärm um sie herum machten ihr zu schaffen. Sie setzte die Sonnenbrille auf, um zumindest das grelle Licht erträglicher zu machen. Gegen die Geräusche und Gerüche, die auf sie einwirkten, konnte sie im Moment wenig tun – aber sie hoffte, dass zwei Tabletten aus ihrer Tasche Linderung brachten, sobald sie in der Luft waren. Eine Stewardess mit stark geschminkten Lippen zeigte ihr den Weg, flach atmend versuchte sie, den eindringlichen Geruch des Parfüms nicht zu riechen. Das Gefühl, allein durch den Duft ohnmächtig zu werden, drängte sich ihr auf.

„Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug, Miss.“ Angenehmen Flug … alles war angenehmer, als in Boston zu bleiben. Mit einem angedeuteten Nicken dankte sie der Stewardess und verstaute ihre Tasche, bevor sie sich an ihrem Sitznachbarn vorbei auf ihren Platz begab. Der Mann zu ihrer Rechten war korpulent und wog augenscheinlich knapp doppelt so viel wie sie. Innerlich begann Kiara zu beten, er würde nicht einschlafen und zu ihr herüberrutschen. Er roch stark nach billigem Aftershave und spielte unablässig mit einer Serviette, die er nach und nach in kleine Teile zerrupfte. Manchmal genügen zwei kleine Stecker, um dem Leben ein wenig zu entfliehen, dachte sie noch müde, nahm ihren MP3-Player und stöpselte sich die Kopfhörer ein. Lebendige Rhythmen begrüßten sie und ließen den Fluglärm nach hinten treten. Sie lehnte den Kopf gegen die Kabinenwand und verfolgte das Abheben der Maschine. Boston wurde kleiner und sie schloss die Augen. Nicht mehr lange und alles lag hinter ihr. Mit dem festen Willen sich zu entspannen, schloss sie ihre Augen und versuchte zu schlafen.

„Entschuldigen Sie, könnten Sie das Fenster ein wenig zuziehen?“ Die Stimme passte nicht in ihren Traum und unterbrach die Schlacht, deren Zeuge sie gerade geworden war. Mühsam kämpfte sie sich in die Wirklichkeit zurück und blickte in das rote Gesicht ihres Sitznachbarn. Erschrocken fuhr sie zusammen, dieses Gesicht passte ebenfalls nicht in ihren Traum. Noch halb benommen zog sie das Fenster zu und schmiegte sich wieder an die Bordwand. Doch der Traum kam nicht zurück. Stattdessen meldeten sich ihre Kopfschmerzen wieder und hinterließen ein unangenehmes Gefühl unter ihrer Kopfhaut. Sie suchte ihre Kopfschmerztabletten heraus und ging zu den Waschräumen. Bisher hatte sie die verschiedenen Menschen auf einem Flug als interessant empfunden, jetzt erschienen sie ihr unerträglich. Während sie im Gang darauf wartete, dass eine Frau endlich die richtige Zeitschrift in ihrer Tasche fand und sich wieder setzte, fiel ihr Blick auf einen Passagier, der gelangweilt aus dem Fenster schaute. Er trug legere Kleidung und seine goldbraunen Augen wirkten durch das einfallende Licht noch heller. Sein Gesicht erinnerte sie an jemanden. Es war mit Sicherheit niemand aus ihrer Studienzeit. Dennoch hinterließ seine Anwesenheit ein unangenehmes Ziehen in ihrer Nackengegend. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, solange sie geduldig vor der Tür wartete, um in den Waschraum zu kommen. Nach einer Ewigkeit hörte sie das erlösende Klicken und eine Frau mittleren Alters kam heraus. Als Kiara den kleinen Raum betrat, nahm ihr der verbleibende Duft des Parfüms fast die Luft. Sie stützte die Hände neben dem Waschbecken auf und vermied es, durch die Nase einzuatmen. Eine Schwangerschaft hatte sie bereits in Boston mit Sicherheit ausschließen können, aber die Geschichte mit der Empfindlichkeit nahm unangenehme Züge an. Sie richtete sich auf und blickte vor sich. Der Spiegel verhüllte keinen der dunklen Schatten unter ihren Augen und erinnerte sie daran, warum sie keine Spiegel mochte. Es gab nichts Interessantes, das sie zeigen könnten. Dunkles, langes Haar, ein schmales Gesicht, graublaue Augen. Wenn wenigstens ihre Haut dunkler gewesen wäre, hätte es exotisch aussehen können. So aber wirkte es farbloser als farblos. Sie drehte den Wasserhahn auf und wusch sich das Gesicht, bevor sie die Tabletten schluckte. Irgendwo im Universum musste es einen geheimen Trick geben, um auf die Sonnenseite des Lebens zu kommen. Leider hatte sie ihn noch nicht entdeckt. Irgendwann würde sie es schaffen. Mit einem letzten Blick in den Spiegel verließ sie den Raum. Während sie den Gang zurück zu ihrem Platz ging, fiel ihr eine Äußerung eines Kommilitonen ein: Kiara gib zu, du bist ein Alien! Vielleicht war etwas Wahres daran und ihre Kopfschmerzen die Vorboten, dass sie sich in ein grünes, schleimiges Monster verwandelte und das Flugzeug samt Insassen fressen würde. Sie mochte die Idee. Den nach Aftershave riechenden Mann neben ihr würde sie zuerst fressen. Sie setzte sich und zog die Sonnenbrille vor ihre Augen, bevor sie ihren MP3-Player wieder einschaltete und beschloss, die letzten Meilen in ihr neues Leben schlafend zu verbringen. Hartnäckig versuchte sie dabei zu ignorieren, dass sich noch immer das unbestimmte Kribbeln in ihrem Nacken meldete und die Lautstärke der Umgebung trotz Tabletten ihre Geduld auf die Probe stellte. Jedes Mal, wenn ihr Sitznachbar wieder eine der Servietten zerriss, war es, als befände sie sich direkt vor einer Lautsprecherbox, die jemand voll aufgedreht hatte. Erschwerend kam hinzu, dass er in ihrer Abwesenheit noch einmal sein Aftershave erneuert haben musste. Es roch unerträglich. Sie brauchte etwas, um sehr schnell die nächsten Stunden hinter sich zu bringen und dies möglichst in einem vollkommen neutralen Zustand. Also drehte sie die Musik lauter, um alles zu übertönen und konzentrierte sich darauf, nur noch durch den Mund zu atmen. Sie zog das Rollo wieder hoch und blickte auf die Wolken. Ihr Verstand registrierte, dass in ihr eine ungewohnte Aggression aufstieg, ausgelöst durch die auf sie einwirkende Umgebung; eine Reaktion, die sie bislang von sich nicht kannte. Nur langsam begann sie, in einen Halbschlaf zu fallen. Zufrieden wollte sie gerade wieder an die Wand lehnen, als ihr Nachbar sie erneut auf die Schulter tippte. Kiara fuhr hoch und konnte nicht mehr verhindern, aufgebracht zu klingen.

„Was?“

„Würden Sie das Rollo …“

Sie ließ ihn nicht zu Ende sprechen: „Nein, wenn Sie dieses Rollo so stört, geben Sie beim nächsten Mal fünfzig Dollar mehr aus und buchen selbst den Fensterplatz!“ Mit einem Knurrlaut drehte sie sich um und blickte hinaus. Teils war Kiara über ihre eigene Reaktion erschrocken, teils aber zufrieden, sich durchgesetzt zu haben – was selten genug vorkam. Gewöhnlich war sie diejenige, die ihre Interessen zurückstellte und Rücksicht nahm. Sie hatte den verwunderten Gesichtsausdruck des Mannes registriert, aber sie hatte auch bemerkt, dass sie für den Fall eines Angriffs sein Gewicht und seine Geschwindigkeit abschätzte. Wenn die Tabletten, die sie nahm, immer solche Nebenwirkungen hatten, würde sie auf andere zurückgreifen müssen. Es war beängstigend und ihre Kopfschmerzen plagten sie nach wie vor. Daneben war das Kribbeln in ihrem Nacken nervtötend geworden und breitete sich weiter unter der Haut aus. Ihre Augen suchten in der dichten Wolkendecke nach Mustern und betrachteten ihr Spiegelbild in der Scheibe. Irgendwo dort draußen gab es jemanden, den sie eines Tages treffen würde. Jemanden, der sie verstand. Jemanden, bei dem sie nicht vorgeben musste, etwas anderes zu sein. Vielleicht war er genauso durchschnittlich wie sie. Vielleicht hatte auch er das Gefühl, dass es da noch etwas gab, das größer war als alles, was man sich vorstellen konnte. Jemanden, der manchmal einfach nur dem Wind zuhörte. Ihre Mutter pflegte sie zu necken, dass sie zu viel Fantasie habe, aber vielleicht war das in einer Welt von Aktien und Rechtsanwälten gar nicht das Schlechteste. Lieber wollte sie eine Träumerin sein, als einer dieser herzlosen Schlipsträger wie Darren. Das Unwohlsein ihres Sitznachbarn schwappte wie dickflüssiger Sirup zu ihr herüber, während die Geschäftigkeit der Kinder hinter ihr mehr einem Mückenschwarm glich. Allmählich trugen die Eindrücke sie in einen leichten Schlaf und sie hoffte, er würde diesmal anhalten bis das Flugzeug landete.

Der Wind war kühl und die Wolken jagten, von hohen Winden getrieben, über den Himmel. Irgendwo rief ein Hund dem Mond eine gute Nacht zu. Zed war vom Protektorat hierher geschickt worden und nutzte die Gelegenheit, um einen alten Freund zu treffen. Francis' Familie gehörte zu einem der Zirkel, mit denen er seit einigen Dekaden lockeren Umgang pflegte. Er stufte den Vampir, der sich der Forschung verschrieben hatte, als ungefährlich ein, was ihn aus dem üblichen Beuteschema fallen ließ.

„Ist es nicht angenehm friedlich? Die Welt verschläft uns einfach“, sagte Francis und nahm ihm gegenüber auf einem Felsen Platz. Seine Haut wirkte im Mondlicht fast weiß. Zed seufzte und betrachtete seine eigene Hand, als sei sie ein einzigartiges Stück. Ein Gedankenimpuls von ihm genügte, um eine Rüstung über seinen Körper fließen zu lassen. Wie Quecksilber bedeckte sie die Haut und passte sich den einzelnen Muskeln an. Kaltes Metall, unzerbrechlich, aber nicht unzerstörbar.

„Vielleicht ist es besser so, dass die Nacht ihre Monster verbirgt“, erwiderte Zed und der Vampir neben ihm lachte trocken.

„Wir sind keine Monster. Nur anders. Gib zu, du genießt es zu sehr, das zu sein, was du bist. Also warum bist du hier?“, Francis machte eine kleine Pause und wirkte besorgt. „Nicht um einen alten Freund zu besuchen, oder?“ Zed schüttelte den Kopf.

„Nein, Freunde sind eine willkommene Abwechslung, aber kein Grund.“ „Ärger? Unmöglich, dass wir ihn verursacht haben. Wir sind ruhig und schon seit vielen Jahrzehnten regelrechte Vegetarier. Aber nicht nur deine Anwesenheit ist beunruhigend. Da ist noch ein stetig wachsendes Wolfsrudel und ein unkontrollierter Vampir, der in der Stadt wildert.“ Die Stille der nachfolgenden Pause wurde nur vom Nachtwind unterbrochen. „Bist du deswegen hier, wegen dem Wilderer?“

„Nein“, Zed bewegte die Sonnenbrille zwischen seinen Fingern. Die Konversation mit seinem vampirischen Bekannten war skurril. Aber es war auch eine der wenigen Freundschaften mit Bestand, unsterblichem Bestand.

„Hmm“, Francis' Erwiderung signalisierte eine unzureichende Antwort. Eigentlich musste sein Freund wissen, dass er nicht über interne Details sprechen durfte, also versuchte Zed das Thema zu wechseln. Es genügte, wenn sich einer von ihnen in einer unglücklichen Situation befand.

„Wie gehen eure Beziehungen mit den Menschen voran? Du weißt, ich finde es wirklich erstaunlich, mit welcher Disziplin ihr diese Verbindungen aufrecht erhaltet.“ Zed seufzte bei dem Gedanken, dass Vampire mit Menschen lebten, arbeiteten und versuchten, die Welt zu verbessern. Alles änderte sich, nur das Protektorat schien in der Zeit eingefroren zu sein. Seine Stimme wurde leiser als er sagte: „Tut mir den Gefallen und fangt nicht mit so einem Mist wie Mischlingen an. So etwas kann Maßnahmen erzwingen.“ Das herzhafte Lachen seines Gegenübers rief bei ihm ein Schmunzeln hervor. Bizarr genug, dass seine Gegner nach außen normale Beziehungen pflegten. Für ihn bedeutete diese Form der Zweisamkeit lediglich eine flüchtige Erscheinung. Menschen waren zerbrechlich, ihre Existenz kurz, ihre Anfälligkeit gegenüber Verletzungen und Krankheiten hoch. Sie lösten nichts in ihm aus, weder den Wunsch, noch das Bedürfnis, ihnen näherzukommen. Tief in ihm wartete etwas darauf, dass derartiges passierte, aber die Wahrscheinlichkeit war verschwindend gering. Märchen geschahen in Träumen und Zed träumte schon lange nicht mehr. Stattdessen lagen Jahrzehnte der erbarmungslosen Jagd für das Protektorat hinter ihm. In Russland hatten sie beim Kampf gegen einen alten Vampirzirkel den Schnee rot gefärbt und in London hatte er gesehen, wie die Themse dunkel wurde, als das Protektorat eingriff. Er war einer der Assassine des Protektorats. Ausgebildet und trainiert, um schnell und präzise zu töten und nicht, um Beziehungen zu Menschen zu haben. Das überließ er den sentimentaleren Gemütern unter ihnen. Es dauerte eine Weile, bis in den Vampir neben ihm wieder Leben kam. So sympathisch Francis auch war, die weiche, melodische Art, mit der Vampire sprachen, vermittelte ihm jedes Mal den Eindruck, als bewegte er sich durch Sirup.

„Du solltest einmal vorbeikommen und uns besuchen, Zed. Zwar würde ich dich gerne zum Essen einladen, aber das gestaltet sich schwierig, außer wir werden zu Blutspendern oder fangen ein paar Werwölfe.“ Francis lachte und Zed stimmte ein. Die Vorstellung, seine Freunde als Mahlzeit zu betrachten, war befremdlich.

„Nicht nötig, wir sind euch gegenüber im Vorteil, was die Ernährung angeht. Die letzten Jahrzehnte waren reichhaltig. Ich kann eine Pause ertragen.“

„Was für eine Ironie, dass ausgerechnet wir zwei hier sitzen. Der ins Exil Verdammte und der Attentäter.“ Während er sprach, mischte sich Grübeln in die Gesichtszüge des Vampirs.

„Wer immer für Schicksale zuständig ist, verfügt über eine gehörige Portion schwarzen Humor“, sagte Zed, hob einen Kiesel auf und warf ihn in das Tal unter ihnen.

„Ja, so in etwa. Ist es nicht eure Aufgabe, den Bestand meiner Spezies zu begrenzen und über unser Verhalten zu wachen?“ Francis winkelte ein Knie an und legte einen Arm darauf. Zed nickte.

„So in etwa.“ Uns zwingen unsere Vorfahren dazu, während ihr wenigstens eine Wahl habt, fügte er im Stillen hinzu. Er knirschte mit den Zähnen, das Leben war niemals gerecht. Wenigstens sein Auftrag war klar definiert. Finde den Neuankömmling und wache über ihn. Morgen oder übermorgen würde sich zeigen, ob er oder sie sich wieder auf Jonas Radar zeigte. Doch noch immer konnte er sich keinen Unpassenderen vorstellen, um ihn zu finden, auch wenn Ceren anderer Meinung war. Wenigstens war Jona mit seinem Talent in der Lage, Protektoren und werdende Protektoren ausfindig zu machen. Aber seine Angaben waren diesmal alles andere als präzise. Seit fünf Jahren versuchte er, ihn näher zu bestimmen – vergeblich. Er wusste weder wer, noch wie alt er war. Wie ein Nebel legte sich immer wieder etwas über den Unbekannten. Ließ ihn für eine Weile verschwinden, um ihn dann wieder unvermittelt auftauchen zu lassen. Also blieb ihm nur, den Spuren zu folgen. Er tat es seit gut fünf Jahren und er hasste es. Er las Krankenakten, suchte nach auffälligem Verhalten. Egal was er unternahm, es grenzte lediglich die Zahl der Verdächtigen ein. Soweit er informiert war, setzte die Umwandlung vom Menschen zum Protektor bei mehr als einem ein. Ein paar von ihnen fielen aus den unterschiedlichsten Gründen aus. Diesmal jedoch waren die Ausfallraten unverhältnismäßig hoch. Hohe Unfallquoten, spontane Schwangerschaften. Jedem in der Gemeinschaft war es aufgefallen. Aber es brachte ihn nicht weiter. Noch immer wusste er nicht, wen er suchte. Begab sich an Orte, die man ihm nannte, beobachtete und wartete. Zufälle und Umstände aktivierten eine Blutlinie und setzten einen Umwandlungsprozess in Gang. Etwas, das in der heutigen Zeit zu Schwierigkeiten führen konnte. Kameras, Internet, zu viele Möglichkeiten, entdeckt zu werden. Die Vorstellung, dass es mitten in einer Menschenmenge zur Umwandlung kam, während CNN live dabei war, gehörte zu einem seiner negativsten Szenarios. Vor dem Computer war es einfacher gewesen. Keine Zeugen oder Belege, die nicht vor Ort korrigiert werden konnten. Er seufzte und seine Gedanken wanderten in die Zeit seiner Umwandlung zurück.

„Okay, lass mich raten“, Francis‘ Bemerkung riss ihn aus seinen Überlegungen, „wenn wir nicht das Problem sind, was treibt einen Protektor dann so rastlos durch die Gegend? Du verfolgst doch keine harmlosen Frauen, die du im Internet kennengelernt hast, oder?“ Überrascht blickte Zed auf und entgegnete: „Wie kommst du darauf? Aber ein verlockender Gedanke: Hey ich bin Zed, 234 Jahre alt und ich steh auf junge Frauen, wenn du mich kennenlernen willst, ruf mich an. Eine interessante Idee, aber nicht praktikabel. Diese Sache mit dem Altern stört da gewaltig.“

„Zed, du übertreibst. Für dein Alter hast du dich passabel gehalten. Und wenn man einmal davon absieht, dass du der falsche Seite dienst ... Je nach Standpunkt betrachtet natürlich. Aber wir beide wissen genau, was der Wunsch bedeutet, gewöhnlich zu altern – oder?“

Er nickte, der Vampir hatte recht. Die Vorstellung, einfach nur alt zu werden, in einem Häuschen an der See, sich über sein Alter zu freuen, die Sonne zu genießen, während man auf einer Parkbank sitzt – diese Vorstellung hatte faszinierende Momente. Leider war sie nicht umsetzbar. Stattdessen würden die Herbststürme kommen und gehen, die Winter an ihm vorüberziehen und er würde immer noch so sein, wie er war. So lange bis er starb und es wäre kein sanftes Einschlafen. Der Tod würde gewaltsam sein, das war die die einzige wirkliche Konstante, die sein Nicht-Leben begleitete und die Gewissheit, dass es unausweichlich war. „Unterrichte deine Familie, dass sie in den nächsten drei Tagen jagen und sich danach eine Weile fernhalten. Wenn möglich, beschränkt euren Wirkungsradius auf ein Minimum. Ich rufe dich an, wenn die Gefahr vorüber ist.“ Zed erhob sich und sein Gegenüber blickte ihn abschätzend von der Seite an.

„Sag mir nicht, es kommt eine Protektoratsversammlung direkt nach Seattle“, die Stimme des Vampirs war ein Flüstern. Zed schüttelte den Kopf. Dann würde das Protektorat seine Macht demonstrieren wollen. Das hier war etwas anderes.

„Schlimmer, wir erwarten Nachwuchs und ich weiß noch nicht wann und wo. Dir ist bekannt, kurz nach dem Übergang sind wir etwas impulsiv, was unsere Nahrungssuche angeht und Vampir gehört nun einmal zu den Top zwei.“

Sein Gegenüber nickte: „Ich verstehe. Wir können uns auch ein paar Tage in eine andere Gegend begeben, wenn es helfen sollte.“

„Nein“, Zed blickte in das Tal, „ich kenne den exakten Zeitpunkt nicht. Es könnte falscher Alarm sein.“ Wie seit fünf Jahren, fügte er stillschweigend hinzu. Jona war sich immer noch nicht sicher. Irgendetwas lief diesmal schief und er erstellte seit Tagen Simulationen, die zeigen sollten, was noch alles möglich war. Zuletzt hatte die Liste eine beeindruckende Zahl an Punkten gehabt. Einer seiner Favoriten war die Idee, dass er am falschen Ort suchte. Also ließ er seine Gedanken hinausgreifen und klinkte sich ins Kollektiv ein, das sie miteinander verband. Es war zwar kein Rudeldenken, wie das der Werwölfe, aber genauso effektiv und dienlich, um innerhalb der Gemeinschaft Informationen und Gedanken auszutauschen. Zuerst überlegte er, Jona direkt anzusprechen, dann entschied er sich für die allgemeine Ebene. „Sollte ich je dahinterkommen, dass ihr mich aus Spaß seit fünf Jahren durch die Gegend jagt, dann komme ich persönlich bei jedem von euch vorbei“, raunte er gedanklich dem Summen des Kollektivs zu und ein vielstimmiges Lachen antwortete ihm. Ihr Humor war grauenhaft.

Am Horizont begann die Sonne, den Himmel in Grautöne zu tauchen. Wieder begann ein neuer Tag. Wieder ein Tag, an dem irgendwo ein Mensch starb. Zed beschloss, den Morden in der Stadt auf den Grund zu gehen, solange er hier warten musste. Es war egal, ob er hier auf einem Berg hockte und ins Tal hinunterblickte oder dafür sorgte, dass ein übermütiger Vampir einen endgültigen Dämpfer bekam.

„Also kümmerst du dich um den Vampir unten in der Stadt?“ Als hätte er seine Gedanken gelesen, blickte Francis zu ihm hinüber.

Zed nickte: „Ja, ich werde dort einmal vorbeischauen. Ihr braucht euch nicht darum zu kümmern. So habe ich wenigstens etwas zu tun und gehe dabei auch noch meinem Job nach. Ist es ein Bekannter?“

„Nein, vermutlich nur ein Streuner, der es nicht besser weiß und nicht stark genug ist, die Sache sauber zu erledigen. Wir können ein paar Nachforschungen anstellen und dir helfen, wenn du es möchtest.“

Zed winkte ab und wandte sich zum Gehen. „Ist schon in Ordnung, ich denke, ich finde ihn – und pass auf deine Familie auf.“

„Denk dran, Zed: die Einladung steht. Das meine ich ernst“, rief Francis ihm hinterher. Er nickte und machte sich an den Abstieg ins Tal zu seinem Wagen. Die Einladung würde auch noch in ein paar Jahren stehen. Zunächst würde er in die Stadt gehen und sich um den Streuner kümmern. Je nachdem wie es verlief, würde dieser Vampir eine Zwischenmahlzeit oder ein Hauptgericht werden. Aber er hoffte inständig, dass er die nächsten Tage nicht durch Müllhalden stapfen musste, um diesen Irrläufer zu korrigieren. Es war schon schlimm genug, wenn man keinen eigenen Geruch besaß, aber man musste stattdessen nicht nach Abfall riechen. Immerhin war das Fehlen von Eigengeruch erstaunlich, wenn es darum ging, von Menschen nicht beachtet zu werden. Es war immer wieder faszinierend, dass er weniger von seinen Mitmenschen wahrgenommen wurde als seine vampirischen Freunde. Aus nicht erfindlichen Gründen zogen Vampire Menschen an wie das Licht Nachtfalter. Die perfekte Falle, die er in regelmäßigen Abständen entschärfte. Allerdings konnte es mühsam sein, wenn man nicht aktiv wahrgenommen wurde. Es irritierte die Menschen sogar. Notgedrungen hatte er sich angewöhnt, zumindest seine Kleidung zu präparieren. Das Problem war nur, auf Dauer verursachte es Kopfschmerzen, der menschliche Geruchssinn war geradezu taub, wenn er ihn mit seinem eigenen verglich. Immerhin kann ich im Gegensatz zu euch Vampiren nach Miami an den Strand. Das nenne ich einen fairen Ausgleich, er setzte die Sonnenbrille auf.

Lichtempfindlich, aber nicht blind während des Tages, Protektorat gegen Vampire: 1:0.

Die Fahrt in die Stadt verlief ohne Stau und er ließ seinen Wagen unweit des Industriegebietes stehen. Zwei Blocks von hier waren die ersten Opfer gefunden worden. Also würde die Jagd an diesem Ort beginnen. Noch war das Treiben auf den Straßen verhalten. In den engen Gassen war es bis auf ein paar schlafende Landstreicher menschenleer und die Luft roch noch nicht nach Abgasen. Es würde um diese Zeit leicht sein, eine Spur zu finden, sofern es eine gab. Die Witterung aufnehmend bewegte er sich vorwärts, aber nichts schien auf die Anwesenheit eines Vampirs hinzudeuten. Er ging Block um Block ab – nichts. Kein Hinweis, keine Spur. Frustriert überlegte er und entschied sich, gezielt einen der Tatorte aufzusuchen. Noch immer flatterten die Reste von gelben Absperrbändern an den verrosteten Zäunen. Die Spurensicherung war gründlich gewesen. Er zuckte mit den Achseln. So gründlich, wie es Menschen eben möglich war. Sorgsam schritt er den Platz ab und fand schließlich, was er suchte. Einen feinen Geruch an einer Wand. Hier musste der Vampir sein Opfer gestellt haben. Er rief sich bekannte Bilder in den Kopf. Wahrscheinlich hatte er ein wenig mit seiner Beute gespielt, sich an ihrer Angst ergötzt, den Duft von Adrenalin eingesogen und es war für ihn ein exotisches Bouquet gewesen. Zed holte sich die bekannten Details des Mordes ins Gedächtnis. Ein Lagerarbeiter und Vater von drei Kindern, 34 Jahre alt. Er konnte diesen Tod nicht mehr ungeschehen machen, aber neue Morde verhindern. Ein feines Band der Witterung führte ihn tiefer in das Hafenviertel hinein. Wahrscheinlich fiel er mit dem dunklen Mantel und den Militärschuhen nicht weiter auf. Er dachte an Galen und musste unwillkürlich grinsen, wenn er sich seinen Freund, in italienischen Designerschuhen durch den Hafen stapfend, vorstellte. Der Geruch wurde stärker als er an einer Halle vorbeikam. Seine Sinne meldeten Alarmbereitschaft und er wechselte die Richtung, dem Geruch folgend. Sein Verstand wertete die Informationen präzise aus und kartographierte die Umgebung. Instinktiv prüfte er die Gegend auf mögliche Zeugen, falls es zum Kampf kam. Es war alles ruhig. Kaum Zeugen, geringer Kollateralschaden. Witternd ging er um die Halle herum und fand dahinter einen Zugang zu einem alten Kanal. Seine Lippen verzogen sich zu einem kalten Lächeln.

Dieser hier musste wirklich unerfahren sein. Welch kindisches Versteck. Als er in den Schatten des Eingangs trat, spürte er, wie sich aus einem Reflex heraus die Rüstung über seinen Körper ausbreitete, die Waffe in seiner Hand pulsierte sanft. Geräuschlos ging er die Stufen zum Kanal hinunter und faltete dabei sorgfältig seine Sonnenbrille zusammen, um sie in einer Innentasche zu verstauen. Der Geruch nahm zu und nachdem er einige Hundert Meter vorgedrungen war, hörte er ein Wimmern. Seine Augen hatten die sich verschlechternden Lichtverhältnisse bereits ausgeglichen und er erkannte ein Bündel alter Kleidung in einiger Entfernung. Flacher Atem war zu hören und der Geruch einer angefangenen Mahlzeit. Etwas Fauliges stieg ihm in die Nase. Ganz offensichtlich hatte sich seine Beute einen Snack für später mitgebracht. Angewidert zogen sich seine Lippen zurück und er fuhr sich mit der Zunge über die Eckzähne. Den Menschen oder das, was von ihm übrig war, konnte er nicht mehr retten. Aber er konnte ihm ein schnelles Ende bereiten, das wahrscheinlich gnädiger war als das, was dem Vampir vorschwebte. Ein Knacken von Knochen ließ das Wimmern verstummen. Gleichzeitig rief es eine Reaktion aus einem abgehenden Tunnel hervor. Zed verzog die Mundwinkel und der Stab fuhr sich sirrend zu seiner vollen Länge aus. Was immer du erwartest, ich wette, die Überraschung, die ich dir biete, wird dem nicht gerecht. Instinktiv sank er auf eine tiefere Ebene des Bewusstseins, verschaffte seinen Jagdinstinkten mehr Freiraum. Logik konnte er später noch anwenden.

Der Vampir kam in kauernder Haltung aus dem Tunnel. Vorsichtig witternd blickte er sich um und zögerte als er Zed sah. Seine Augen verrieten Hunger und dass er sich zuletzt von Menschenblut ernährt hatte. Das Wesen, mehr Kreatur als Vampir, fauchte und fletschte die Zähne. Es war einem Tier näher als dem Bild, das in Filmen dargestellt wurde. Das Haar hing strähnig an den Seiten des Kopfes herab. Er war ungepflegt und vermutlich das ungelenke Produkt eines nicht gewollten Umwandlungsprozesses. Vielleicht war der Vampir gestört worden während er trank und hatte es nicht beenden können. Zed bewegte den Kopf, abschätzend, was ihn erwartete. Der Angriff kam ungezügelt wie der eines tollwütigen Hundes. Der Stab traf schmetternd vor die Brust und vereitelte die Attacke. Zed ging leicht in die Knie und drehte den Stab kurz, bevor er ihn aus einem Halbkreis heraus gegen die Beine seines Gegners führte. Der Vampir jaulte auf. Er hatte vermutlich nicht damit gerechnet, dass er verletzt werden könnte. Zed nahm den Geruch des sickernden, dickflüssigen Blutes aus der Beinwunde wahr, seine Sinne meldeten ihm Nahrung. Wieder setzte der Vampir zum Angriff an, auch wenn seine Bewegungen durch den zerschmetterten Beinknochen eingeschränkt waren. Es knackte und klang nach brechenden Knochen, als der Stab den Kopf an der linken Schläfe traf und den Vampir zurücktaumeln ließ. Seine Blicke, die Zed fixierten, veränderten sich. In blinder Raserei, ausgelöst durch die Schmerzen und den Hunger, begann er blindwütig anzugreifen. Es war zu einfach, diesen Attacken auszuweichen. Sie wurden nur durch rohe Kraft gelenkt, waren keine Herausforderung für einen Protektor und Zed bedauerte, dass sie jeglicher Finesse entbehrten. Noch zwei Mal krachte das Stabende gegen die Beine des Vampirs, dann positionierte Zed sich hinter seine Beute und fixierte mit einem gezielten Griff den wild um sich geifernden Kopf. Seine eigenen Lippen zogen sich zurück und entblößten die scharfen Zähne. Das Genick bot keinen Widerstand, als er es nach hinten bog und die Kehle der Kreatur zerriss. Es würde keine weiteren Toten durch diesen Vampir geben, nicht hier, nicht jetzt oder in nächster Zeit. Langsam verebbte sein Durst und er ließ den Körper des Vampirs fallen. Noch immer zuckten die Glieder. So einfach sind sie wirklich nicht zu töten, kommentierte er still, während er die Ebenen wechselte und das Feuerzeug aus seiner Tasche zog, um den Kadaver anzuzünden. Als er sich wieder auf den Weg machte, blieb ein Haufen zerrissener und brennender Körperteile zurück. Die Rüstung verschwand und er begutachtete seine Erscheinung als er in das Sonnenlicht trat. Die Brille verbarg, dass er gerade getrunken hatte, allerdings würde er die Jacke ersetzen müssen. Er knurrte, als er die abgerissene Tasche sah. Die Jacke war fast neu gewesen. Widerwillig zog er sie aus und warf sie sich über den Rücken. Warum war es nicht so wie in den Filmen, wo die Helden einfach in unzerstörbaren Superrüstungen durch die Stadt laufen konnten?

Zed?“, die Meldung kam direkt aus dem Kollektiv und die Stimme, die sich da meldete kannte er seit fünf Jahren nur zu genau.

Was hast du für mich, Jona? Ich nehme nur noch positive Nachrichten entgegen.“

„Zumindest versuche ich dich seit geraumer Zeit zu erreichen.“

„Tut mir leid, ich war ein wenig“, er suchte nach dem richtigen Wort, „abgelenkt.“

Das Grinsen auf der anderen Seite war spürbar, dann wurden die Gedanken wieder ernst.

Ich glaube es geht los. Zumindest habe ich ihn wieder auf dem Radar und das Paket müsste bald in deiner Nähe eintreffen. Such bitte nach etwas Außergewöhnlichem. Wenn du merkst, ein Sinneseindruck verändert sprunghaft immer wieder seine Position, dann bist du dran, Kamerad!

Moment – sprunghaft seine Position? Habe ich das richtig verstanden?“, horchte Zed auf. Nichts das mit dem Protektorat zusammenhing veränderte sprunghaft seine Position.

„Es ist schwer zu erklären, aber das ist der Grund, warum ich Schwierigkeiten habe, ihn richtig zu erwischen. Als könne er sich nicht entscheiden und im Prozess vor- und zurückspringen, aber immer wieder an verschiedene Punkte. Es ist kein konstantes Fließen, aber es sollte eines sein.“

Zed überlegte und versuchte, sich an seine Umwandlung zu erinnern. Seine einzelnen Sinneseindrücke hatten sich bis zu einem gewissen Grad geschärft und dann waren da die Schmerzen gewesen. Aber es war im Nachhinein ein gleichmäßiger Anstieg. Eine mathematische Kurve mit beängstigender Präzision. Ich hasse diese Art von Überraschungen, murmelte er innerlich und stieg in den Wagen.

 

Die Tür schlug mit einem dumpfen Geräusch zu und er überlegte, welche Art von Musik zu der Situation passte. Während er sich in den Verkehr zum Flughafen einfädelte, ging er das Gespräch mit Jona noch einmal durch.

Wechselt die Position. Ein Springer? Das ist ungewöhnlich, oder?“ Automatisch hielt er die Kollektivverbindung aufrecht.

„Ich kann nur die Gaben und manchmal ihre Stärke sehen, vielleicht ist es diesmal etwas anderes“, verteidigte sich Jona.

„Auf jeden Fall finde ich es spannend“, meldete sich Ceren, der Älteste von ihnen.

„Lasst mich in Ruhe überlegen und hört auf zu spekulieren“, Jona war verstimmt, wahrscheinlich war er genauso frustriert wie Zed selbst.

„Vielleicht ein Seher? Wir hatten schon ewig keinen mehr und so ein kleiner Tipp aus der Zukunft wäre manchmal hilfreich“, warf Jade ein, die kleine Inderin war immer für eine Überraschung gut.

Hast du wieder Glücksspiel betrieben?“, fragte Zed.

„Ich spiele Bingo, das ist etwas vollkommen anderes und nein, aber ein Schritt voraus zu sein, wäre doch durchaus hilfreich, oder? Endlich könnte man mal seinen Urlaub planen.“

Amüsiert lauschte Zed dem Herumgealbere der Gemeinschaft. Manchmal war es lästig, doch man lernte schnell, sich dem Kollektiv zu entziehen, wann immer man es wollte. Er sah darin seine ganz persönlichen Urlaube. Nur keine geregelten Arbeitszeiten, er grinste und bog auf den Parkplatz zu den Terminals.

„Und bitte Zed, versuch diesmal unauffällig zu sein und nehm nicht den ganzen Flughafen auseinander, nur weil du einer Fährte folgst“, betonte Ceren.

„Ja – ja“, murmelte er, „und ich hab auch meinen Schal eingepackt und etwas für den Fall, dass es regnet.“ Manchmal hasste er die Fürsorglichkeit, die der eine oder andere von ihnen an den Tag legte. Er ließ die Jacke zurück im Wagen und ging auf die Eingangstüren zu. Wachsam prüften seine Sinne die Umgebung und registrierten jeden Menschen, der ihn passierte. Unterschiedliche Gerüche streiften ihn, aber keine Auffälligkeiten, alles war so wie es sein sollte. Noch nicht einmal das geringste Anzeichen von Werwölfen oder Vampiren. Seine Kiefermuskeln spannten sich an, „Bist du dir sicher, Jona? Mit dem Flugzeug?“

Na ja, nach der Bewegungsgeschwindigkeit zu urteilen, bin ich mir sicher.“

Zed suchte den Raum nach einer guten Position ab, wo er unauffällig warten und den Terminal überblicken konnte. Er hatte Zeit. Wenn es sein musste, konnte er bewegungslos Jahrzehnte verharren. Gut, irgendwann würde es vermutlich auffallen. Aber, er zuckte mit den Achseln, wen kümmerte das schon.

Mühelos schritt er durch die Menge in den Schatten einer Säule, die Menschen nicht aus dem Blick verlierend. Die Minuten verstrichen und aus den Minuten wurden Stunden. Immer neue Reisende strömten durch die Halle. Langsam merkte er, dass er ungeduldig wurde. Keiner benahm sich auffällig, kein Ansatz eines Kribbelns in seiner Nackengegend, einfach nichts.

Jona, gib zu, du sitzt gerade irgendwo mit einer Frau, deren Namen du nicht kennst und freust dich diebisch, dass ich hier wie ein nicht abgeholtes Parkschild in diesem verfluchten Flughafen festhänge“, obwohl er wusste, dass es das Grinsen gab, konnte er es im Augenblick nur erahnen. Aber das genügte ihm für den Augenblick.

„Sei doch nicht so ungeduldig, Zed. Schließlich befinden wir uns auf der Suche und nicht auf der Jagd. Du solltest wirklich nächsten Herbst zum Angeln nach Frankreich gehen.“

„Danke, wie wäre es, wenn wir uns in Alaska treffen und ich hetzte dort die Bären auf dich?“.

Wieder verstrich Zeit, ohne dass etwas geschah und die Sonne sank langsam dem Horizont entgegen. Die großen Scheiben des Terminals erlaubten einen Blick auf die Berge. Morgen würde das Wetter vermutlich gut werden. Guten Abend, Ladies and Gentlemen, bitte begrüßen Sie die Hochfront, die uns in den nächsten Wochen vampirfreie Tage gewährt. Allerdings könnte es sein, dass mit einigen Werwolfzwischenfällen zu rechnen ist, er ahmte gedanklich den Wettersprecher von heute Morgen nach. Dann riss ihn etwas aus der Eintönigkeit des Wartens heraus. Die ersten Passagiere des Fluges aus Boston kamen in die Halle, er konnte den unverkennbaren Ostküstenakzent hören. Sein Blick wanderte zum Ausgang, wo eine dunkle Limousine mit getönten Scheiben vorfuhr. Ein Chauffeur mit Schirm stieg aus. Im gleichen Moment konnte er sie riechen. Der süßliche Geruch schwebte zu ihm herüber, wurde von der Klimaanlage ein, zwei Mal hochgewirbelt, aber blieb vorhanden. Sie erschienen in der Tür und stachen aus der Menge heraus. Egal wo und wie, er würde sie immer erkennen. Es war ihre Kopfhaltung, die Art wie sie sprachen und standen. Ihre dunklen Anzüge mochten auf Menschen unauffällig wie Geschäftsreisende wirken. Für ihn bedeutete ihre Anwesenheit Ärger. Einer von ihnen zog sein Jackett zurecht und Zed sah das Aufblitzen silberner Knöpfe, was noch mehr Ärger bedeutete. Italienische Maßanzüge, wie passend, kommentierte er innerlich. Sie waren die Bluthunde des Inneren Zirkels, zumindest ein Hinweis, dass irgendwo in Seattle etwas geschah. Wenn er sich schon auf der falschen Fährte befand, versprach das hier wenigstens Abwechslung. „Okay Jungs, verschafft mir bitte Informationen darüber, was der Innere Zirkel vorhat. Mir ist kein offizieller Besuch bekannt.“

„Mit Sicherheit etwas Inoffizielles, Zed. Bleib ruhig, wir wollen nicht an den Zirkel. Nimm dich bitte zusammen. Ich wiederhole es noch einmal für dich, lass den Zirkel Zirkel sein!“, Ceren klang bestimmend wie immer und Zed seufzte. Innerlich hoffte er auf einen Fehlalarm von Jona, dann blieb immer noch eine interessante Jagd auf die Bluthunde. Misstrauisch folgte er ihnen mit den Augen. Die Vampire unterhielten sich kurz, dann begaben sie sich zum Ausgang und verschwanden, geschützt durch den geöffneten Schirm des Chauffeurs, im Dunkel des Wagens. Ihr Gepäck war leicht, also wollten sie nicht lange bleiben, was ihn milde stimmte. Als der dunkle Wagen abfuhr, wandte er sich wieder der Halle zu. Sein Kopf fuhr herum als seine Sinne ihm eine Unregelmäßigkeit meldeten. Für einen Moment hatte er ein leichtes Kribbeln verspürt. Er schaute sich um und nahm die Witterung auf. Wieder fühlte er ein unbestimmtes Ziehen in seinen Nervenenden, allerdings nur schwach und aus anderer Richtung. Menschen bewegten sich nicht so schnell. Er sog die Luft ein und keuchte. Warum konnten Menschen nicht die halbe Dosis Parfüm benutzen und das billige Aftershave in den Regalen stehen lassen? Die Richtung, aus der seine Nerven dieses Gefühl wahrnahmen, war unbeständig. Mal schien es in der Nähe der Gepäckausgabe zu sein, dann kam es wieder eindeutig vom Ausgang. Es wechselt seine Position, hatte Jona gesagt. Vielleicht musste er sich auf andere Sinne verlassen. Wieder ließ ein ausgeprägtes Kribbeln in seinem Nacken ihn herumfahren. Normalerweise trat es nur dann so stark auf, wenn ein anderer Protektor anwesend und ihm nahe war. Hatte Ceren ohne ihn zu informieren noch jemanden geschickt?

„Jona, wer ist noch hier?“ Das Kribbeln verschwand wieder, aber es war deutlich da gewesen. Er wendete seinen Kopf suchend in verschiedene Richtungen.

Nur du, Zed!“, antwortete Jona aus dem Kollektiv.

Vielleicht war der Neuankömmling in seiner Entwicklung weiter, als er vermutet hatte und löste darum diese Reaktion aus. Ausschlussprinzip anwenden, knurrte Zed, um sich wieder seinem eigentlichen Ziel zuzuwenden und versuchte erneut, den Springer zu erfassen. Menschen hetzten an ihm vorbei und er begann die Passagiere auszusortieren, die einem einfachen Schema folgten. Das Verhalten des Neuen würde sich von einem normalen Menschen unterscheiden. Ein Teil der Sinne musste bereits sensibilisiert sein, soweit er Jona und seinen eigenen Eindrücken trauen konnte. Vielleicht würde er nervös wirken, das Licht ihn blenden oder sein Verhalten war auffällig schreckhaft. Schließlich blieb nur ein Passagier übrig. Dunkles Haar, das unter einer Baseballmütze über die Schultern fiel. Ab und an zuckte die Gestalt zusammen, wenn eine Durchsage erfolgte. Er änderte die Position und bahnte sich seinen Weg dem Menschenstrom entgegen. Gerade erreichte er die Tür, da verschwand die Baseballkappe in einem Taxi. Verdammter Mist, fluchend wandte er sich in Richtung Parkplatz und überquerte ihn. Noch im Laufen suchte er sein Headset aus der Tasche. Hier ging es um Taxis, eine menschliche Angelegenheit und menschliche Angelegenheiten klärte man am besten auch durch Menschen. Wozu unterhielt er sonst Beziehungen zu staatlichen Stellen? Ohne den Blick abzuwenden, nahm er mit dem Handy Kontakt zu einem befreundeten FBI-Agenten auf.

„Hal, ich brauche Position und Richtung des Taxis mit der folgenden Nummer ...“, er hasste es, sich in den Verkehr einzufädeln, das Fahren kostete ihn einen Teil der Konzentration, die er benötigte, um sein Ziel wiederzufinden. „Komm schon Hal, ich brauche eine Adresse, eine Richtung, irgendwas!“ Er atmete erleichtert aus, als er endlich wieder sein Ziel sah. Während er in angemessenem Abstand folgte, hatte er Zeit, die Sache zu beobachten und sich einen Plan auszuarbeiten. Seine Aufgabe der nächsten Zeit bestand nur darin, abzuwarten und zu verhindern, dass irgendjemand auf die Idee kam, sich diesem zerbrechlichen Menschen zu nähern und ihn auf seine Seite zu ziehen. Zwar war es nicht verboten, würde aber die Sache zunichtemachen. Die letzten Anwärter waren bereits ausgefallen. Verschenkte Jahrzehnte des Aufbaus und jedes Mal hatten sie wieder von vorn beginnen müssen. Außerdem war er nicht sonderlich gut in Sachen Konversation und dem Umgang mit Menschen. Ihre Ziele veränderten sich rasch und ihr Verhalten war unlogisch. Häufig waren ihre Reaktionen schwerer einzuschätzen, als die eines wütenden Vampirs. Zumeist lief es aber auf die gleichen und gewöhnlichen Schemas heraus und hatte etwas Ermüdendes.

Weiblich oder männlich?“, meldete sich Jona wieder.

„Keine Ahnung, heute haben doch alle lange Haare“, knurrte er zurück, „aber sei dir sicher, wenn es eine Frau ist, dann bleibe ich auf absolut sicherem Abstand. Das tue ich mir nicht an, am Ende stundenlang in Schuhgeschäften herumzulungern, nur damit ihr nichts passiert – vergiss es!“ Das Taxi verließ die Stadt und fuhr in Richtung Süden. Es dauerte eine Weile, dann fuhr es in eine Siedlung und bog in eine Seitenstraße ab. Er verlangsamte seinen Wagen und konnte sehen, dass es vor eine Zufahrt fuhr, die sich in der Nähe eines Waldstücks befand. Unauffällig parkte er den Wagen und stieg aus. Es war eine ruhige Wohngegend in einer behaglichen kleinen Stadt. Er fragte sich, ob sein Ziel, wie er es nannte, hier jemandem einen Besuch abstattete und was die Gründe des Herkommens sein mochten. Sein Blick wanderte über das Namensschild am Briefkasten. Als das Taxi wieder auf die Straße fuhr, befand sich kein Fahrgast mehr darin. Also war sein Ziel geblieben. Er würde später wiederkommen und es genauer unter die Lupe nehmen. Zuerst brauchte er eine Basis, die seinen Anforderungen entsprach.

Die Sonne warf bereits lange Schatten, als er ein Motel fand, das für seine Zwecke günstig lag. Er konnte ungesehen sein Zimmer verlassen, um durch den Wald hinunter zum Gelände gelangen, wo sich das Haus befinden musste. In Ruhe bereitete er alles vor. Ein kleiner Rucksack, um einen Satz Kleidung unterzubringen, sollte für den Notfall genügen. Es blieb ausreichend Zeit, um sich bei einem Kaffee alle notwendigen Informationen über das Netz zu ziehen. Jetzt wo sie den Flug und die Aufenthaltsadresse hatten, war es mit Sicherheit ein Leichtes gewesen, sein Ziel genauer zu identifizieren. In Augenblicken wie diesem war das Internet ein Segen. Menschen liebten es, alles Mögliche online zu tun, was Spuren hinterließ, die man verfolgen konnte. Mit Sicherheit bildete sein Ziel in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Zed lehnte sich zurück als der Bildschirm aufflackerte und ihn in gewohnter Manier begrüßte. Kurze Zeit später flimmerten die Bilder eines fremden Lebens an ihm vorüber. Sein Ziel war also weiblich, irgendwie hatte er so etwas bereits befürchtet. Während er an seinem Kaffee nippte, prägte er sich Namen, Orte und Geschehnisse ihres Lebens ein. Nichts Auffälliges trat zutage, keine Besonderheiten, die einen Wechsel verkomplizieren würden. In gewisser Weise war sein Ziel sogar zu unauffällig. Ein stiller Alarm löste sich in ihm aus. Es gab keine besondere Krankengeschichte; sie spendete regelmäßig Blut und hatte die Blutgruppe AB negativ, keine Knochenbrüche in der Vergangenheit und keine sonstigen Einlieferungen in Krankenhäuser. Wahrscheinlich tauchte sie in keiner der üblichen Statistiken auf. Sie wies seine Vorstrafen auf und selbst an Demonstrationen hatte sie nie teilgenommen. Er wechselte zu ihren Verwandtschaftsverhältnissen. Die Familie war klein. Einen Bruder gab es, den sie nicht sehr oft traf und eine Mutter, die in Europa lebte. Es vereinfachte die Sache deutlich. Der Vater hatte die Familie verlassen, als sie zwei Jahre alt war, ihre Mutter hatte kurz danach die Scheidung eingereicht. Jona hatte einen Stammbaum aus den offiziellen Quellen zusammengestellt. Alles Menschen ohne besondere Vergangenheit und Positionen im öffentlichen Leben. Er blätterte den Stammbaum durch und nahm Stichproben aus den Einwohnerregistern. Er fand bei ihr keine Auffälligkeiten, keine ausgeprägten Interessen; sie verfügte über ein logisches Denkmuster und naturwissenschaftliche Begabung. Die Bücher, die sie im Internet bestellte, waren Massenware und es gab keine Hinweise auf besondere Verbindungen. Der perfekte Protektor – keine starken Bande zu Menschen oder Orten, kein Freundeskreis, der nach ihr suchen würde. Alles war innerhalb eines überschaubaren Rahmens. Er stöberte weiter durch das fremde Leben, suchte nach Hinweisen auf besondere Talente, doch nichts fand sich. Ab und an tauchten Verbindungen zum Motorsport auf, aber ihr Name erschien in keiner Zeitung, vermutlich hatte sie nur hinter den Kulissen damit zu tun. Das einzig Herausragende an ihr war der Abschluss zweier Studiengänge in relativ kurzer Zeit. Er überlegte, was sich hinter dem Begriff Mechatronik verbarg und bemühte das Internet. Die Informationen, die er erhielt, vermittelten ihm eine vage Vorstellung. Mit der anderen Studienrichtung konnte er mehr anfangen. Informatik war etwas Handfestes. Allerdings erschloss sich ihm nicht ganz, wie jemand so etwas als interessant bezeichnen konnte. Zed blickte auf den Bildschirm und zog sich erneut ein paar Bilder aus den Dateien. Jeder Mensch hatte dunkle Flecken in seinem Leben, doch hier ging alles in eine diffuse Grautönung über. Sie würde durch jedes normale Suchraster fallen, nirgends auftauchen, wenn man nach etwas Bestimmten forschte. Mehr und mehr drängte sich ihm der Eindruck auf, dass jemand darauf Wert legte, sie zu verbergen und einer Suche zu entziehen. Er klappte den Laptop zu und lehnte sich auf dem Bett zurück. Stück für Stück ging er noch einmal die Geschehnisse am Flughafen durch. Er selbst war ein recht guter Fährtenleser und spürte die Gegner rasch auf. Aber seine Gabe war dort nicht hilfreich gewesen. Sie hätten Jona oder Ceren schicken sollen. Jeder von ihnen wäre effektiver beim Aufspüren gewesen. Es war seltsam, als hätte etwas oder jemand sie vor dem Protektorat schützen wollen. Hinzu kam das irritierende Ziehen seiner Nerven. Er war sich sicher, dass ein Protektor im Flughafen gewesen war und sie war mit Sicherheit noch lange nicht so weit, dass sie es in der Stärke auslösen konnte. Jona hatte bereits massive Probleme gehabt, sie vor und in Boston zu erfassen. Zed strich sich durch das kurze Haar und klappte den Laptop wieder auf. Es gab nur wenige Erklärungen für all das. Die Wahrscheinlichste war, dass jemand seine Finger im Spiel hatte und er war sich sicher, dass dieser Jemand auf der nicht menschlichen Seite zu finden war. Jemand gab sich sehr viel Mühe, sie nach außen unscheinbar wirken zu lassen. Eine staatliche Institution kam nicht infrage. Selbst bei der Durchsicht ihrer Telefonlisten fanden sich keine Hinweise auf derartige Verbindungen. Ihr Name war auch auf keiner Gehaltsliste vermerkt. Wenn sie aber ein blinder Fleck für die menschlichen Behörden war, war das noch keine Erklärung dafür, dass sie sich auch ungesehen in seinem System bewegte. Dafür gab es eigentlich nur eine Erklärung, und die hieß: Mischling. Unmöglich, er verwarf den Gedanken. Einen Mischling hätte Jona nicht in dieser eindeutigen Form erfasst, er wäre nicht mit erwachenden Fähigkeiten erschienen. Entweder sie hatten Talente oder keine. Eine Umwandlung war ausgeschlossen, wenn der Anteil an unsterblichem Blut zu hoch war. Es würde höchstens ihr Leben verlängern. Vielleicht auf 110 oder 115 Jahre, doch darüber hinaus waren keine Nebenwirkungen bekannt. Ein Instinkt riet ihm, nach besonderer Langlebigkeit im Stammbaum zu suchen, aber alle Verwandten und Vorfahren waren innerhalb üblicher Zeiträume verschieden. Keine Spur, die darauf hindeutete, dass Unsterbliche involviert waren. Alles in allem einfach der perfekte Durchschnitt und genau das erschien ihm zu glatt. Zed kamen wieder die Vampire in den Sinn, die mit der gleichen Maschine wie sie angekommen waren. Vielleicht nur ein Zufall, aber so langsam häuften sich die Zufälle zu einer Menge, die bereits nicht mehr an Zufälle glauben ließ. Er versuchte die Puzzleteile zusammenzufügen, aber nichts ergab einen Sinn. Grübelnd betrachtete er das Gesicht, das ihn vom Bildschirm anlächelte. Die Augen waren graublau, aber wirkten dunkel. Die Haut war zu blass für jemanden, der an der Ostküste wohnte und dessen Ursprünge in Europa lagen. Keine Sommersprossen. Das Lächeln auf den feingemeißelten Lippen, die vielleicht etwas zu schmal waren, um als voll zu gelten, erreichten die Augen nicht, es umspielte lediglich die Mundwinkel. So als wollte sie dem Betrachter mitteilen, dass er Antworten, die er suchte, hier nicht finden würde. Die Augen waren nicht in die Kamera gerichtet, vielmehr schien es, als blickten sie auf etwas, was dahinter lag. Der Fotograf hatte lausige Arbeit geleistet, das Scheinwerferlicht spiegelte sich nicht in den Pupillen. Vermutlich war das Bild retuschiert worden. Ich frage mich, wohin du blickst und was du siehst, Zed sinnierte ein wenig und ließ seine Gedanken treiben bevor er weiterblätterte. Mit einem Anflug von Langeweile ging er die Dateien durch, bis er stockte und wieder auf das Passfoto zurückblätterte. Er hatte es für einen Retuschierfehler gehalten. Immer wieder ging er die Fotos durch, nirgends fand er Lichtquellen, die sich in den Augen spiegelten. Es war keine Lampe oder Blitzlicht zu sehen, selbst wenn jemand neben ihr stand. Er schob das Bauchgefühl, das sich vehement meldete, beiseite. Die Bilder waren bearbeitet worden und jemand hatte dies auf erbärmliche Weise geleistet. Die Frage war, warum und mit welchem Zweck. Damit würde er sich später beschäftigen.

Vor dem Fenster wies ein Kauz darauf hin, dass es bereits Nacht war und er blickte auf. Es war Zeit für ihn zu gehen und den Ankömmling genauer zu betrachten. Er hängte den Rucksack über seine Schultern und öffnete das Fenster. Die Luft war klar und roch nach der Wärme des vergangenen Tages. Rasch kletterte er am Baum hinunter und bewegte sich in den angrenzenden Wald. Er atmete tief durch, als der Schatten der Bäume ihn umgab und er nicht mehr darauf achten musste, wie schnell er sich bewegte oder dass ihn Menschen beobachten konnten. Er ließ die Luft zischend aus seinen Lungen gleiten. Es fühlte sich besser an. Viel besser. Genussvoll streckte er den Nacken und lies seine Rüstung über den Körper fahren. Nach all den Jahren war dies hier natürlicher als das Tragen von Oberhemden und Anzügen. Sorgfältig verstaute er die Sonnenbrille. Seine Augen bemerkten keinen Unterschied zum Tageslicht und was er übersah, wurde ihm durch die Gerüche in der Luft zugetragen. Noch einmal blickte er zum Motel zurück und seine Lippen pressten sich zusammen, wenn er daran dachte, was vor ihm lag. Es kam nicht jeden Tag vor, sich einen neuen oder präziser gesagt, einen angehenden Protektor genauer anzuschauen.

Zeds Schritte hinterließen keine Spuren und der Wald, wenn er es könnte, erahnte ihn mehr, als ihn deutlich wahrzunehmen. Innerhalb kurzer Zeit überwand er die Entfernung und sah vor sich die Lichter eines kleinen Blockhauses. Er sprang auf einen Felsen und versuchte, die Umgebung einzuschätzen. Übernatürliches befand sich heute Nacht nicht an diesem Ort. „Safe Zone“, wisperte er in Gedanken und übermittelte die Bilder dem Kollektiv. Aufmerksam bewegte er sich den Hügel abwärts. Er suchte nach diesen neumodischen Bewegungsdetektoren, die wohl der letzte Schrei unter Hobbygärtner waren. Ungern erinnerte er sich an den Moment, als sie ihn das erste Mal überrascht hatten und er vor Schreck einen vier Meter hohen Baum hochgesprungen war. Ja, selbst das Protektorat war gezwungen, mit der Zeit zu gehen. Ob es wollte oder nicht. Vorsichtig sondierte er das Gelände. Die Türen und Fenster des Untergeschosses waren verschlossen. Aber im ersten Stock war ein Dachfenster geöffnet und Licht drang nach draußen. Er schlich im Schatten der Häuserfront entlang und suchte einen Weg, um in das obere Stockwerk zu blicken. Ein alter Schuppen erwies sich für diesen Zweck als geeignet. Geräuschlos kletterte er die Pfosten hinauf auf das flache Holzdach. Zed hatte vermutet, dass sie las oder telefonierte. Aber nichts davon traf zu. Erstaunt hob er die Augenbraue. Sie arbeitete noch. Er betrachtete den Innenraum und sah, dass ein aufgeschlagenes Buch neben dem Laptop lag, auf dem Bildschirm flackerte die Seite einer Suchmaschine. Also suchte sie etwas. Er nahm eine entspannte Hockhaltung ein, die es ihm ermöglichte, das umliegende Gebiet zu überwachen und begann sich auf eine lange Nacht einzurichten. Da sie beschäftigt war, hatte er alle Zeit der Welt, die er brauchte, um sein Ziel genauer zu betrachten.

Sie war zu schlank für ihre Größe, was sie zerbrechlich wirken ließ. Vielleicht Anhängerin dieser seltsamen Size Zero, von der man überall las. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten und sie war unruhig. Manche ihrer Bewegungen wirkten fahrig und ungeduldig. War sie krank gewesen? Sie hatte ihr dunkles Haar zu einem unordentlichen Zopf zusammengebunden, ab und an löste sich eine Haarsträhne und fiel ihr ins Gesicht. Mit gedankenverlorenen Bewegungen strich sie diese hinter das Ohr, während sie auf einem Kugelschreiber herumkaute. Von einem entspannten Urlauber hatte Zed eine andere Vorstellung. Das Bild, das sich ihm bot, war eher mit einer gehetzten Persönlichkeit zu vereinbaren. Mit jemandem, der auf der Flucht war. Immer wieder blieb sie für Minuten regungslos sitzen, dann änderte sie innerhalb kürzester Zeit ihre Sitzposition gleich sechs, sieben Mal. Es war eine Weile vergangen, als ihre Körperhaltung verriet, dass sie auf etwas gestoßen war, was ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte. Unwillkürlich schaute er auf den Bildschirm, doch alles was er sah, waren Kurven. Da der Anblick für ihn uninteressant war, musterte er erneut die Frau. Sie fixierte den Bildschirm wie ein Jäger seine Beute und scrollte immer wieder auf und ab. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie ein unablässiges Mantra vor sich hin flüstern, doch er konnte nichts hören. Irgendwann zogen sich ihre Augenbrauen zusammen und er musste unwillkürlich grinsen, als sie die Nase bewegte, weil etwas, das sie gerade sah, nicht ihren Vorstellungen entsprach. Menschen konnten erstaunlich sein. Er wandte sich wieder dem Zimmer zu und prägte sich die Einzelheiten ein. Die Details konnten zu einem anderen Zeitpunkt hilfreich sein. In den frühen Morgenstunden schaltete sie endlich den Computer aus und stand vom Tisch auf. Ihre Finger strichen durch das Haar und ihr Blick fiel auf etwas, das er nicht sehen konnte, aber es veränderte ihre Stimmung schlagartig. Die Gesichtszüge wurden ernst. Traurigkeit ging von ihr aus und war körperlich spürbar. Sie griff nach einem Papier oder Foto, zerknüllte es mit einer raschen Bewegung und warf es gegen die Wand. Als sie sich ruckartig dem Balkonfenster zuwandte, zog Zed sich instinktiv weiter in die Schatten zurück. Eine Weile stand sie so unbeweglich da, dass er schon die Befürchtung hatte, sie würde sich vielleicht nie wieder bewegen. Ihre Schultern und ihr langsamer Atem verrieten ihm jedoch, dass sie noch immer lebte. Als sie wieder in den Raum zurückkehrte und das Licht löschte, atmete er auf. Nach einer Weile war ein leises Weinen zu hören, doch sie schien zu schlafen und er fragte sich, welcher Albtraum oder welche Erinnerung sie begleitete.

Während der nächsten Tage veränderten sich ihre Verhaltensmuster wenig.

Morgens begann sie ihren Tag früh mit Laufen, anschließend trank sie mehrere Becher Kaffee. Essen sah er sie nur höchst selten. Es war, als wolle sie ihren Körper an der Grenze halten, wo er gerade noch funktionierte. Den Rest des Tages saß sie häufig auf der Terrasse, las Unmengen von Büchern oder stöberte durch das Internet. Manchmal stand sie auf und rieb sich den Nacken, als wolle sie so die Lösung erzwingen, an der sie arbeitete. Jeden zweiten Tag wanderte sie in die kleine Stadt zu einer Garage und unterhielt sich mit dem Mechaniker. Der Mann führte die Werkstatt seit 25 Jahren und reparierte überwiegend Traktoren oder Trucks. Was sie dort wollte war ihm schleierhaft. Gewöhnlich saßen sie vor der Garage in der Sonne und unterhielten sich. Da von diesen Momenten keine Gefahr auszugehen schien, nutzte Zed die Stunden, um in sein Motel zurückzukehren, zu duschen oder die Umgebung zu erkunden. Störend wirkte sich allein das unangenehme Gefühl aus, das seine immer wieder vibrierenden Nervenenden verbreiteten, als befände sich ein anderer Protektor in seiner Nähe. Es löste in ihm den Drang aus, sich genauer umzuschauen. Die wenigen Male, an denen er dem Drang nachgegeben hatte, waren ergebnislos verlaufen. Jona und Ceren bestätigten ebenfalls, dass niemand außer ihm in der Nähe war. Aber was immer sie sagten, er beobachtete das Auftreten dieses Phänomens äußerst misstrauisch und suchte immer wieder erfolglos den Waldrand ab. Gleichzeitig nahm die Länge seiner Berichte an das Kollektiv mit jeder Woche weiter ab. Es geschah nichts, das einen ausführlichen Report erforderte. Manchmal wünschte er sich, einen Telepathen dabeizuhaben. Vielleicht hätte er dann einige Dinge besser verstehen können. Zum Beispiel, was sie so angestrengt im Internet suchte oder warum sie manchmal einfach nur dasaß und ins Leere starrte. Für einen Menschen war ihr Verhaltensmuster eher untypisch, es entsprach nicht dem ihm bekannten Schema. Doch im Augenblick konnte er nur warten und beobachten. Er hatte Ceren gefragt, ob er nicht vorbeikommen wollte, allein schon aus dem Grund, damit es nicht mehr so langweilig war. Doch der Leiter ihrer Gemeinschaft war fest in Rom eingebunden. Somit war es an ihm selbst, die Zeit mittels Tageszeitungen, Vogelbeobachtungen und dem Zitieren von Theaterstücken zu überbrücken. Die Nachforschungen darüber, was die Mitglieder des Inneren Zirkels in Seattle wollten, führten ins Nichts. Im Großen und Ganzen war die Angelegenheit frustrierend und er fühlte sich zunehmend auf eine Strafexpedition versetzt. Wenn es zu einer Umwandlung kam, war es egal, ob er dabei war oder nicht. Gut, sie wollten diesmal sichergehen. Dennoch erschien ihm der Aufwand übertrieben. Die ersten Wochen waren vorüber und seine Aufgabe wurde immer langweiliger. Zwar begann er sich damit abzufinden, aber es veränderte die Gesamtsituation nicht.

In der Nacht bezog er seinen Posten in einer Fichte vor ihrem Wohnzimmer oder auf dem Dach des Unterstandes. Dann griffen seine Gedanken hinaus ins Kollektiv, um den anderen zu lauschen und Abwechslung in die Eintönigkeit zu bringen. Mehr als einmal fragte er sich, wie es möglich war, dass jemand so viel im Internet unterwegs sein konnte. Allerdings erklärte sich dadurch ihre helle Haut. Wie sollte sich ihr Teint je an die Sonne gewöhnen, wenn sie sich dauernd mit Computern beschäftigte?

Es war einer der gewöhnlichen Abende, als er sich streckte und sie durch das Fenster beobachtete. Durch das bleiche Licht des Bildschirmes erinnerte sie ihn an einen Vampir. Helle, durchscheinende Haut und graue Augen, die im Gesicht übergroß wirkten. Ihr Blick war unruhig, was er auf den Schlafmangel schob. Vier bis fünf Stunden täglich erschienen ihm zu kurz für einen Menschen. Wenn sie so weitermachte, würde sie früher oder später zusammenbrechen. Er beobachtete sie weiter. Ihre Wangenknochen waren hoch, vermutlich slawische Gene. In Gedanken ging er ihre Vorfahren durch. Dieser Mensch hatte sich aus jeder Generation etwas herausgesucht. Lass mich raten, du bist der Typ, der durch die Menschenmenge geht, ohne sie zu sehen. Er prüfte die Entfernung und nahm sich vor, später den kleinen Balkon im ersten Stock zu nutzen, um sich, nur der Form halber, im Inneren des Hauses umzusehen. Auch wenn er überzeugt war, dass es vollkommen uninteressant sein würde. Schließlich handelte es sich nicht um eine Jagd, sondern nur um einen Beobachtungsjob, der vermutlich damit enden würde, dass er einfach wieder verschwand, nachdem nichts geschehen war. Weitere Stunden verstrichen und sie schien sich immer noch zu weigern, müde zu werden. Er ging ein paar Schritte auf dem flachen Dach hin und her, um seine Muskeln zu entspannen. Eines Tages passt du nicht auf und sie hält dich für einen Spanner, kommentierte er ironisch in seinen Gedanken. Klappe, ich bin der böse Babysitter, feixte er zu sich selbst zurück. Wenn er geglaubt hatte, seine bisherigen Aufträge hätten ihm Geduld und Disziplin gelehrt, so stellte dieser hier beides auf eine harte Probe.

Wieder vergingen Stunden und wurden zu Tagen. Mittlerweile waren seine Selbstgespräche während der Wache ebenso ein Bestandteil seines täglichen Rituals geworden, wie das Absuchen des Waldrandes, wenn sich wieder die eindeutigen Anzeichen der Anwesenheit eines Protektors bemerkbar machten. Am angenehmsten waren die Abende, wenn sie vor den Fernseher saß. Dann konnte er den Überstand verlassen und in einem Baum sitzen, von wo aus er einen guten Blick auf den Bildschirm hatte. Nach und nach fand er heraus, wie sie auf welches Programm reagierte. Nachrichten und Politik interessierten sie kaum, was er bedauerte. Im Gegenzug langweilte er sich zu Tode, wenn sie auf den Discovery Channel schaltete. Leider war ihr Interesse für Geschichte und Naturkatastrophen stark ausgeprägt. Dazwischen ließ sie Baseball laufen und verfolgte die Spiele, während sie sich nebenbei wieder durchs Internet klickte oder ein E-Book las. Im Stillen war er ihr für diese Abende dankbar. So bekam er zumindest mit, wie die Saison verlief. Was ihre Filmauswahl betraf, hielt er sie für verbesserungswürdig. Sie bevorzugte Actionfilme oder Science-Fiction. Er wagte sich nicht vorzustellen wie es wäre, wenn ihr Interesse romantischen Liebesfilmen oder Soap-Operas gegolten hätte. Um sich die Zeit zu verkürzen, ließ Zed ständig das Kollektiv im Hintergrund laufen. Ein Radio, das man anschaltete, wenn man die Wohnung betrat. Die warmen, die sanften, die neckenden und die klaren Stimmen gaben ihm das Gefühl, nicht vollkommen allein zu sein. Eine unlösbar miteinander verbundene Familie. Jade, die meiste Zeit in Vorderasien unterwegs, trieb ein paar Nachforschungen in Boston. Angeblich, um ihm einen Gefallen zu tun, aber er war sich sicher, sie wollte unauffällig einkaufen gehen. Sie gab sich als alte Schulfreundin aus, die Kiara wiedertreffen wollte. Nach allem, was sie bisher herausgefunden hatte, war die junge Frau der stille Typ, der sich zurückzog und selten auf Partys ging. Das Bild deckte sich mit dem Eindruck, den er bisher von ihr gewonnen hatte. Große Menschenmassen mied sie und irgendwie waren ihre Beziehungen zu anderen Menschen zögerlich und distanziert. Einer ihrer Liebhaber aus Boston nannte es auf Dauer bindungsunfähig. Vielleicht wusste sie, dass sie anders war, auch wenn diese Andersartigkeit noch nicht vollständig war und es fraglich blieb, ob sie es je werden würde. Eine weitere Eigenschaft, die häufiger erwähnte wurde, war ihr ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und rasches Erfassen von Stimmungen. Eine ehemalige Kollegin erwähnte, dass es durch den ganzen Raum zu spüren war, wenn sie sich traurig fühlte. Ceren hatte an dieser Stelle aufgehorcht und interessiert bemerkt: „Eine Empathin, wenn wir Glück haben.

Zed bezog diese Äußerung intensiv in seine Überlegungen ein. Es passte in das Schema seiner bisherigen Beobachtungen. Menschenmengen riefen bei Empathen unangenehme Empfindungen hervor, die auf sie einstürzenden Gefühle überforderten sie und es bedarf eines jahrelangen Trainings, um ein solches Talent vollständig zu kontrollieren. Dennoch, eine gute Erklärung für ihre zurückgezogene Lebensweise und das Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen. Gewöhnlich suchten sich empathisch Veranlagte Berufe in seelsorgerischen Bereichen, unbewusst setzten sie ihre Gabe dort überaus effektiv ein. Die meisten von ihnen wussten noch nicht einmal, welche besondere Begabung sie besaßen. Einige wenige zogen sich zurück und er hatte Forscher kennengelernt, die empathisch veranlagt waren und sich auf Stationen am Polarkreis fernab der Zivilisation am wohlsten fühlten. Vermutlich reagierten Menschen sehr unterschiedlich darauf. Jade berichtete weiter, dass sie, wann immer sich eine Beziehung bei ihr auflöste, innerhalb sehr kurzer Zeit aus der Stadt verschwand. So wie es aussah, war auch Seattle ein Zwangsumzug gewesen. Ihr letzter Freund wohnte noch immer in Boston, aber Jade hatte keine größere Lust, sich mit diesem Kapitel auseinanderzusetzen. Mit Jades Abreise aus Boston sank Zeds abendliches Unterhaltungsprogramm wieder auf die üblichen Gespräche und Beobachtungen.

Mittlerweile lebte er seit zwei Monaten mehr oder weniger mit ihr zusammen, nur dass sie nicht von ihm wusste. Er indessen prägte sich ihre kleinen Gewohnheiten ein, kannte die winzigen Grübchen, die sich bildeten, wenn sie lächelte und die Falte auf ihrer Stirn, wenn sie sich ärgerte. Den leeren Ausdruck in ihren Augen, wenn sie in Gedanken weit fort war und ihre Tränen, wenn sie nachts schlief. Den Geruch ihres Parfüms und den Duft ihres Apfelshampoos konnte er inzwischen bereits von Weitem zweifelsfrei erkennen und wenn das Kaffeearoma morgens aus den geöffneten Fenstern zu ihm drang, war er mehr als einmal versucht, einen Becher für sich zu entwenden. Allmählich begann alles diesen unwiderstehlichen Zauber von Normalität und Gewohnheit zu besitzen. Während sie las, ging er seinen Gedanken nach und fragte sich, wie es wohl gewesen war, inmitten der heilen menschlichen Welt der Gewöhnlichkeit, in der Monster nur eine lustige Idee waren und Dinge sich veränderten. Er schüttelte dann den Kopf, weil ihm bewusst wurde, dass er sie darum beneidete. Dieses Nichtwissen vermittelte trügerische Ruhe und Geborgenheit. Schließlich fasste er einen Entschluss.

Wenn sie das nächste Mal zur Werkstatt ging, hatte er genug Zeit, um sich in Ruhe im Haus umzusehen. Gewöhnlich blieb sie zwei bis drei Stunden und er hatte in der Nacht bereits die Balkontür präpariert. Sobald er sich sicher war, dass sie nicht mehr zurückkam, schlich er ins Innere des Hauses. Es roch nach Kaffee vom Morgen, Duschgel und den Rosen, die unten im Wohnzimmer standen. Auf dem Tisch neben ihrem Bett lag ein Buch mit Visitenkarten. Er blätterte es durch und fand darin Adressen und Karten von Firmen, die Automobilzubehör herstellten. Vorsichtig stieg er über herumliegende Zeitschriften hinweg und öffnete den Kleiderschrank. Gewöhnlich sagte die Kleidung von Menschen vieles über sie aus. Als er die Schranktüren öffnete, ließ ein unaufdringlicher, beinahe verflüchtigter Geruch ihn aufmerksam werden. Etwas roch hier süßlich und er kannte diesen Geruch nur zu gut. Sie musste in irgendeiner Form mit einem Vampir in Berührung gekommen sein, lange genug, dass ihre Kleidung den Geruch aufnehmen konnte. Prüfend ging er die Sachen durch und stieß dabei auf eine Jeansjacke, die sie häufiger trug, wenn sie zur Werkstatt ging. Zed fluchte, bisher hatte er sie dort sicher gewähnt, dieser Fund zeigte jedoch, dass er mit dieser Einschätzung falsch lag. Er beschloss, seinen Wagen bei nächster Gelegenheit dort vorbeizubringen, um sein Versäumnis nachzuholen und sich dort genauer umzuschauen. Während er durch das Haus ging, glaubte er, den Geruch noch ein paarmal wahrzunehmen, er war sich aber nicht sicher. Wenn es wirklich eine Witterung gab, dann war sie schon alt. So langsam aber sicher wurde die ganze Sache kompliziert und dadurch zunehmend zu einem Rund-um-die-Uhr-Job. Er schaute auf die Küchenuhr und stellte fest, dass es Zeit war, sich wieder zurückzuziehen. Gerade hatte er wieder seine Tagesposition in einer alten Fichte eingenommen, als ein Wagen die Auffahrt hinauffuhr. Ein neueres Modell mit dunklen Scheiben. Sie stieg aus, bedankte sich beim Fahrer und ging dann ins Haus. Der Wagen verharrte einen Moment, dann wendete er und fuhr langsam wieder auf die Straße. Sein erster Impuls war, sich nach unten zu begeben und eine Witterung aufzunehmen, doch es war noch hell und ihm fiel kein Vorwand ein, der ihm Zutritt verschaffen könnte. Manchmal hatte er diese Blutsauger so etwas von satt und sie gingen ihm einfach nur noch gewaltig auf die Nerven. Also wartete er wieder auf die Nacht und die Möglichkeit, erneut ins Haus zu gelangen. Sobald sie eingeschlafen war, betrat er ihr Zimmer und sein Verdacht bestätigte sich. Der Geruch eines Vampirs war diesmal eindeutig. Vielleicht war es nichts und sein Gefühl unbegründet, aber er wollte nicht mehr an Zufälle glauben. Dafür gab es zu viele Ungereimtheiten an den verschiedensten Stellen. Für einen Augenblick erwog er, dass ein Vampir der Grund gewesen war, warum sie Boston verlassen hatte, eventuell eine unglückliche und unerwiderte Liebe. Solche Dinge waren typisch für Vampire. Schlecht gelaunt ging er an diesem Morgen in sein Motel zurück. Solche Entwicklungen, die er noch nicht fassen und einordnen konnte, gefielen ihm ganz und gar nicht.

Der Himmel war verhangen als er aus der Dusche trat. Nachdenklich wischte er über den beschlagenen Spiegel und betrachtete sein Gesicht. Seine Augen wurden immer heller, er musste bald wieder jagen. Langsam ließ er die Rüstung über sein Gesicht gleiten. Fast undurchdringliches Metall, ein perfekter Schutz. Seine Augen gingen in das pupillenlose verzerrte Abbild eines Auges über. Pupillenlos, weiß umrahmt von bronzefarbenem, grün changierendem Metall. Das war nicht das Gesicht eines Engels, es war die Maske eines Wesens, das aus den Tiefen kam. Das tötete und beschützte. Das unerkannt zwischen den Menschen lebte. Während Vampire in Filmen zu Helden wurden und Werwölfe zu Herzensbrechern mutierten, was wurde da aus ihm? Eine versteckte Legende, die es nicht geben konnte. Noch nicht einmal von den Menschen gehasst, weil sie nichts von ihnen wussten. Er seufzte, aus den beiden Blutlinien geboren, verbunden mit der Welt der Lebenden und der Nichttoten. Stände er in fünfzig Jahren wieder vor diesem Spiegel, er würde den gleichen Blick sehen, das gleiche faltenlose Gesicht. Die Zeit hatte sie vergessen. Er ließ die Rüstung wieder zurückgleiten und beeilte sich mit dem Anziehen. Seit etwa einer Woche hatte er sich angewöhnt, ein Stück mit ihr gemeinsam zu laufen, um der Eintönigkeit seiner Wache ein wenig zu entkommen. Sollte die Umwandlung erfolgen, war es unerheblich, dass sie ihn kannte. Wenn nicht, würde er einfach wieder verschwinden. Ein Fremder, der einen Lebensweg für eine Weile kreuzte. Vollkommen unverfänglich. Ein Blick auf seine Armbanduhr informierte ihn, dass sie bald mit dem Joggen beginnen würde, also war es an der Zeit, eine Runde Laufen zu gehen. Gewöhnlich begleitete er sie ein Stück. Mit zunehmender Häufigkeit lag ihm auf den Lippen, sie zu fragen, ob sie nicht einmal mit ihm essen gehen wollte. Ein unverfängliches Gespräch zwischen zwei Sportlern. Bisher hatte er davon abgesehen. Er wollte nicht aufdringlich sein, er durfte nicht eingreifen, nicht beeinflussen. Mit lockerem Gang schlenderte er die Treppe hinunter und machte sich auf den Weg. Er wusste an welcher Kreuzung er warten musste, um dann hinter der Kurve einzubiegen. Wie die letzten Male würde er ihr still zunicken, dem Weg eine Weile folgen, mit ihr gleichmäßigen Schritt halten und dann mit einem Nicken wieder abbiegen. Danach würde er sich parallel zu ihr, den Rest des Weges sie beobachtend, bewegen.

Im Verlauf des Morgens hatte sich der Himmel weiter zugezogen, missmutig warf Zed einen Blick nach oben. Vermutlich würde es früher oder später regnen und dann mit etwas Pech gleich für den ganzen Rest der Woche. Er entließ einen leisen Fluch zwischen seinen Zähnen; die Folge würden lange, nasse Nächte sein. Demotiviert erreichte er die Kreuzung für den morgendlichen Lauf und sah sie bereits den Waldweg heraufkommen. Sie wirkte unausgeruht. Kritisch registrierte er die dunklen Schatten unter ihren Augen, gesunde Menschen wirkten anders. Ihr Blick flackerte, als sie ihn erkannte und sie lächelte verhalten, als er ihr zunickte. Zed atmete innerlich durch, es war alles vollkommen unaufdringlich, erlaubte ihm aber für einen Teil des Tages nicht mehr nur reiner Beobachter zu sein.

Auf der Hälfte ihrer gemeinsamen Strecke veränderte sich ihr Lauftempo und sie sank in die Hocke. Ihr Atem ging stoßweise und ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz, zumindest vermutete er, dass es sich um Schmerz handelte. Seine Sinne suchten nach einer Ursache. Hatten sie vielleicht eine Krankheit übersehen? Er ging mit fragendem Blick ein Stück auf sie zu.

 

 

 

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