Lehnen: wiederkehren

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wiederkehren hat viele Gesichter

“wiederkehren” meint die Rückkehr eines Kriegsgefangenen aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft ; „wiederkehren“ meint die allmähliche Erinnerung eines Schwerverwundeten an seine Jugend im Nazideutschland ; „wiederkehren“ meint die Rückkehr einer Jüdin in die Umwelt, in der sie aufgewachsen ist ; „wiederkehren“ meint die Konstituenten gesellschaftlichen und politischen Handelns, die immer aktuell sind ; „wiederkehren“ meint auch den Schmutz, den man meint beseitigt zu haben und der immer wieder zurückkehrt. „wiederkehren“ ist das Thema des vorliegenden Romans, das der sehr alte Autor in der Rückschau (Präteritum) mit Distanz und Ironie bearbeitet, um erlebte Wirklichkeit konkret zu erfassen und sie abstrakt-mythologischer Daseinsbeschreibung zu entkleiden.

 

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Helmut Lehnen, Jahrgang 1925, war Studienseminarleiter für das Lehramt in Düsseldorf und ist Autor: Arbeitsbuch Literatur (Schwann Verlag), Seminar- und Begleittexte zu den Theateraufführungen der Ruhrfestspiele Recklinghausen, Mitarbeiter im "jungen forum", Ruhrfestspiele Recklinghausen sowie Texte zur Didaktik und Methodik als Mitarbeiter am Pädagogischen Institut Düsseldorf.

 

Helmut Lehnen: wiederkehren, ca. 258 Seiten, Broschur, € 14,98, ISBN 978-3-86992-038-2

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Leseprobe:

 

1. Teil

 

Rückläufige Vorfälle

 

„Home again! Wir sind da, Sunnyboy! Jetzt beginnt ein neues Leben. Mach was draus!“

„Mach ich!“, sagte der PW[1] hinten im Dodge.

Marec Holleck, Sergeant der US Army, steuerte, an Trümmern und Ruinen vorbei, einen kleinen Platz an, und als er die Sirene in Gang setzte, stoben Männer, Frauen und Kinder, die auf dem Markt des niederrheinischen Städtchens irgendwelchen Geschäften nachgegangen waren, in alle Richtungen auseinander.

„What´s the matter?” Holleck bremste scharf, der Dodge schlingerte auf glattem Boden, brach nach links aus und kam mitten auf dem Platz zum Stehen.

„Sirenengesänge sind nicht beliebt in dieser Gegend“, sagte der PW hinten im Dodge.

„Okay, let’s go“, sagte Holleck nach Amiart, wälzte sich vom Fahrersitz, streckte und dehnte sich und sah zu, wie der PW die Plane hochrollte, mit Schwung über die hintere Klappe flankte und der Länge nach auf den Boden stürzte.

„Jetzt musst du nur noch den Boden küssen“, spöttelte Holleck, „dann ist alles getan, was ein Heimkehrer tun muss.“

„Motherfucking sheet“, fluchte der PW in Pittsburghslang, „ist verdammt rutschig, dieser heimatliche Boden.“

Ein junger GI, dritter im Bunde des militärischen Kommandos, half ihm auf die Füße, sprang auf die Ladefläche des Dodge und hievte zwei prall gefüllte Seesäcke auf den Boden.

„Pay attention“, sagte Hollek, denn er wusste, dass in den Säcken die Schätze dreijähriger Kriegsgefangenschaft gehortet waren.

Dann setzten sich die Drei auf die warme Motorhaube des Dodge und verbreiteten die Duftwolken amerikanischen Tabakqualms.

Die rätselhafte Anziehungskraft des Aromas wirkte. In Dunst und Nebel schmolzen Elendsgestalten zu einer Krake zusammen, die ihre Beute nicht aus den Augen ließ, denn irgendwann würden die Amis ihre Kippen ausspucken. Als es so weit war, hatten nur die stärksten Arme eine Chance.

Holleck sah der Balgerei eine Weile zu, schlug sich auf die Oberschenkel und rief erneut „Let’s go! Leider muss ich dich jetzt aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, schweren Herzens“, sagte Holleck, legte seine Hände auf die Schultern des PW und zog ihn an seine Brust. Dann verlieh Holleck dem Zeremoniell einer Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft eine besondere Note. Er ließ die Sirene aufheulen, nahm Haltung an, ließ sich den Mantel des PW reichen, rieb mit auffälliger Gebärde das mit Zahnpasta aufgetragene „PW“ ab, dass es ordentlich staubte, kniete nieder, vollzog dasselbe an den Hosenbeinen des PW, salutierte und überreichte ein Papierbündel von Mann zu Mann. Dann lagen sich zwei Amis und ein Deutscher in den Armen und wussten nicht, ob sie lachen oder weinen sollten.

Den Zeugen dieses Auftritts gefiel das Spektakel und sie klatschten Beifall, als Holleck die Lili Marleen anstimmte. Holleck sang so herzzerreißend falsch, dass die Zuschauer bemüht waren, den Singsang in die rechte Bahn zu lenken und so gedieh die Entlassung eines deutschen Kriegsgefangenen aus amerikanischer Gefangenschaft zum öffentlichen Platzkonzert.

Besser hätte Holleck seinen Auftrag nicht erfüllen können, aber als ihm trotzdem die Tränen kamen, umarmte er den Entlassenen heftig, sprang in den Dodge, drehte ein paar waghalsige Kurven, gab dem GI Gelegenheit aufzuspringen und verschwand mit Sirenengeheul im Nebel.

„Holy Moses! Wollt ihr mich hier hängen lassen?“, rief der Entlassene hinterher und biss sich auf die Zunge, als er sich der Bedeutung des Hängenlassens in Zeiten moralischer Wiederaufrüstung bewusst wurde. Der Abschied verschleierte ihm den klaren Blick, der zur Wahrnehmung der Realität notwendig gewesen wäre. Auf seinem Seesack sitzend, wohlgenährt und winterfest in Amiklamotten gekleidet, fühlte er sich verlassen. Er verfiel in den Zustand, den amerikanische Ärzte als Psychotrip und Flucht vor der Verantwortung diagnostiziert hatten, weil sie bei ihm Verdrängtes vermuteten, das sie als „Großgepäck“ bezeichneten, Großgepäck, das er nicht hergeben wollte.

Mit Beschuldigungen musste er leben, seitdem er unter einem heißen Zeltdach in der Normandie, unter einem durchschimmernden Roten Kreuz, aus langem Koma erwacht war, als er die Augen öffnete und nicht ausmachen konnte, ob die Schmerzensschreie seine eigenen oder die der in Watte und Verbänden verschnürten Mumien neben ihm waren. Vorsichtig begann er seine Schmerzmale abzutasten, um zu erkunden, ob er an Leib und Gliedern Verluste zu beklagen habe. Als er nachgezählt hatte, ertrug er die Schmerzen geduldig, weil er sie als Botschafter einer intakten Körperlichkeit wahrnahm. Im Laufe eines langen Sommers vernarbten seine Wunden, die Schmerzen wichen einem nervösen Juckreiz und er begann zu kratzen. Unbarmherzig kratzte er an den Narben seines Körpers und seines Bewusstseins, denn die, die ihm die Granatsplitter herausoperiert hatten und ihn pflegten, wollten wissen, mit wem sie es zu tun hatten.

Wer bist du? Woher kommst du? Wohin willst du? Fragen, die ihm gestellt wurden und die er sich selber stellte. Aber er fand keine Antworten.

„Wir werden es herausbekommen! Wir haben dich aus einem Granattrichter in der Nähe von Bastogne geborgen, halbnackt, mitten im Winter, ohne Uniform, ohne Soldbuch, ohne Erkennungsmarke, ein halbnackter Schwerverwundeter ohne Identitätsnachweis, nur einen zerfetzten Feldpostbrief fanden wir in deinem Brustbeutel, mit Feldpostnummer, Namen und Absender. Sonst fanden wir nichts. Aber wir werden es herausbekommen, was du auf dem Kerbholz hast. Ein Nazityp aus dem Bilderbuch bist du, blond, blauäugig, verrückt und verbohrt; du schweigst, weil du was zu verschweigen hast. Sobald du wieder laufen kannst, stecken wir dich in das Hungerlager von Cherbourg, wenn du dann immer noch nicht redest, wirst du in Straflagern verschwinden, du wirst dann so lange Minen räumen, bis du redest.“

Dann kam Marec Holleck, ein blonder Riese, Aufseher in einem Straflager, geschickt von seinem Lagerkommandanten mit dem Auftrag, Ersatz zu schaffen für einen Minenräumer, der in die Luft geflogen war, Ersatz, um den es nicht schade wäre, wenn er das gleiche Schicksal erlitte.

Holleck wusste, dass das bis auf die Knochen abgemagerte Elendsbündel dazu ausersehen war, als er es am Tor des Cage 15 im Hungerlager von Cherbourg empfing. Holleck war betroffen, denn er hatte die Bilder aus Konzentrationslagern vor Augen und wollte sich nicht auch schuldig machen wie die Schergen, die seine Eltern zu Tode geprügelt hatten. Deshalb hob er das Elendsbündel – ohne lange nachzudenken und entgegen jeder Vorschrift – auf den Beifahrersitz seines Jeeps und fütterte es bis zur Ankunft im Straflager von St. Lô mit Schokolade, die er in mundgerechte Stücke zerbrach. Die Erinnerung an erfahrenes Unrecht und die Absicht, es besser machen zu wollen, weckten in dem tschechischen Beuteamerikaner den Vorsatz, das junge Elendsbündel neben ihm in seine Obhut zu nehmen und den jungen Kriegsgefangenen gegen Rachegefühle und Willkür zu schützen. Hinter Hollecks breitem Rücken lebte der Kriegsgefangene gefangen, aber befreit, belastet, aber geschützt – drei Jahre lang.

Jetzt saß er da auf Schutt und Trümmern inmitten von Ruinen, die kein Stadtbild ergaben, an das man sich hätte erinnern können, an einem Ort, der zertrümmert war wie sein Bewusstsein. Und sie kroch wieder hoch, die Angst, von unten nach oben in den Kopf, erweckt in Verhören amerikanischer Spurensucher, aber auch von eigenen Zweifeln, die Angst, an Taten beteiligt gewesen zu sein, die man ihm in Wort und Bild immer wieder vor Augen hielt.

Männerstimmen weckten ihn. „Please, a cigarette, a cigarette, please!“ Von einem zum anderen Augenblick stand er hellwach auf den Beinen und wehrte den Zugriff auf seine Seesäcke mit der Kraft eines Holzfällers ab. Die Bettelnden wichen zurück und dann stand er vor einer alten und einer jungen Frau. Er, der sich nicht erinnern konnte, je mit einer Frau geredet zu haben, er stand vor einer alten Frau und sah in ein junges Gesicht, in ein junges Frauengesicht mit heller Stimme.

Er hätte danach greifen können, wovon in den Zelten der Lager die Rede war, wenn abends in den Zelten die Lichter ausgingen. Augen, Lippen, Arme, Beine, Busen und Röcke der Frauen waren ihm greifbar nahe, Gesichter ihm zugewandt, ihm allein, wunderbare deutsche Frauen mit hellen Stimmen. Als sich seine Augen in den Augen der jungen Frau verfingen und sie ihm freundlich zulächelte, griff er – ohne sie aus den Augen zu lassen – in einen Seesack, kramte eine Packung Chesterfield heraus und hielt sie der jungen Frau entgegen; aber die junge Frau übersah das Angebot, weil auch sie ihn gebannt anstarrte. Die Alte jedoch griff schnell zu, warf einen Blick in den Seesack, bedankte sich überschwänglich für ihr kleines Glück.

Die Alte hatte die Situation blitzschnell erfasst und ihn als Hilfsbedürftigen erkannt. Dann tastete sie vorsichtig ab, ob seine Hilfsbedürftigkeit etwas einbringen könne. Er bedürfe dringend eines Schutzes, das sehe man ihm an; und da er offenbar von niemandem erwartet werde, sei er in ihrer Nähe gut aufgehoben, denn sie sei ein armes Weib und darum könne er sich bei ihr sicher fühlen vor habgierigem Gesindel, denn zu holen sei bei ihr nichts. Dann gab sie dem Entlassenen zu verstehen, dass er in seinen Seesäcken die härteste Währung der Nachkriegszeit herumschleppe und damit mancherlei Gefahr ausgesetzt sei in diesen Zeiten und in dieser Gegend, aber Raum sei bekanntlich in der kleinsten Hütte, Zudecken ließen sich auch noch finden und sie und ihre Pflegetochter würden gerne zusammenrücken gegen ein geringes Entgelt aus seinen Seesäcken und für Wärme sei auch gesorgt, nur zu essen hätten sie nichts.

Überrascht, immer noch an den Augen der jungen Frau hängend, gab der Entlassene der Alten eine Abfuhr. „Nein, nein“, sagte er, da wolle er doch lieber in einem Hotel übernachten als zwei Frauen zur Last zu fallen.

Die Alte war sprachlos, die junge Frau löste sich von seinen Augen und platzte mit hellem Lachen heraus. Was denn ein Hotel sei, fragte sie, und was er zu essen gedenke ohne Lebensmittelkarten und wo er sich wärmen wolle ohne Kohlen und wo er etwas kaufen wolle, wo es nicht zu kaufen gebe, und wo er unterkriechen wolle in diesen Ruinen und dass ihn die britische Militärpolizei hinter Schloss und Riegel verwahren werde, wenn sie ihn nach der Polizeistunde noch auf der Straße erwische; kurz und gut, er solle froh sein, an sie geraten zu sein, aber auch sie sei froh, denn sie habe schon lange nicht mehr einen jungen Mann getroffen, dem sie gerne in die Augen sehe.

Die Zutraulichkeit gefiel ihm, aber der Anspruch der Frauen ängstigte ihn zugleich und machte ihn noch hilfloser. Er begann zu faseln, suchte nach Argumenten, brachte leere Worte und falsche Begriffe ins Spiel, sprach von Erfahrungskategorien, die er nicht einbringen könne und zuletzt flüchtete er in Zitate klassischer Freiheitssänger, die ein Professor beim Hin- und Hergerenne im Cage 15 des Lagers Cherbourg im Kampf gegen den Hunger fortwährend zitiert hatte und die er nun seinerseits zitierte, um das soeben erlangte Gut der Freiheit zu verteidigen.

Die Frauen sahen ihn verständnislos an. Die Herrschaften, von denen er erzähle, seien ihnen nicht bekannt, aber ein gewisser Kobijolke habe in ihren Kreisen einen Namen, weil der über Güter freiheitlicher Zeiten verfüge, von denen man leben könne und die man kaum noch kenne, nämlich Butter, Eier und Speck.

Der Entlassene raffte sein Hab und Gut zusammen und setzte sich auf einen der Seesäcke, um anzudeuten, dass er die Nacht lieber anders verbringen und auf eine andere Lösung warten wolle. In diesem Augenblick war der Platz wie leer gefegt. Große und Kleine rannten wie um ihr Leben und verschwanden in Winkeln und Ecken. „Razzia“, schrie die Alte, stieß den Entlassenen vom Sack, packte die Schnüre und zog die Säcke hinter sich her, die junge Frau half ihr dabei und der junge Mann hatte Mühe, den Flüchtenden zu folgen. Die zogen die Säcke über Schutthalden, schleiften sie durch Löcher und Rinnen, hoben sie über Mauerreste und schleusten sie um Ecken und Winkel, bis die Alte auf ein Gebilde aus Wellblech wies, das sich vor dem Rheindamm wie ein Lindwurm duckte. „Da müssen wir hin“, rief die Alte, „in der Nissenhütte hausen wir.“

Was dem Fremdling im Bauch dieses Ungeheuers an Gerüchen, Lärm und Krawallen entgegenschlug, ließ eine Ansammlung von Kindern, Frauen und Männern auf engstem Raum vermuten, und als er durch eine Tür geschoben wurde, auf der mit Kreide und in Sütterlin der Name „Wulfen“ geschrieben stand, fragte er sich, wo in dieser Höhle ein Plätzchen für ihn herausspringen sollte.

„Unser Schatzkästlein“, sagte die junge Frau, zündete zwei Kerzen an und machte den Gast bekannt mit Luxusgütern, die deutschen Ostflüchtlingen von britischen Besatzern großzügig zur Verfügung gestellt worden waren. Dazu gehörten zwei Holzpritschen, links und rechts der Tür aufgestellt und den halben Raum besetzend, dazwischen ein Tisch und dahinter, an der gewölbten Wand, ein kleines Kanonenöfchen. Dann pries die junge Frau als besondere Errungenschaften das fließende Wasser draußen auf dem Flur und die Kanalisation, die in dieser Qualität andernorts noch nicht zu finden sei. Besonders lobte sie die Heizkraft des kleinen Öfchens, rauchfrei und mit sicherem Abzug und bedauerte, dass das elektrische Licht nicht funktioniere, weil mal wieder kein Strom in der Leitung sei.

Da der junge Mann befürchtete, der Inhalt seiner Säcke könnte bei der Schleiferei zu Schaden gekommen sein, förderte er einen Teil des Inhaltes zutage und versetzte die Frauen damit in Entzücken. „Die Packungen haben nicht nur den Transport von Amerika in die Normandie heil überstanden, nicht nur die Lagerung in frischer Meeresluft an den Sandstränden der französischen Küsten, nicht nur die Verstreuung auf Minenfeldern, zum guten Schluss haben sie auch noch die Schleiferei zweier Weiber schadlos überstanden“, stellte der Entlassene zufrieden fest.

Die Frauen trauten ihren Augen nicht, was da alles hervorgekramt worden war. Die Alte berechnete schnell den Wert der amerikanischen Konterbande und kam zu dem Ergebnis, dass sie einen wohlhabenden Gast geladen hatte und klagte, es sei doch schade, wenn solche Reichtümer nutzlos in der Nissenhütte herumlägen, in der es nichts zu essen gebe. Mit nur zwei Päckchen Tabak amerikanischer Qualität könne sie auf den Abend ein köstliches Freiheitsmahl arrangieren, vorausgesetzt, sie erreiche Kobijolke noch, aber dann müsse sie sich beeilen.

Das Gehabe der Alten amüsierte den jungen Mann, der mit amerikanischen GIs nächtelang gepokert hatte, Übung im Umgang mit Zockern hatte, die kleinen Listen der lebenstüchtigen Alten als Überlebensstrategien akzeptierte und mit ihr aushandelte, mit zwei Päckchen Velvet Tabak müssten nicht nur das Abendbrot, sondern auch das Frühstück für den nächsten Morgen gesichert sein. Mit diesem Auftrag zog die Alte los.

Die junge Frau zog dem Entlassenen den Mantel aus, drängte ihn auf eine Pritsche und zog ihm die Schuhe von den Füßen. In der Enge des Raumes kam es dabei zu Körperberührungen, die wie Blitze bei ihm einschlugen. Auf der Pritsche liegend sah er zu, wie die Frau Holzspäne aus einem Karton nahm, sie anzündete, aus einem anderen Karton Kohlen in das Öfchen rieseln ließ, die Ofenringe beiseite schob und das Feuer beobachtete. Die Flammen warfen wechselndes Licht auf das Gesicht der Frau. „Du bist schön“, dachte er und er genoss es, dieses schöne Gesicht über sich gebeugt zu sehen.

Jede Bewegung der jungen Frau genoss er und er bemerkte kaum, dass die Alte inzwischen zurückgekehrt war und ihre Hamsterbeute auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Der Kobijolke sei zwar mit allen Wassern gewaschen, aber im Kopfrechnen schwach, schwadronierte die Alte, denn sie habe ihm für den Tabak nicht nur den Gegenwert von 280 Reichsmark abgeluchst, sondern glatte 300 und da sie gute Preise für exklusive Lebensmittel erzielt habe, sei am Ende auch noch ein Fläschchen schwarzgebrannten Fusels herausgesprungen und nun könne man des jungen Mannes Sprung in die Freiheit würdig begehen, wenn er endlich aufhöre, nur noch Blicke an ihre Pflegetochter zu verschwenden, denn es sei in diesen Zeiten geboten, die Aufmerksamkeit für die Lebensnotwendigkeiten aufzuwenden und sie nicht für unnützes Zeug zu verbrauchen und außerdem habe sie den Kobijolke auf amerikanische Ware scharf gemacht und Kobijolkes Adamsapfel sei wild gehüpft, als sie ihm von Tabak, Schokolade, Kaffee und Schwarzem Tee erzählt habe.

Nach dieser Aufrechnung kramte die Alte eine Kaffeemühle aus einem Karton, ließ sich breitbeinig auf der anderen Pritsche nieder und klemmte die Kaffeemühle zwischen ihre Oberschenkel. Die Mühle sei zwar echter Kaffeebohnen entwöhnt, schwadronierte die Alte weiter, weil man nur noch Weizenkörner durch ihr Mahlwerk gejagt habe, aber nun sei die Zeit gekommen, sie wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zuzuführen und jetzt fehle nur noch der Kaffee.

Als der Kaffee in Blechbechern dampfte und Brote mit Butter, Wurst und Käse bei den Frauen Wohllaute hervorlockten, begann die Alte von Kobijolkes weitumspannenden Netz zu schwärmen, das über Schafshürden, Schweineställe und Hühnergelege hinweg bis Ostfriesland reiche, wo man bekanntlich besonders gute Schwarzhandelsgeschäfte mit Schwarzem Tee erzielen könne und sie vermute in den Seesäcken auch Schwarzen Tee, deshalb habe sie mit Kobijolke ein Date ausgehandelt, denn das Handelsgut dürfe doch nicht in den Säcken verkümmern.

Nach dieser Rede gab die Alte einen Schuss Fusel in ihren Kaffee und nahm aus der Flasche einen kräftigen Schluck.

Jetzt wurde es dem jungen Mann zu bunt, er wurde heftig und sagte, er ließe sich nicht gern in seine Angelegenheiten hineinreden, er bedanke sich für die freundliche Aufnahme und die Aufforderung, sich in ihren vier Wänden wohlfühlen zu sollen, könne aber in diesem Gewölbe vier Wände nicht erkennen und wie er auch gerechnet habe, sei in der Enge des Raumes kein Plätzchen für ihn herausgesprungen. Darum wolle er sich noch an diesem Abend um ein anderes Quartier bemühen, was mit seinen Säcken ja nicht sonderlich schwer zu sein sei. Das sei auch aus moralischen Gründen vonnöten, denn in der Enge des Raumes seien Körperberührungen von Mann zu Frau nicht vermeidbar und um ihres guten Rufes willen wolle er sich jetzt davonmachen.

Vor Schreck nahm die Alte einen Schluck aus der Flasche und die junge Frau sagte: „Wir haben keinen guten Ruf zu verlieren.“

„Was redest du denn da?“, fiel die Alte ihr ins Wort, „du hast einen sehr guten Ruf und da Sie Augen im Kopf haben, junger Mann, werden Sie unschwer erkennen, was sich da hinter Lumpen und verfilzten Haaren verbirgt. Versetzen Sie diese schöne Gestalt mal in ein schlesisches Gut, setzen Sie diese Frau, feierlich gekleidet, vor ein Cembalo, setzen Sie diese Frau auf ein Pferd und sehen Sie ihren Sprüngen und Kapriolen zu, dann ahnen Sie, was sie verloren hat, als tschechische und polnische Banditen über sie hergefallen sind. Alles hat sie verloren, aber nicht ihren guten Ruf.“

Weinend nahm die Alte einen Schluck aus der Flasche.

„Du trinkst zu viel“, sagte die junge Frau.

„Dieses Elend kann man doch nur im Suff ertragen. Du bist ein wahrer Segen“, sprach sie die Flasche an, „ein wahrer Segen für meine geschundene Seel.“

„Wohin du siehst, siehst du nur Zerstörung“, dachte der junge Mann und hatte Mitleid mit dem alten Gesicht, das gezeichnet war von Ätzungen und Verbrennungen.

„Du trinkst zu viel“, wiederholte die junge Frau, „gib mir die Flasche“.

Die Alte setzte die Flasche an und leerte sie mit gierigen Zügen, Fusel rann an ihren Mundwinkeln herunter und tropfte auf den Boden, die leere Flasche kullerte unter den Tisch.

Die junge Frau zuckte mit den Schultern, zog zwei Strohsäcke unter den Holzpritschen hervor und kramte zwei Wolldecken aus einem Pappkarton, dann zog sie der Alten die Holzpantinen von den Füßen, schob den Strohsack zurecht und deckte die Alte zu.

„Du bist eine gute Seele“, lallte die Alte und sank auf den Strohsack. „Ich brauche keine Decke, wir haben ja nur zwei.“ Sie drehte sich zur Seite und schwieg. Die Frau wickelte die Alte ein und sagte: „Wir müssen unter einer Decke schlafen.“

„Wir zwei unter einer Decke?“ Der junge Mann fuhr zusammen und wunderte sich, mit welcher Selbstverständlichkeit die schöne Frau diese Anordnung traf.

„Ich gehe jetzt“, sagte er und zog seine Schuhe an.

„Du bleibst“, sagte sie, „du weißt ja nicht wohin.“

„Ich habe Angst“, sagte der junge Mann.

„Ich auch“, sagte die Frau.

Der junge Mann rückte auf die äußerste Ecke der Holzpritsche und nestelte an seinen Säcken herum.

„Du wirst neben einer Frau liegen, der eine zweite Haut angewachsen ist. Sieh dir dieses angewachsene Gelumpe an, es wird dich abstoßen, denn diese Haut hat nichts Anziehendes, sie ist rau und schmutzig und wird uns schützen. Kriech nun endlich unter die Decke.“

Der junge Mann zündete sich eine Zigarette an.

Die junge Frau rückte nach, nahm ihm die Zigarette aus dem Mund und sagte: „Das Aroma riecht man meilenweit und morgen werden sie in der Nachbarschaft wieder Gerüchte kochen, weil es sonst nichts zu kochen gibt. Die Hochnäsige habe sich für Zigaretten verkauft, werden sie sagen. Ich habe so oder so nichts zu verlieren.“ Sie kroch unter die Decke und sagte: „Komm! Wir wollen uns wärmen.“

„Du hast ja gut eingeheizt“, sagte der junge Mann, „ich bleibe hier sitzen, ich werde nicht frieren.“

„Aber du zitterst ja am ganzen Leibe“, sagte die junge Frau und zog ihn unter die Decke.

 

„Ihr liegt zu eng beieinander“, sagte die Alte und zog die Decke weg. Sie hatte eingeheizt, Kaffee gekocht und schlürfte Kaffee aus einem Blechbecher. Der Kobijolke sei immer früh auf den Beinen, sagte sie und fuhr da fort, wo sie am Abend aufgehört hatte und man dürfe den Kobijolke nicht warten lassen.

Die Frau hatte einen Arm um den Mann geschlungen und ihn eng an sich gedrückt, löste sich jetzt von ihm, der sich verlegen aufrichtete und erstaunt war, dass er in voller Bekleidung und mit Schuhen an den Füßen in den Armen einer Frau die Nacht verbracht hatte

„Gestern ist gestern und heute ist heute“, sagte die Alte, es gebe viel zu tun und da müsse man das Gestern möglichst schnell vergessen, denn jeder neue Tag sei ein Kampf um das tägliche Brot, obwohl, so vermute sie, dieser Tag ein außergewöhnlicher werden könne, denn die Sonne stünde am Himmel. Dann verordnete sie ein kurzes Frühstück, weil sie pünktlich zum verabredeten Termin bei Kobijolke erscheinen wolle.

Noch hätte der junge Mann ablehnen können, aber auch er war neugierig geworden, denn für Abenteuer war er offen und während der Gefangenschaft hatte er sich auf manches waghalsige Abenteuer eingelassen.

Kobijolke erwarte ihn im Pissoir zur Sprechstunde und er solle ein Päckchen Tee nicht vergessen als Beweismittel und die Seesäcke könne ihre Pflegetochter bewachen.

Dann machten sie sich auf zum Marktplatz. „Da unten erledigen nur Männer ihre Geschäfte“, sagte die Alte, „ich warte hier oben.“

Der junge Mann drängte sich an zwei Männern vorbei und als er unten die Pendeltür aufstieß, stieg ihm kalter Tabakqualm und Uringeruch in die Nase und vor einer Toilettentür stand eine hagerer, hochgeschossener Mann, der von oben herab mit einem Bittsteller verhandelte, der eine goldene Taschenuhr baumeln ließ.

„Goldene Uhren und son Zeugs wird man nicht mehr los, davon ist zu viel unterwegs“, sagte der Hagere, „das Zeugs läuft nicht mehr, selbst die Tommies rücken dafür nichts mehr raus von ihren Edelgütern.“

Er wolle keine Edelgüter, er wolle etwas zu fressen für seine Schwiegertochter und seine Enkelkinder, die jeden Tag weniger würden und goldene Uhren hätten doch einen bleibenden Wert, sagte der Bittsteller.

„Nur verdauen kann man sie nicht. Aber da ich ein mitleidiges Herz habe, biete ich dir zwanzig Pfund schönes weißes Mehl für das Ding. Mehr ist nicht drin.“

Der Bittsteller wendete sich empört ab und schimpfte den Langen einen Galgenvogel und Aasgeier. „Das wirst du eines Tages büßen, Kobijolke.“

Der stieß einen spitzen Pfiff aus, zwei Männer kamen von oben heruntergestürzt und beförderten den Mann auf die Treppe.

„Bist du der Ami mit dem Tee?“, unbeeindruckt wandte sich Kobijolke seinem nächsten Verhandlungspartner zu.

Der hielt dem Kobijolke ein silbernes Päckchen unter die Nase.

„Bist du bescheuert?“, blaffte der ihn an, „hier unten wird verhandelt und gepisst, die Ware wird andernorts ausgeliefert. Oder willst du das Zeugs bei einer Razzia loswerden und hinter Gitter landen? Also weg mit dem Zeugs und dann komm zurück.“

Der junge Mann übergab der Alten das Päckchen und stand dann wieder vor Kobijolke. Der hatte eine Zigarette im Mundwinkel und spielte sich auf. „Bist wohl noch nicht trocken hinter den Ohren, Milchreisbubi? Das bedeutet Risiko für unsereins und Risiko kostet, damit das klar ist. Was hast du auf Lager?“

Kobijolkes Gehabe erkannte der junge Mann sofort als Verhandlungsstrategie, denn der Kobijolke konnte nicht wissen, dass der, der da vor ihm stand, in dreijähriger Kriegsgefangenschaft maßgeblich daran beteiligt gewesen war, die massenhaft in der Normandie angelandeten amerikanischen Überschüsse an Lebensmitteln und Gerätschaften zugunsten seiner Mitgefangenen zu verhökern. Kobijolke konnte nicht wissen, dass der, der da vor ihm stand, nach einem bitteren Jahr als Minensucher zum Dolmetscher avanciert war, weil er Englisch und Französisch sprach und dass der Lagerleiter ihn zum ständigen Begleiter erkor, wenn er mit französischen Honoratioren verhandeln musste. Kobijolke konnte nicht wissen, dass der, der vor ihm stand, im Argonnerwald mit französischen Großschiebern hinter versteckten Holzkohlemeilern Kontakt aufgenommen hatte und im Einverständnis mit amerikanischem Bewachungspersonal Autoreifen und Benzin im großen Stil verschob, weil den amerikanischen Offizieren die Übersicht über den Motorpool verloren gegangen war, denn Hunderte von GMC, die das Holz des Kahlschlags im Argonnerwald an Amerikaner in Halbfrankreich verteilen mussten, waren nicht leicht zu verwalten. Aber Kobijolke hätte wissen müssen, dass jemand, der, aus der Kriegsgefangenschaft kommend, mit Edelgütern reich gesegnet ist, illegaler Methoden zur Selbstbereicherung nicht unkundig sein konnte.

Die Verhandlung zog sich hin, sie war lang und zäh, weil der Entlassene Gefallen daran fand, denn was er Kobijolke entlockte, hätte er durch langwierige Erkundungen nicht zusammentragen können.

Kobijolke war auf Kohletransporte spezialisiert, denn Kohletransportmittel waren pünktlicher als jedes andere in den Besatzungszonen. Auf Transporte ohne Frachtbriefe hatte sich Kobijolke während des Tausendjährigen Reiches eingelassen und zog jetzt Nutzen aus seinem Know-how, das er hoch in Rechnung stellte, denn, so argumentierte er, amerikanische Konterbande sei zwar Okay, aber nichts wert, weil man davon nicht leben könne und der Mensch Lebensmittel zum Leben brauche, die auf legalem Wege nicht ausreichend erhältlich seien, die er aber jederzeit besorgen könne. Dabei genieße er sogar höchstbischöfliche Rückendeckung aus Köln, denn diebische Kohletransporte seien sakrosankte Verkehrsmittel, deren sich jedermann bedienen dürfe, vorausgesetzt, er verfüge über das Know-how.

Als Ergebnis der Verhandlung bot Kobijolke den sicheren Transport zweier Personen von Hohenbudberg ins norddeutsche Marschland, hin und zurück. Als Gegenleistung forderte er Handelsware, die eine Versorgung für mindestens zehn Personen mit Getreide, Kartoffeln, Butter, Schinken und Speck für einen Monat gewährleisten müsse, abgesehen von kleineren diversen Geflügelprodukten. Das wurde nach längerem Hin und Her mit Handschlag besiegelt, doch Kobijolke behielt sich vor, Einblick in die Seesäcke nehmen zu dürfen.

Bei seinem Einblick wähnte sich Kobijolke aus dem Sumpf des Pissoirs in die Schatzkammer himmlischer Devotionalien versetzt. Vor seinem geistigen Auge verwandelte sich das Gemenge amerikanischer Genussmittel in Währungen und Devisen des Schwarzen Marktes und als er Kaffeebohnen wie Perlen eines Rosenkranzes durch seine Hände gleiten ließ, verwandelten sich die Devotionalien in ostfriesische Bauernprodukte.

Dann geriet Kobijolke sogar ins Schwärmen und als er behauptete, diesen himmlischen Gütern würden sich über Schafshürden, Schweineställen und Geflügelgelegen hinaus auch Gesindebetten öffnen, forderte er den energischen Protest der Alten heraus und die junge Frau schmollte. Als er merkte, was er angerichtet hatte, wies er darauf hin, dass zur Zeit in der Bekohlungsanlage mehrere Lokomotiven entschlackt würden und da gebe es ordentlich was zu fringsen.

Das ließen sich die Frauen nicht zweimal sagen. Sie schnappten sich Säcke und verschwanden. Er werde es schön warm haben, wenn er zurückkomme und ein Topf mit heißem Wasser für ein Suppenhuhn stünde dann auch bereit, rief die Alte ihm zu.

So schnell ginge das nun wieder nicht, meinte Kobijolke, denn er sei dafür bekannt, dass er seine Unternehmungen gründlich plane und das koste Zeit, mindestens zwei Tage.

Zwei Tage später erschien Kobijolke mit zwei Rucksäcken und verkündete, es sei so weit. Er beobachtete mit Argusaugen, was vom Seesack in die Rucksäcke wechselte, schien zufrieden, als ein Seesack in sich zusammengesackt war, als er das Gewicht seiner prall gefüllten Rucksäcke überprüfte und einen der Rucksäcke schulterte. Ab sofort übernehme er das Kommando, ordnete er an und der Entlassene möge sich gegen drei Uhr morgens bereithalten.

Pünktlich um Drei stand Kobijolke, dick verpackt, in der Nissenhütte. Noch hätte der Entlassene das Manöver abblasen können, doch er vertraute der jungen Frau und ihrer Versicherung, eher ginge ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Krümel Tabak aus seinen Seesäcken verloren ginge.

Kobijolke hatte an alles gedacht. Das Bremserhäuschen hatte er an den Seiten mit Säcken abgedichtet und auf dem Boden lag ein eingerollter Orientteppich, der sei gegen die Fußkälte und später solle er seinen orientalischen Charme an Marschbauern versprühen und Begehrlichkeiten wecken. Dann hängte sich Kobijolke einen Rucksack vor die Brust, forderte seinen Begleiter auf, es ihm gleich- zutun, zeigte, wie man am schnellsten in das Brettergehäuse hinein- und wieder herauskommt und empfahl, die Mütze über die Ohren zu ziehen. Nachdem sie in die Bretterbude gekrochen waren, rückten sie auf einem schmalen Brettchen eng zusammen und es dauerte nicht lange, da ließ die Lokomotive Dampf ab und die beiden Geschäftsreisenden rollten mit einem Kohletransport in Richtung Emden.

Kobijolke ahnte nicht, dass er bei seinem Begleiter während der Fahrt durch das Ruhrgebiet, durch Westfalen und Niedersachsen viele Juckpunkte berührte, wenn er Landschaftsbilder kommentierte, in langen Monologen Sinn und Unsinn mischte, Dichtung und Wahrheit verkündete und fantastische Überlebensstrategien entwarf.

„Das ist Mundraub, was die Tommies hier treiben. Unsere Landsleute frieren sich den Arsch ab und die Sieger klauen unsere Kohle“, so eröffnete Kobijolke seine Rechtfertigungslehre und forderte das Urrecht des Menschen in kobijolkischer Form. „Der Nullpunkt der Moral ist erreicht, wenn die Menschen hungern und nichts zu fressen haben. Wo ist die Moral, wenn Mütter ihre Kinder nicht satt machen können? Guck dir das an! Wenn du früher über diese Brücke fuhrst, konntest du über sechzig rauchende Schlote zählen. Und was ist jetzt? Wo ist der Rauch überm Ruhrpott geblieben? Der blaue Himmel ist ein schlechtes Zeichen. Die Hüttenwerke liegen still, wovon soll man da leben? Da drüben rauchte mal die Kupferhütte. Da schimpften die Leute, wenn der rote Staub die Häuser und die Straßen rot färbte. Heute wären sie froh, wenn der dicke rote Rauch wieder aus den Schornsteinen stiege. Und wennste ein paar Kilometer weiterdenkst, dann kommste nach Schloss Landsberg und nach Villa Hügel, da kommste zu den Thyssens, den Krupps und den Flicks. Die sitzen ihre Strafen doch auf der halben Arschbacke ab und zählen hinter Gittern hämisch ihre Millionen. Du glaubst doch nicht, dass da gehungert wird.“

Je länger der Kohletransport nach Norden dampfte, je weiter das Ruhrgebiet zurücklag und je grüner die Landschaft wurde, umso poetischer wurden Kobijolkes Worte. Er befand, dass die Wasserburgen nach wie vor schön in der Landschaft stünden, dass da drüben ein Knabe durchs Moor gerannt sei, dass in dem Wald da drüben vor zweitausend Jahren römische Legionen ersoffen seien, dann stimmte er ein Lied von sturmfesten und erdverwachsenen Niedersachsen an, lachte über den Unsinn, den die Likendeeler und die Vitalienbrüder verzapft hatten und erzählte Geschichten von einem Klaus Störtebeker, der, wie er, nur zugunsten der Hungerleider gekapert habe.

Sein Begleiter genoss die Geschichten wie Märchen, erinnerte sich und suchte nach den in ihnen verborgenen Erinnerungsschätzen und nach den in ihnen versteckten Wahrheiten und Wirklichkeiten.

Woher Kobijolke wusste, dass der Zug in wenigen Minuten anhalten werde, blieb sein Geheimnis. Jedenfalls quietschten die Räder und standen still. „Raus“, brüllte Kobijolke, warf den Fußwärmer ins bereifte Gras, riss den Rucksack von der Brust und sprang. Sein Begleiter sprang hinterher und landete sanft in nassem Gras. Kaum hatte er sich aufgerappelt, da setzte der Zug sich wieder in Bewegung.

Dann nahm sich Kobijolke Zeit zur Lagebesprechung. Man könne in dieser Gegend leicht baden gehen, warnte Kobijolke, denn die Marschwiesen seinen bekannt wegen der Wassergräben, was den strategischen Vorteil böte, dass die Bauernhöfe weit in der Gegend verstreut lägen und der eine Bauer vom anderen kaum erführe, was er für wie viel Zigaretten habe herausrücken müssen. „Hier herrscht freie Marktwirtschaft, da müssen die Preisbewegungen fein abgestimmt sein“, sagte Kobijolke, „und lass dich nicht kirre machen vom Gebell der Köter, die sind unsere zuverlässigsten Helfer, denn ihr Gebell gibt den Bauern genügend Zeit, ihre Räucherkammern und Fuselbrennereien unter Falltüren abzudecken und reichlich Mist darüber zu verstreuen. Da mögen die britische Feldgendamerie und die deutschen Spürnasen ihre Nasen rümpfen wie sie wollen, da riecht kein Schnüffler mehr was.“

Dann verteilte Kobijolke das orientalische Gewebe auf zwei Schultern und versprach, sie schleppten jetzt eine halbe Sau durchs Marschland, mindestens, da sei es geradezu geschenkt, dass nur zwölf Kilometer vor ihnen lägen.

Da die orientalische Ware nach unten drückte, versackte Kobijolke in einen tiefgründigen Monolog. „Manchmal frage ich mich“, philosophierte er nach halber Wegstrecke, „ob diese Plackerei einen Sinn macht, da bin ich uneins mit mir, aber dann kommt wieder dieser verflixte Hunger und dann sage ich mir, es gibt Satte und Hungrige, so ist die Welt nun mal eingerichtet und warum sollst du, Kobijolke, zu den Hungrigen gehören? Du bist nicht zum Helden geboren und schon gar nicht zum tragischen, du kannst diesen verrückten Weltzustand nicht verändern, dazu bist du nicht fähig, Kobijolke, du bist nicht harmoniesüchtig genug, um für Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen und für den ewigen Frieden den Kopf hinzuhalten, du kannst nicht mal den verdammten Kohldampf aushalten. Ich sage dir, der Kohldampf ist ein Aggregatzustand, der dich zu Flüssigem und Festen treibt und die sinnlichste Chiffre für das Feste ist für den Kobijolke eine fette Sau. Eine halbe ist ja auch nicht schlecht. Ergo, Kobijolke, sei wachsam und lass dich nicht übers Ohr hauen, denn dann hätte diese verdammte Plackerei wirklich keinen Sinn.“

Kobijolke unterbrach seinen Gedankengang, als in der Nähe Hunde anschlugen. „Wir sind da“, sagte er, „und denk immer dran, dass wir nicht als unternehmerische Bankrotteure diesen Nährboden verlassen wollen. Jetzt wird mit harten Bandagen gekämpft.“

Insgesamt dauerte die Handelsmission vier Tage, weil sie gebunden war an den Pendelverkehr eines Kohlenzuges zwischen Emden und Hohenbudberg. Während dieser Handelstage balgten sich die Handelspartner um Soll und Haben und versuchten sich mit Kursmanipulationen auszutricksen. Die Amizigaretten schwankten zwischen 7,00 und 8,00 Reichsmark, die Schweinebacke zwischen 90,00 und 110,00 Reichsmark das Kilo, gar nicht zu reden vom Schwarzen Tee, der von Tag zu Tag erheblichen Kursschwankungen ausgesetzt war. Bei den Handelsgesprächen trafen der Sprachschatz von Bauernlümmeln mit dem Sprachschatz von Honigsaugern aufeinander, jeweils mit der Absicht, den Anderen über den Tisch zu ziehen.

Die Gaukeleien, hüben der Mehrung wertbeständigen Besitzes wegen, drüben nahrhafter Fressalien wegen, entwickelten sich zu Weltanschauungsgeplänkeln mit klassenkämpferischen Handgemengen.

Als Kobijolke z. B. das orientalische Schmuckstück über einer Falltüre ausrollte und von Knoten und Mustern schwärmte, höhnte der Remmesbauer: „Watt soll ick mit son Schiet?“

„Roll das Kunstwerk wieder ein“, sagte Kobijolke, „der Nachbar wartet schon drauf.“

„Wat sollen denn kosten, den Schiet?“

„Eine halbe Sau.“

„Halsabschneider! Für ne halbe Sau bauen die Hamsterer mir nen neuen Saustall.“

„Kapitalist! Hat nichts anderes im Schädel, als den Mehrwert aus seiner Sauenproduktion für neue Sauställe einzusetzen, um seine Produktion zu steigern für neue Sauereien.“

„Kommunist!“, schimpfte der Remmesbauer, „sind alle Halsabschneider die Kommunisten, nix arbeiten und auf fremde Kosten saufen und fressen.“

„Ausbeuter!“, schimpfte Kobijolke, „wer hat denn das Getreide wachsen lassen, mit dem du deine Sauen fett gefüttert hast? Das war die Natur! Meinetwegen auch dein lieber Gott. Aber die Natur und der liebe Gott sind Gemeineigentum. Die Sau gehört dir nicht mehr als mir, also halbe-halbe. Du kannst froh sein, wenn du das Kunstwerk dafür kriegst.“

„Prolet!“, schrie der Remmesbauer, „sind alle Proleten, die ausm Ruhrpott.“

„Mistbauer“, schrie Kobijolke zurück, „früher warst du froh, wenn du deine Kappesköppe im Ruhrpott verkloppen konntest.“

„Prolet blievt Prolet.“

„Dann bleib doch auf deinem Mist sitzen. Roll die Kaschmirseide wieder ein!“

„Die blievt“, sagte der Remmes und zog Frau und Tochter auf den Teppich, um ihn zu behaupten.

Kobijolke versuchte den Remmes vom Teppich zu schieben, aber als sich das als unmöglich erwies, spielte er den Atemlosen, hielt die Hand hin und sagte: „Der Klügere gibt nach, eine halbe Sau, Hand drauf.“

 „Un watt is mitm Schwatten Tee?“

„Een Päckchen.“

„Twe.“

„Een.“

„Un Schokolad für de Deern.“

„Kaugummi.“

„Schokolad.“

„Gut. Hand drauf.“

„Un Kaffee für de Fru.“

„Ein Stück Seife.“

„Auch gut. Hand drauf. Aber Kaffee für dat Frühstück.“

Beide beeilten sich, den Handel endgültig mit Handschlag zu besiegeln und dann ließ der Bauer ein deftiges Frühstück auffahren. Beim Frühstück berichtete der Entlassene, dass er die Luxusgüter unter Lebensgefahr auf Seite gebracht habe und dass sie eigentlich unbezahlbar seien.

Von Hof zu Hof verstanden es die Hamsterer besser, sich die Bälle zuzuspielen und mussten immer weniger in die Rucksäcke greifen, um gute Handelsresultate zu erzielen. So erwies sich das Handelsgut in den Rucksäcken ergiebiger als vorausberechnet. Darum gerieten die Handelspartner in Zeitnot, denn sie mussten vor Ort zwei Holzkisten schreinern lassen, um die erhamsterte unverderbliche Beute darin zu verpacken. Die Kisten mussten auf eine Bauernkarre geladen und zur nächsten Bahnstation transportiert werden. „Die Güter sind jetzt in Gotteshand“, sagte Kobijolke, er schlug drei Kreuze und fügte hinzu, die Kisten befänden sich nunmehr auf einer Kreuzfahrt und es sei ungewiss, ob sie ihnen jemals wieder zu Gesicht kämen, aber die Hoffnung stürbe ja bekanntlich zuletzt.

Die Rucksäcke der Hamsterer platzten aus allen Nähten. Das Suppenhuhn musste eine Bäuerin in ein Leinentuch einnähen und konnte, so gebeutelt, in den Wind gehängt werden, als die Beiden an der Stelle wieder ins Bremserhäuschen krochen, an der sie vier Tage zuvor herausgesprungen waren.

In dunkler Nacht fand Kobijolke keine Ansatzpunkte mehr für heimatkundliche Ergüsse, darum konnte sich sein Begleiter den Träumen hingeben, die jemand träumt, wenn er sich heiß erwartet wähnt.

In der Morgendämmerung trug der junge Mann ein gut gekühltes Suppenhuhn und einen prall gefüllten Rucksack in die Nissenhütte und als er die Beute zum Gemeineigentum erklärte, fielen die Frauen in die Verzückung, die jeder Mann sich gerne gefallen lässt, die ihn aber auch in sichtbare Bedrängnis bringt.

Man müsse miteinander reden, meinte daraufhin die Alte, die immer ein Auge auf irgendeinen Teilbereich von Anstand und Sitte hatte. Es gebe da einige Tatbestände in ihrer Wohngemeinschaft, die dringend der Instandsetzung bedürften. Zunächst aber benötige sie nur ein paar Zigaretten, um Grünzeug besorgen zu können. „Das gibt eine kräftige Brühe“, schwärmte die alte Wulfen und begab sich zum Schwarzmarkt.

 

Zum Abend hatte die Alte auch den Kobijolke zum Suppelöffeln eingeladen, um ihn zu fragen, ob er im Rathaus nicht jemanden kenne, der gegen gute Worte und gute Gaben vielleicht bereit sei, dem jungen Mann bei der Beschaffung von so allerlei Papierkram behilflich zu sein.

Darauf wollte sich Kobijolke aber nicht einlassen, denn Rathäuser seien ihm deshalb ein Gräuel, weil man immer bedröppelter herauskäme, als man hineingegangen sei. Zwar kenne er diesen und jenen in den Amtsstuben, z. B. einen gewissen Stratmann, der ihm noch was schuldig sei, aber ob der was machen könne, bezweifele er. Eines wolle er aber noch sagen: „Da im Rathaus sitzt im ehemaligen Bürgermeisterzimmer ein Brite, ohne den läuft nichts in der Stadt, an dem kommt niemand vorbei. Wenn ich Englisch könnte, würde ich mich an den wenden und mich mit meinen Englischkenntnissen einschmeicheln, dann wär ich die ehemaligen Nazis los, die schon wieder in Rathäusern herumschleichen.“

Als Kobijolke gegangen war, nahm die Alte den Faden auf. „Eines steht fest, ohne Papiere kommst du nicht weiter und da wir unser schlampiges Verhältnis endlich legalisieren müssen, solltest du den Briten aufsuchen und mit deinem Amerikanisch protzen. Das hilft sicher weiter als der Stratmann. Wie heißt du eigentlich?“

Diese Frage, schnöde hingeworfen, traf ihn wie ein Überfall, eine Blutwelle stieg ihm zu Kopf und er begann zu kratzen. Jahrelang hatte er auf diese Frage gewartet und den Augenblick, in dem sie gestellt würde, zu einem feierlichen Akt hochstilisiert. Als die Alte beim Suppelöffeln, eine Fuselflasche in der Hand, diese Frage stellte, überfiel ihn wieder der Juckreiz, gegen den er sich nicht wehren konnte. Er riss sein Hemd auf und kratzte sich blutige Finger an seinen Narben.

„Hör auf zu kratzen“, rief die Alte entsetzt, „sag deinen Namen und fertig.“

„Welchen willst du denn hören, welcher ist dir denn der angenehmste?“, schrie er die Alte an, „was hältst du von ,das SS- Schwein’, oder von ,Leichenschlepper’, oder von ,Minensucher’, oder von ,der Dolmetscher’, oder ,Mister Motorpool’, oder ,der Schieber’? Andere Namen hatte ich bis heute nicht, ich war Funktionär, aber kein Mensch. Welcher gefällt dir am besten?“

Erregt breitete er einen Fetzen Papier auf dem Tisch aus und sagte: „Sucht euch einen aus.“

„Ich will deinen Namen wissen“, sagte die junge Frau und strich das Papier glatt und konnte nur mühselig entziffern, was in dünner Schrift kaum noch lesbar war. „Es ist ein Feldpostbrief“, sagte sie, „mit einer Feldpostnummer“, sie machte ein Pause und sagte, indem sie den jungen Mann umarmte und in die Augen schaute: „Er heißt Till.“

Die junge Frau küsste und herzte ihn so inbrünstig, dass Mutter Wulfen meinte, das Ritual der Namensgebung kritisch vollenden zu müssen mit der Maßgabe: „Halt mir die Lena in Ehren.“

 

Geheuer war ihm nicht zumute, als Till beim britischen Officer für „Education and Religious Affairs“ anklopfte, denn als Bittsteller hatte er noch nie eine gute Figur gemacht, weil sein Trotz ihm dabei Streiche gespielt hatte. Darum hatte er sich mit dem Vorsatz gerüstet, Zurückhaltung zu üben und mit Pittsburghdialekt Eindruck zu schinden.

Das ging nicht auf, weil der Brite eine Sprache sprach, die Till erstaunte und Sympathie bei ihm erweckte.

Mit saftigem Ruhrpottdialekt fuhr er Till in die Rede, als der mit seinem Amerikanisch anfing.

„Quasselnse Deutsch! Wat wollen se?“, fragte der Brite spitz, „Sie wollen doch wat, denn wer sich bei mir meldet, der will wat.“

Verdutzt stotterte Till sein Begehr raus und reichte dem Briten seinen Entlassungsschein. „Ich möchte“, sagte er, „dass Sie sich meinen rechten Daumen ansehen.“

Der Brite stutzte und lachte dann los: „Originell“, sagte er, „sehr originell. Fingerabdrücke nehme ich vom Zeigefinger.“

„Ich möchte, dass Sie sich meinen rechten Daumen ansehen und ihn mit dem Daumenabdruck im rechten oberen Eck auf diesem Certificate of Discharge vergleichen, Daumen und Abdruck als identisch anerkennen und mir bescheinigen, dass ich existiere, möglichst mit britischen Siegeln.“

Interessiert nahm der Brite das Certificate zur Hand, drehte und wendete es, verfiel in Englisch, wiederholte mehrmals „interesting, interesting“ und sagte dann: „Ein verrückter Typ laut Papier, nicht leicht zu händeln, wie mir scheint, ein Deutscher mehr, der nichts weiß und von nichts was gehört hat. Nie was von einem KZ gehört! Inmitten gelber Sterne nie was von Judenverfolgungen gehört! Es ist sehr praktisch, wenn man alles vergessen hat.“

„Drei Jahre haben die Amis in mir herumgewühlt und nichts gefunden und Sie fangen von vorne an.“

„Kommt ohne Papiere daher. Soldbuch weggeschmissen, Erkennungsmarke verschwinden lassen, alle Papiere zerrissen, Mutter und Vater tot, Geburtshaus zerbombt, keine Geschwister, nichts nachweisbar, richtig? Mit der Waffen SS nichts zu tun gehabt, richtig? Zwangsweise der HJ und der Partei angehört, richtig? Bei Bastogne verschüttet, aber vorher mit der Waffe tüchtig draufgehalten, richtig?“

„Alles richtig.“

„Und wat wollense von mir?“

„Den Nachweis meiner Existenz, abgestempelt und besiegelt.“

„Sie tarnen sich gut, junger Mann. Sie laufen in Amiklamotten herum, sprechen amerikanisch, und tun so, als wenn sie mit den Deutschen nie was zu tun gehabt hätten.“

„Sie irren sich, ich bin und bleibe ein Deutscher und bekenne mich zu meinem Volk, zu seiner Schuld und zu seiner Geschichte. Die Personel Particulars geben darüber Auskunft.“

Auf die Personel Particulars aufmerksam gemacht, las der Brite sie mit erweiterter Aufmerksamkeit und schmunzelte dabei.„Was haben Sie eigentlich nicht gemacht in der Kriegsgefangenschaft? Haben nicht viel ausgelassen, wie? Minen geräumt, Leichen bestattet, Interpreter gespielt bei höheren Chargen, Holz gefällt, Lastwagen gefahren, Schmalspurbahnen gebaut, Theater und in der Jazzkapelle gespielt. Respekt, Respekt, ein respektabler Bildungsweg. Da weiß ich ja gar nicht, wie ich Sie ansprechen soll.“

„Nennen Sie mich bei bürgerlichem Namen, geben Sie mir eine Adresse mit Wohnort, Straße und Hausnummer, registrieren Sie mich im Ortsverzeichnis und geben Sie mir eine versiegelte Aufenthaltsgenehmigung.“

„Ganz schön viel für einen Nazi, der vor nicht allzu langer Zeit noch ,Sieg Heil’gebrüllt hat und ,Meine Ehre heißt Treue’. Einen Freifahrtsschein werde ich Ihnen nicht geben.“

„Ich hab die Nase voll von Vaterland, Nation und deutscher Großmannssucht. Ich möchte einem Staat angehören, der ausgewiesene Grenzen hat und Grenzen setzt, der Rechte und Pflichten einräumt, mehr nicht.“

„Und den soll Ihnen ein Brite besiegeln?“

„Solange die Besatzungsmächte das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen verhindern, sind die Briten die Siegelbewahrer in deutschen Landen.“

„Wir sind nicht hier, um den Deutschen die Souveränitätsansprüche zu beschneiden, wir sind hier, um allgemeine Menschenrechte wieder in Kraft zu setzen.“

„Klauen Sie deshalb unsere Kohle und lassen Sie die Deutschen deshalb hungern? Gehört das zu den allgemeinen Menschenrechten?“

Der Brite blieb gelassen und fragte, ob sich Till schon um seine Entnazifizierung gekümmert habe, denn ohne die käme er nicht viel weiter mit seinen Ansprüchen.

„Ohne den Nachweis meiner Existenz, kann ich logischerweise nicht entnazifiziert werden, da beißt sich die Katze in den Schwanz.“

„Ihre Sprache hat verhältnismäßig wenig Leerstellen im Verhältnis zu Ihren Lebensdaten. Wie ich im Certificate nachlesen kann, sprechen Sie darüber hinaus Englisch und Französisch, die Sprachkompetenz müssen Sie doch vor ihrem Trauma erworben haben und daran wollen Sie sich nicht erinnern können? Und was das Spannungsverhältnis zwischen Souveränitätsanspruch und Menschenrechten betrifft, müssen Sie mir schon sagen, was ich besiegeln soll.“

„Zunächst möchte ich mein blankes Dasein besiegelt haben.“

„Das Dasein eines Menschen ohne Vergangenheit? Das Dasein eines Intellektuellen? Das Dasein eines Kriegsverbrechers? Oder, oder, oder, es gibt viele Identitätsnachweise. Nennen Sie mir einen.“

„Suchen Sie sich einen aus.“

 Immer noch blieb der Brite gelassen. „Die Leerstellen in Ihrem Gedächtnis sind auf seltsame Weise identisch mit den Leerstellen im historischen Gedächtnis der Deutschen und insofern sind Sie ein exemplarischer Fall und als solcher interessieren Sie mich. Ich werde mich um Sie kümmern. Vorläufig muss das genügen.“

Der Brite händigte Till eine versiegelte Aufenthaltsgenehmigung aus und sagte: „Sie sollten sich mal mit Psychoanalyse beschäftigen und nachfragen, ob es für Amnesie Heilungschancen gibt. Melden Sie sich regelmäßig bei mir. Sagen wir, einmal im Monat und träumen Sie gut.“

 

„Der erste Schritt in geordnete Verhältnisse ist getan“, stellte Mutter Wulfen zufrieden fest, „aber zwei Lotterbetten für drei Personen verschiedenen Geschlechts sind auf die Dauer zu wenig, und da man ein drittes Bett in einem Gewölbe nicht unter die Decke hängen kann, muss eine weitere Räumlichkeit her.“ Mit diesen Worten fasste Mutter Wulfen ein neues Projekt ins Auge und schielte dabei unverhohlen auf Tills restliche Luxusgüter.

„Der normale Weg zu einer Wohnung ist für Jahre gesperrt, da muss man sich selber helfen“, sagte Mutter Wulfen, „und der kürzeste Weg dahin läuft am besten über einen Bauunternehmer.“ Da sei z.B. der Kütteboom, der werkele mit seinen Söhnen allabendlich auf dem Dach der Backstube der Bäckerei Fricke herum, die bekanntlich die größte vor Ort sei und wenn da nicht mit Mehl und Zement geschummelt würde, fresse sie einen Besen. „Da könntest du dich einmischen, Till“, empfahl Mutter Wulfen, „verding dich für kurze Zeit bei Kütteboom und Söhne und sieh mal zu, wie da geschoben wird.“

Da Kütteboom und Söhne schon seit einiger Zeit in den Lokomotivhallen der Deutschen Reichsbahn meterhohe Fensterrahmen einbaue, suche er einen Hilfsarbeiter, der seinen Söhnen zur Hand gehen könne, wusste Mutter Wulfen, schaltete Kobijolke ein und so bewarb sich Till als Hilfsarbeiter bei Kütteboom und Söhne.

Kütteboom war von Anfang an misstrauisch, als er Till unter Vertrag nahm, denn er wusste, dass er seiner Machenschaften wegen erpressbar war und mit Kobijolke hatte er bereits einen Erpresser am Hals. Auch zweifelte Kütteboom daran, dass sich Till für 0,75 Reichsmark die Stunde schinden werde, aber Kobijolke hatte ihn fest im Griff.

Umso erstaunter war Kütteboom, dass Till täglich pünktlich zur Arbeit erschien und seine beiden Söhne mit schweißtreibender Arbeit in den Schatten stellte. Küttebooms Söhne waren des Schweißtreibens abhold und der ältere Sohn achtete darauf, dass er nicht mehr tat als der jüngere und umgekehrt, sodass sich beider Schinderei in Grenzen hielt. Der ältere Sohn hatte sein Gesellenstück am Westwall abgeliefert, der jüngere am Atlantikwall und da der Atlantikwall mehr ausgehalten hatte als der Westwall, bestand der jüngere Kütteboom darauf, die Wasserzufuhr beim Betonmischen regeln zu dürfen. Darum beschränkte er seine Tätigkeit darauf, den Wasserschlauch zu halten und ab und zu kleine Ausflüge durch die Hallen zu unternehmen, in denen reparaturbedürftige Waggons, die oft voll beladen blieben, auf Abfertigung warteten.

Es wäre jedem aufgefallen, dass es auf der Baustelle der Deutschen Reichsbahn nicht mit rechten Dingen zuging, wenn Kütteboom und Söhne Feierabend machten. Die Küttebooms schleppten schweres Gepäck nach Hause und verwandelten Gemeineigentum in Privatbesitz und abends und feiertags konnte jedermann beobachten, dass die Firma Baumaterialien über der größten ortsansässigen Backstube zu Markte trug. Bald nahm die Symbiose von Zement und Mehl Gestalt an und Mutter Wulfen, die täglich die Werkelei verfolgte, behielt Recht mit der Behauptung, in wenigen Wochen werde über der Backstube eine Zweizimmerwohnung erwachsen.

Dem Till fiel auf, dass die Söhne inzwischen zu Zweit kleinere Ausflüge in die Wagenhallen unternahmen und sich schließlich mit Bohrern im Gepäck auf den Weg machten. Als sie sich eines Tages außergewöhnliche Mühe machten, zwei Betongefäße zu reinigen und zu polieren, wurde Till noch aufmerksamer. Er folgte ihnen heimlich und beobachtete, dass der jüngere Kütteboom unter einen Waggon kroch und ihn von unten anbohrte. Jetzt brauchte er nur noch darauf zu warten, dass die Bohrerei eines Tages Erfolg haben würde.

Als die Küttebooms eines Tages zwei Betonschüsseln mit Zucker in die Baubude schleppten, ließ der sich Schweigelohn in Form von Zucker auszahlen, als jedoch eines Tages gelbes Speiseöl über die Ränder der Betonschüsseln schwappte, ging er zum Angriff über. Noch am selben Tag kündigte er und gab deutlich zu verstehen, dass er die kriminellen Handlungen der Firma zur Anzeige bringen müsse. Am nächsten Tag erhielt er das Angebot, man wolle Abhilfe für seine bedrängten Wohnverhältnisse schaffen. Dem Bäcker war es egal, wer ihm die Miete einbringen würde, zumal er außerdem mit Devotionalien bedacht wurde. Auch die Frau des Bäckers trug ihren Teil bei, denn sie fand Gefallen an dem jungen Bewerber. Auch Kütteboom zeigte sich weiterhin erkenntlich mit kleineren Zusatzleistungen am Bau und die Backstube unter dem Neubau sorgte für trockene Wände mitten im Winter.

Ende Februar schleppten die beiden Frauen und Till ihre Habseligkeiten durch einen separaten Eingang im Hof zwei Treppen hoch in zwei Zimmerchen mit flachem Dach und einer dünnen Zwischenwand mit schmalem Durchgang zwischen den Räumen. Die Wohnungstür konnte mit einem monströsen Schlüssel abgeschlossen werden, jedes Zimmerchen hatte ein Fenster, die Wasserzapfstelle und das Klo lagen eine Treppe tiefer. Nachdem alle Einrichtungsgegenstände eingeräumt waren, setzte sich Mutter Wulfen hin und sagte: „Es ist fast wie zu Hause, überall ist Platz zum Tanzen.“

„Ist doch schön“, sagte Lena, „manch einer wäre froh, wenn er solch ein Dach über dem Kopf hätte und die Backstube macht es überall gemütlich warm. Man kann sogar mit nackten Füßen durch die Wohnung gehen“ und Lena tanzte mit nackten Füßen durch die Wohnung. Dann klagte sie darüber, wieder allein unter der Decke schlafen zu müssen und bedankte sich für die brüderliche Wärme, die Till ihr gespendet habe.

Schon Mitte März weckten die neuen Räume bei Mutter Wulfen neue Besorgnisse. Überall munkele man, verkündete sie, eine Währungsreform stünde bevor und dann sei es zu Ende mit der Schwarzmarktherrlichkeit. Deshalb solle sich Till vorsorglich noch einmal ins nahrhafte Marschland begeben, aber auf eigene Rechnung, denn bei seiner Intelligenz bedürfe er der Hilfestellung Kobijolkes nicht mehr.

Doch der Marschbegehung schob ein Subalterner mit kahlem Kopf und abstehenden Ohren einen Riegel vor, weil er Till ins Rathaus beorderte und einer hochnotpeinlichen Befragung unterzog. Warum er sich noch nicht im Rathaus gemeldet habe, wurde Till gefragt, denn nach seiner aufsehenerregenden Entlassung auf dem Marktplatz habe man täglich im Rathaus auf ihn gewartet. Leider habe er sich stattdessen aber mit einem gewissen Kobijolke eingelassen, der seit langem auf der Fahndungsliste stehe und man wisse, dass er mit dem Subjekt längere Zeit unterwegs gewesen sei, auch hätten Schwarzmarktstreifen beobachtet, dass er auffällig oft das örtliche Pissoir aufgesucht habe, das als Umschlagplatz anrüchig sei. Dass der Vorgeladene öffentlich amerikanische Tabakduftwolken um sich verbreite, sei hinlänglich bekannt und deshalb sei die Vermutung wohl berechtigt, dass er Schwarzmarktware in größerem Umfang auf den verbotenen Markt geworfen habe. „Diese Verdachtsmomente reichen aus, Sie bis auf Weiteres zu einer täglichen Meldung im Amt zu verpflichten und nun hinterlegen Sie bitte Ihre Papiere bei uns“, forderte der Kahlköpfige am Ende seiner Epistel.

In seiner Not berief sich Till auf den britischen Offizier und er bot dem Briten damit die Gelegenheit, das Spannungsverhältnis zwischen Souveränitätsanspruch und Menschenrechten zu lösen. Der Brite gab den Menschenrechten die Ehre und entlastete Till mit dem Hinweis, der stünde unter Aufsicht britischer Behörden und beorderte ihn zum Beweis in sein Dienstzimmer.

„Sind Sie getauft?“, fragte der Brite.

„Ist das wichtig? Warum wollen Sie das wissen?“

„Weil man auf irgendeine Gewissensinstanz zurückgreifen muss, wenn man an das Gewissen appelliert. Denn das muss ich tun. Da hat sich nämlich einer Ihrer Volksgenossen bei mir gemeldet, der Sie als SS Schergen bezeichnet. Er schildert in seinem Brief einen Menschen, der ihm im Laufe der vergangenen Jahre in immer neuen Uniformen begegnet sei. Schon früh habe er das Kind in einer Pimpfen-uniform herumrennen sehen, etwas später in der Uniform der Hitlerjugend, dann in der Uniform eines nationalsozialistischen Eliteschülers, schließlich in der Uniform einer SS Eliteeinheit und zurzeit renne dieser Kerl in der Uniform eines amerikanischen GI durch die Stadt. Da aber allgemein bekannt sei, dass SS Elite an Massakern beteiligt gewesen sei, müsse man das Schlimmste von dieser Person vermuten. Ich denke, wir sind uns einig, dass Sie gemeint sind?“

„Da ist ein Judas am Werk.“

„Sie berufen sich auf die Bibel?“

„Getauft, oder nicht getauft. Wer ist in diesem Lande nicht auf den ausgetretenen Pfaden des Christentums gewandelt und kennt die eine oder andere Geschichte aus der Bibel?“

„Dann wissen Sie ja auch, wohin der Bruderkuss geführt hat.“

„Er hat dem Judas dreißig Silberlinge eingebracht und ich vermute, dass der Herr Denunziant auch nach Silberlingen trachtet.“

„Sie sind scharfsinnig. In der Tat klagt dieser Judas seine Beamtenpension ein, die eine Entnazifizierungsbehörde ihm aberkannt hat. Dafür will er Sie opfern. Er meint wohl, uns einen guten Dienst erweisen zu können, wenn er Sie ans Messer liefert.“

„Kann er das?“

„Wenn er Ihnen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachweist.“

„Das kann er nicht!“

„Er verlangt eine Gegenüberstellung. Morgen sehen wir uns wieder, um zehn Uhr.“

 

Am nächsten Morgen traf Till im Amtszimmer des Briten einen Mann, der ihm fremd war und doch kam er ihm bekannt vor mit seinem rosigen runden Gesicht, dem steifem Kragen, der schief gebundenen Krawatte und den blank geputzten Schuhen. Hinter den dicken Brillengläsern vermutete Till verschlagene Blicke und unter der blanken Glatze hinterlistige Gedanken. Darum verweigerte er die ihm dargebotene Hand und sagte: „Diesen Mann kenne ich nicht.“

Ruhig aber bestimmt verwies ihn der Brite darauf, dass er die Verhandlung zu führen beabsichtige und das tat er dann auch mit kühler Distanz, hinter der er seinen Ekel vor Denunzianten und Denunziantentum verbarg. Scharf machte der Brite darauf aufmerksam, dass die Zeiten der Blockwarte und haltloser Verleumdungen vorbei sei, dass er aber beweisbare Straftaten gegen die Menschlichkeit hart und unnachsichtig verfolgen werde. Für eine Bestrafung sei eine Beweiskette mit Dokumenten und Beweisstücken vom Kläger vorzuweisen und die möge der Kläger ihm nunmehr vorlegen.

Der kleine Pykniker geriet ins Schwitzen, wischte sich Schweißperlen von der Stirn und stotterte, das könne er nicht.

„Worauf stützen Sie denn die Anklage?“, fragte der Brite kühl.

„Ich habe die Entwicklung dieses Menschen von Kindheit an verfolgt und kenne viele Stationen seines Lebens.“

Till wurde hellhörig und neugierig auf Hinweise, aber das folgende Verfahren enttäuschte ihn, denn Till hörte nur die Ansprüche eines Gerechten, der sich ungerecht behandelt fühlte, weil man ihm seine Pensionsansprüche verwehrte.

„Haben Sie Beweise? Fotos, Bilder, Zeitungsartikel, Zeugen, die diesem Mann Naziverbrechen nachweisen? Denken Sie gut nach!“

„Aber ich kenne diesen Mann von Kindesbeinen an“, stotterte der Biedermann, „ich kann alle Uniformen aufzählen, die er von der Pimpfenuniform bis zu seiner Verkleidung als GI getragen hat.“

„Wir sind hier nicht beim Maskenball“, sagte der Brite, „wir führen hier ein hochnotpeinliches Verhör, in dem Sie bisher schlecht aussehen. Legen Sie endlich Beweismaterial vor.“

„Das kann ich nicht“, sagte der Biedermann.

„Ich gebe Ihnen Bedenkzeit. Überlegen Sie auf dem Flur, ob Sie Ihre Klage aufrechterhalten wollen. Verleumdungen werden übrigens bei uns strafrechtlich verfolgt.“Ohne ein weiteres Wort verschwand der Kläger aus dem Dienstzimmer

„Und Sie? Wie fühlen Sie sich? Was sagt Ihr Gewissen, was sagt die Moral?“, fragte der Brite.

„Mein Gefühl ist unberührt, mein Gewissen plagt mich nicht und die Moral fühlt sich wohl“, sagte Till.

„Moral ist nicht nur Sache des Gefühls, sie ist auch Sache des Kopfes.“

„Wer weiß das schon, wo die Moral ihren Sitz hat.“

„Unter anderem in Handlungsweisen vergangener Jahre, aus denen Sie sich herausgestohlen haben. Vielleicht kann ich Ihnen auf die Sprünge helfen. In Recherchen, die ich über Sie angestellt habe, bin ich auf eine interessante Person gestoßen. Diese Person wurde am selben Tag geboren wie Sie und das Kirchenbuch weist aus, dass diese Person auch getauft wurde nach reformatorischem Brauch. Das Haus, in dem das Kind aufwuchs, wurde während des Krieges zerstört. Der alte Pfarrer konnte sich noch gut erinnern an Vater und Mutter des Kindes. Der Vater errang traurige Berühmtheit, weil er als einer der ältesten Parteigenossen am Niederrhein galt und die Mutter soll sich während der Systemzeit sogar an Straßenkämpfen zwischen Kommunisten und Nazis beteiligt haben. Der Sohn dieses Ehepaares wurde 1925 geboren, besuchte die hiesige Evangelische Volksschule und wurde wegen seiner außergewöhnlichen Begabung auf eine nationalsozialistische Eliteschule geschickt. Leider ist dem Pastor die Spur des Kindes nach 1935 verloren gegangen. Interessant, nicht?“

„Schade“, sagte Till.

„Aber der Pastor konnte sich noch daran erinnern, dass der damalige Erziehungsminister Rust dem Führer diese Anstalten zum Geburtstag geschenkt hatte. Der Rust ließ alte Klöster, Schlösser und altehrwürdige Gebäude freiräumen für ausgesuchte Zehnjährige und ausgesuchte Lehrer aus allen Gauen des Reiches, die beauftragt wurden, aus den Zehnjährigen den Nachwuchs für alle Schaltstellen des Staates heranzubilden. Eine dieser Anstalten soll es innerhalb des britischen Besatzungsgebietes in Plön gegeben haben. Das ist oben in Schleswig-Holstein.“

Der Biedermann ward im Rathaus nicht mehr gesehen und Till ging mit schwerem Gepäck nach Hause.

 

Empörung stand in Mutter Wulfens Gesicht, als Till berichtete, dass der Brite in seinem Leben herumschnüffele.

„Die Briten sollen die Schnauze halten“, schimpfte Mutter Wulfen, „die haben doch selber Dreck am Stecken und sollen vor der eigenen Tür fegen.“ Till überlegte, ob Mutter Wulfen der Meinung war, dass er Dreck am Stecken habe.

„Nimm mich mit zu dem Briten“, schimpfte Mutter Wulfen, „ich werde mich vor ihn hinstellen und ihm frei ins Gesicht sehen. Sehen Sie mich an, werde ich zu ihm sagen, ich bin eine alte Frau, geflohen vor randalierenden und brandschatzenden Horden, die mich geschändet haben. Ich werde ihm berichten von einer jungen, schönen Frau, über die sie hergefallen sind wie Wespenschwärme, die Verbündeten, wobei ich habe zusehen müssen.

In Breslau meinten wir Schutz gefunden zu haben, werde ich ihm sagen, aber da ging das Elend von vorne los. Wo wart ihr denn, ihr Briten, als man uns in ungeheizte Viehwaggons gepresst hat, 35 Frauen und Kinder bei minus 15 Grad, 52 Waggons hintereinander, abgeschoben von Breslau nach Bückeburg. Wissen Sie, wie lang diese Strecke ist, Herr Besatzungsoffizier? Zahllose Tage und Nächte war sie lang, Tage und Nächte im Niemandsland auf Rampen und freien Feldern. Schauen Sie sich diese Hände an, Herr Besatzungsoffizier, diese Hände einer alten Amme haben ein Mädchen zur Welt gebracht kurz vor der Christnacht, aber nicht bei Esel und Rind auf Heu und auf Stroh, Herr Offizier, auf dem nackten Boden eines Viehwaggons bei eisiger Kälte, auf dem die Gebärende beinahe festgefroren wäre. Wir haben sie nicht mehr gezählt die Tage, abgestellt und von der Welt vergessen. Niemand hat gezählt, wie viel Alte, Frauen und Kinder verscharrt wurden im Niemandsland. Kinder getrennt von den Müttern, Mütter, die verzweifelt nach verlorenen Kindern suchten, aber niemand wusste, wo sie geblieben waren. Er soll mir ins Gesicht sehen, wenn er mich schuldig spricht für die Gräueltaten, die Deutsche an anderen Menschen verübt haben, damit ich ihn schuldig sprechen kann, damit ich ihn schuldig sprechen kann für das, was er mir angetan hat.“

Was die alte Wulfen da herausschrie, waren die Qualen, die viele Deutsche als Ausgebombte, Vertriebene und Flüchtlinge, Witwen und Waisen erlitten haben, die sich gegen die organisierte Unmenschlichkeit im eigenen Lande nicht hatten wehren können und die nun wieder erdulden mussten, worauf sie keinen Einfluss hatten.

Beglückt erkannte Till, dass Mutter Wulfen ihn in den Kreis ihrer Schutzbefohlenen aufgenommen hatte, denn in ihrer Anklage waren Mutterinstinkte versteckt, die sich von verstandesmäßigen Reaktionen entfernten und Reflexen der Arterhaltung Platz machten.

 

Der Brite ließ nicht locker und Till fand heraus, dass der Offizier mit seiner Aufklärungsarbeit nicht nur seines exemplarischen Falles wegen viel Zeit investierte, sondern eigene Interessen verfolgte. Er fand heraus, dass das niederrheinische Städtchen von dem Briten bewusst als Standort gewählt worden war und es eine geheimnisvolle Bindung zwischen beiden geben müsse. Till und der Offizier belauerten sich bei ihren Zusammenkünften gegenseitig und jeder wusste das vom anderen und zwischen ihnen bildete sich die unausgesprochene Regel, offen miteinander umzugehen.

Till wusste vom Briten, dass seine Eltern 1936 nach London aufgebrochen waren, um den Schikanen der Nazis zu entkommen und da sich der Offizier als Kind am Niederrhein wohlgefühlt hatte, war er zurückgekehrt, um herauszufinden, warum diese Landsleute ihr Land haben zerstören lassen und ob ehemalige Spielgefährten zu Naziverbrechern geworden waren.

Bei seinem nächsten Besuch legte der Brite gesammelte Zeitungsausschnitte mit Bildern auf den Tisch.

„Diese Bilder hat mein Vater 1934 aus dem ,Völkischen Beobachter’ ausgeschnitten. Es zeigt das Kaufhaus, das mein Vater auf der Friedrich-Alfred-Straße betrieb.“

Till las den Text und betrachtete die Bilder. Dann platzte es aus ihm heraus: „Das ist das Kaufhaus Wallach.“

„Weiter!“

Till starrte auf die Bilder. „Es ist das Kaufhaus Wallach und davor steht ein SA Mann.“

„Weiter!“, sagte der Brite.

„Der SA Mann ist der Julius Kock, der Fahnenträger der SA.“

„Weiter!“

„Er hält ein Plakat hoch. Ich kann nicht lesen, was drauf steht, aber ich weiß, was drauf steht.“

„Nämlich?“

„Deutsche! Kauft nicht bei Juden!“

„Und? War das auch deine Meinung?“

„Du bist bekloppt, hab´ ich zum Julius gesagt, wo denn sonst kannst du auf Kucki kaufen, brauchst nicht sofort zu bezahlen und kannst den Rest abstottern, wenn du nen Mantel brauchst. Und billiger ist er auch als bei Deutschen.“

„Und was hat der SA Mann gesagt?“

Das sei ja gerade die jüdische Niedertracht, denn mit dieser List schädige er die deutschen Konkurrenten.

„Hast du ihm geantwortet?“

„Arschloch!“, hab´ ich zum Julius gesagt, aber nicht laut, sondern in Zeichensprache.

„Ich heiße Wallach“, sagte der Brite und reichte Till die Hand, „Friedrich, Samuel Wallach. Friedrich, weil mein Vater ein Verehrer der Preußenkönige war, Samuel, weil Samuel der letzte Richter in Israel war, Wallach, weil es den Deutschen gefiel, die Juden als Außenseiter erkennbar zu machen. Man ruft mich Sammy, ein Name ohne Bedeutung.“

Es dunkelte, als Till an der Menschenschlange vorbeihuschte, die für ein Maisbrot vor der Bäckerei anstand.

Auf dem Hof parkte eine Auto, das Neugierige angelockt hatte und das ein älterer Mann fachmännisch begutachtete.

„Das ist noch deutsche Wertarbeit, eine Luxuskarosse, ein Vorkriegsmodell für die gehobene Klasse, eine seltene Rarität“, sagte der Alte und besah sich das Auto von unten. „Gut erhalten und gute Arbeit aus dem Horch Automobilwerk der Auto Union.“

Schwarz nennt man Tage, an denen verloren geht, was man wertschätzt. Als Till seine Wohnstatt betrat, war er mehr Zuschauer als Mitspieler einer Szene, die auf der Bühne hätte stattfinden können, auf der Till zum Gaudi seiner Mitgefangenen und des farbigen Bewachungspersonals manche Posse aufgeführt hatte. Das vordere Zimmerchen war in eine bunte Bühne verwandelt, Pappkartonfetzen und die Devotionalien waren auf dem Boden verstreut, Mutter Wulfen kauerte mit Kopftuch und dick angezogen mitten im Raum und schrie unentwegt „Morgen ja, aber heute nicht!“ Ein gut angezogener Grauhaariger mit goldener Uhrkette über gewölbtem Bäuchlein beugte sich über sie, tippte mit einem Zeigefinger auf das Zifferblatt der gezogenen Taschenuhr und fistelte: „Es wird Zeit! Es wird höchste Zeit! Wir kommen nicht mehr über die Zonengrenze. Die Franzmänner machen die pünktlich dicht.“

Im Durchgang zwischen den Räumen hatte sich ein Riese aufgetürmt, der seinen Rücken von Lenas Fäusten unbeeindruckt bearbeiten ließ und den Grauhaarigen fragte, ob er Lena nicht endlich auf Händen runtertragen solle.

„Ich will, dass sie uns freudig und beglückt folgt“, fistelte der Grauhaarige, „freiwillig, ohne Widerstand, freudig und beglückt. Was wollen Sie denn hier?“, fistelte er, als Till mit dem Riesen zu raufen begann.

„Morgen ja, aber heute nicht“, schrie die Wulfen, „wir sind diesem jungen Mann Dank schuldig und müssen ihm erklären, was hier los ist.“

„Dienstbotengeschwätz!“ Der Grauhaarige gab dem Riesen ein Zeichen und als der Lena fassen wollte, um sie wegzutragen, konnte sie ihm entwischen. Sie warf sich Till an die Brust, krallte sich fest und küsste ihn.

„Das also ist es. Was auch sonst hätte euch in diesen entsetzlichen Löchern halten sollen.“

Der Riese riss Lena los und schleppte die Widerspenstige auf seinen Armen die Treppe hinunter. Mutter Wulfen huschte an Till vorbei und rief ihm zu: „Du hörst von uns.“

Der Grauhaarige verabschiedete sich mit einem steifen „Habe die Ehre“ und unten schrie Lena: „Ich liebe dich!“

Till blieb versteinert zurück. Ich liebe dich, hundertfach klang ihm das Echo in den Ohren. Er warf sich auf seinen Strohsack und spürte Schmerzen des Liebesentzuges, er verfluchte Gott, die Welt und das Schicksal, das ihm Liebeserfahrungen verwehrte, von denen er Selbstwertgefühle, Selbstachtung und Gesundung an Leib und Seele erhofft hatte.

 

Die Frau des Bäckers hatte von Liebe eine handfestere Meinung. Sie behauptete, ein Mann sei ohne Frau nicht lebensfähig. Man brauche sich nur Tills Bude anzusehen, seitdem ihm die beiden Frauenzimmer davongerannt seien. „Wenn ich nicht auf Sie aufgepasst hätte, wären Sie längst verhungert“, nörgelte sie, wenn sie Till zu essen brachte. Ein Bild von einem Mann habe in diesen Zeiten die Verpflichtung, sich der Frauenwelt zu erhalten, denn der Krieg habe nicht mehr viel übrig gelassen für deutsche Frauen und die Auswahl sei nicht mehr besonders groß. Er solle sich gefälligst aufrappeln, denn schließlich gebe es auch noch andere schöne und begehrenswerte Frauen auf Gottes Welt. Dabei ließ sie durchblicken, dass ein Mann, der immer nur sein Geschäft im Kopf habe, morgens früh aus dem Bett müsse und abends wieder früh hinein, eine Ehe durch rhythmische Störungen zur Auszehrung bringe und damit dem Anspruch einer Frau auf ein gewisses Gefühl auch nicht gerecht werde.

Angesprochen darauf, ob es einen Mann, dem man anvertraut sei, nicht demütige, wenn sie danach trachte sich anderswo zu verköstigen, konterte die Bäckersfrau mit dem Argument: „Auch Unterlassungen sind demütigend.“

Damit gab die Frau des Bäckers ihre Überzeugung preis, dass es der Liebe ohne zuhanden sein eines Leibes an liebevollen Erfahrungen mangele und die Selbstachtung, noch mehr aber das Selbstwertgefühl verhungere und Liebe damit zu langem Siechtum verurteilt sei. Diese bittere Erfahrung mache Till soeben durch und irgendwann, wenn nicht nur Geist und Seele, sondern auch sein Körper gegen den Liebesentzug rebelliere, wisse er ja, wo ihm geholfen werden könne.

Da Till dem überraschenden Anspruch der Frau nicht gerecht werden wollte, überließ er sich seinen Träumen. Wenn er mal zum Fenster hinausschaute, wunderte er sich, dass Bäume und Sträucher blühten, Vögel zwitscherten und die Wärme der Backstube manchmal unangenehm wurde. Seine Haare hingen lang herunter, ein kräftiger Bart war ihm gewachsen und die Frau des Bäckers war ein täglicher Gast. Sie gestand ihm, dass sie sich immer, wenn sie ihm zu essen brachte, ein Zigarettchen von seiner Fensterbank erlaube und dabei Einblicke in seine Fantasien, Träumereien und Hirngespinste gewonnen habe, die sie erschreckt oder belustigt hatten, besonders, wenn sie nichts verstanden habe von den ethischen Bindungen im Sozialgeflecht und dem ganzen Kram.

Till verblieb, Lena nachtrauernd, in seiner Grübelecke, kratzte, lauschte und sah nachts in den Sternenhimmel, suchte, wenn es Wetter- und Sichtverhältnisse erlaubten, den Nordstern auf, den er fand, wenn er sich am Großen Wagen orientierte. Unversehens verirrte er sich dabei in den Tierkreis, an dem Seefahrer schon in alten Zeiten ihren Standort lokalisiert und die Richtung bestimmt hatten. Er dachte an die drei Weisen aus dem Morgenland, die den Weg nach Bethlehem aus der Konjunktion von Jupiter und Saturn im Zeichen der Fische herausgelesen hatten. Und dann rückte eines Nachts seine Großmutter Kunigunde ins Bild, die am Tor I der Krupp’schen Hütte ihr Büdchen aufgeschlagen hatte. Mit dem Verkauf von Nappos, Negergeld, Knickerlimonade und Hannewackerpriem wurde sie nicht reich, aber den Frauen, die an Lohntagen ihre Männer am Tor I abschnappten, holte sie viel Geld aus der Tasche mit ihrer Spökenkiekerei in den Sternenhimmel. „Wie oben, so unten und wie unten, so oben“, behauptete Oma Kunigunde und natürlich hatte sie auch in die Sterne geguckt, als Till geboren wurde im Zeichen der Fische: „Der wird sein Leben lang suchen, was dahinter steckt, was er sich nicht erklären kann“, weissagte die Oma, „der will wissen, was dahinter steckt, wenn ihm was passiert.“

Mit der Hoffnung auf unverrückbar Richtungweisendes, begann Till die Informationen zu ordnen, die der Brite herbeigeschafft hatte. Dabei fiel er in ein dunkles Loch und stieß immer wieder auf eine Lücke, die ihm besondere Kopfschmerzen bereitete. Der Brite hatte Tills Spur 1935 verloren, im Januar 1945 hatte man ihn aus dem Granattrichter ausgegraben. Dazwischen lagen zehn dunkle Jahre. Was war in diesen Jahren geschehen? Die Geschichtsbücher gaben darüber Auskunft, aber sein persönliches Schicksal von seinem zehnten Lebensjahr bis zu seiner Wiedergeburt im Lazarettzelt der US Army in Cherbourg konnte er daraus nicht ableiten. In Plön, so hatte der Brite gesagt, habe er seine Spur verloren und er hatte noch andere Städte genannt, in denen er seine Jugend verbracht haben sollte. Der Gedanke, es könne Plön gewesen sein, ließ ihn nicht mehr los, schließlich beunruhigte der Gedanke ihn und er fasste den Entschluss, sich mit Luxusgütern aus amerikanischer Gefangenschaft auf den Weg nach Plön zu begeben. Der Bäckersfrau verkündete er, dass er sich unverzüglich auf die Reise in die Vergangenheit begebe.

Nur wenige Luxusartikel entnahm Till dem Seesack, der immer mehr in sich zusammensackte und vorsichtigeren Umgang mit der amerikanischen Marketenderware anmahnte. Der Rucksack hing locker herunter, als Till sich unbeschwert auf Trittbrettern, Tendern und Kohlewagen herumtrieb und sich irgendwo in Schleswig Holstein ins nasse Gras fallen ließ. Den Rest des Weges schaffte er auf Bauernkarren und zu Fuß.

 Plön gehörte zur britischen Besatzungszone. Schon bevor Till das Stadtgebiet erreichte, wimmelte es von britischen Besatzungssoldaten. Mit der besiegelten Aufenthaltsgenehmigung des Briten in der Tasche hatte er Kontrollen der Militärbehörden nicht zu befürchten und er hoffte, ungestört in dem Städtchen nach einem ehemaligen Bewohner seines Namens fahnden zu können.

Am Rande der Stadt stieß er auf ein windschiefes Häuschen, klein, bemoost und unansehnlich. Von der Historie gebeutelt, sah man dem Häuschen den Nachholbedarf handwerklicher Fürsorge an allen Ecken und Kanten an. Hinter einem wackeligen Staketenzaun buckelte ein altes Weiblein mit Spaten und Harke herum, kniete ab und zu nieder und riss Wurzelwerk aus dem Boden. „Es ist der Giersch, der einem das Leben schwer macht“, stöhnte die Frau und stemmte die Arme in die Hüften, um Luft zu holen. „Das Teufelszeug wird man nicht los, mein Vater und mein Großvater haben sich schon damit herumgeschlagen. Jahr für Jahr reißt man das Zeug raus und Jahr für Jahr ist es wieder da.“

„Geben Sie mir mal den Spaten“, sagte Till, legte den Rucksack ab, sprang über den Zaun und spuckte in die Hände. Kräftig stieß er den Spaten in die Erde, blieb aber unter der Erdoberfläche hängen an weichem aber unnachgiebigem Widerstand. Mehrere Male stieß er den Spaten an derselben Stelle in den Boden, ohne tiefer eindringen zu können. „Der Spaten ist zu stumpf“, sagte Till und es war das Eingeständnis seines Versagens, als er fragte: „Wie heißt das Zeugs?“


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