Eckhold: Die Rundholz - Eine Familiensaga aus dem Ruhrgebiet!

19,98
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Das Leben der Rundholz, einer Arbeiterfamilie des Ruhrgebietes, seit Beginn der Machtergreifung durch die NSDAP im Jahre 1933 bis heute wird beeinflußt von Liebe, Macht, Intrigen, Strebsamkeit, Idealismus, Religion und Politik. In den schwersten und existenzgefährdenden Lebenslage, getragen von der Erkenntnis, dass beruflicher Aufstieg und Erfolg nur über Bildung und persönlichen Einsatz zu erreichen ist, geht jedes der Familienmitglieder seinen ganz eigenen Weg ...

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Dr. Heinz-Jörg Eckhold, Jahrgang 1941 wurde in Oberhausen geboren und wuchs in einer Arbeiterfamilie mit sechs Kindern auf. Mit Volksschulbildung und Ausbildung zum Maschinenschlosser erreichte er die Hochschulreife, studierte in Köln und Essen Pädagogik und promovierte 1977. Nach sieben Jahren als Lehrer widmete sich der seit 1967 verheiratete Autor ab 1978 der Erwachsenenbildung im Bistum Essen. Seine politischen Tätigkeiten beginnen 1959 und führen ihn über den Partei- und Fraktionsvorsitz in der CDU Oberhausen für 24 Jahre in den Rat der Stadt Oberhausen und machen ihn von 1995-2005 zum Mitglied des Landtages in Nordrhein Westfalen.

 

Heinz-Jörg Eckhold: Die Rundholz, 816 Seiten, Broschur, € 19,98 , ISBN 978-3-86992-052-8
 
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Leseprobe:
 

ZURÜCK ZU DEN WURZELN

Familienbande

In Osterfeld, einem Stadtteil der heutigen Stadt Oberhausen, die am nordwestlichen Rand des Ruhrgebietes liegt, wurde am 16. August 1904 Paul Rundholz als fünftes Kind der Familie Theodor und Maria Rundholz geboren. Seine Eltern kamen aus dem Münsterland. Während der Vater in Herbern zur Welt kam, wurde seine Mutter, eine geborene Mersmann, in Stockum, genauer in der Bauernschaft Wessel, nahe bei Herbern, geboren.

Als Maria und Theodor vor den Traualtar traten, um zu heiraten, da brachte sie von ihrem kleinen elterlichen Bauernhof eine für damalige Verhältnisse gute Mitgift in die Ehe ein. Die schwarze Eichentruhe, die sie vom Hof mitnehmen durfte, war gefüllt mit guter Bettwäsche, Tischdecken, Handtüchern und anderen Gebrauchsgegenständen für den Hausgebrauch. Auch einige Taler unterstützten ihre ersten gemeinsamen Lebenswochen. Ihr Mann Theodor hingegen hatte nach seiner ersten Tätigkeit als Knecht auf einem Bauernhof bei der königlichen Reichsbahn eine Stelle erhalten, in der er nach einiger Zeit in den Beamtenstand aufgenommen wurde und als Rangierer seinen Dienst wahrnahm.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der königliche Rangierführer zum Verschiebebahnhof Osterfeld versetzt. Mit seiner Frau und drei Kindern suchte er sich in Osterfeld auf der Michelstraße eine Wohnung. Bis zum Jahre 1918 gebar Maria Rundholz dreizehn lebende Kinder, von denen allerdings – auch bedingt durch die schwere Zeit nach dem I. Weltkrieg – sieben Kinder noch vor Erreichung des zwanzigsten Lebensjahres verstarben.

Im dreizehnten Lebensjahr wurde Sohn Paul, ihr fünftes Kind, für zwei Jahre als Kriegskind auf einen Bauernhof nach Vorhelm in Westfalen gegeben, denn zuhause war die Ernährung nicht mehr gewährleistet. 1916/1917 herrschte in Deutschland bittere Not und in den sogenannten Kohlrübenwintern starben viele Menschen an Unterernährung. Auf dem Bauernhof der Familie Nagel war Paul willkommen und er wurde behandelt wie ein Kind der Familie. Insbesondere Bäuerin Mutter Nagel nahm sich seiner an und sorgte dafür, dass er immer satt zu essen bekam.

In dieser Zeit lernte Paul auch den großen Bauernhof der Familie Wibbelt kennen, deren Sohn Augustin, katholischer Pfarrer und plattdeutscher Dichter des Münsterlandes, später im Leben des Paul Rundholz noch eine besondere Rolle spielen sollte.

Weil in dieser Kriegs- und Krisenzeit leider auch kein geregelter Schulbesuch möglich war, konnte Paul nach dem Krieg, als er wieder zuhause war, gerade sechs Schuljahre nachweisen. Als im Jahre 1919 seine beiden älteren Brüder mit 18 und 19 Jahren an der teuflischen Tuberkulose starben, musste er sich mit noch nicht 15 Jahren eine Tätigkeit suchen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Vier Monate arbeitete er in einer Sandkuhle nahe der elterlichen Wohnung. Das Füllen der Loren mit Sand war eine schwere körperliche Arbeit, die insbesondere an regnerischen Tagen seine Körperkraft überforderte. Dann hörte er von einer Hilfsarbeiterstelle auf der Gutehoffnungshütte (GHH) in Sterkrade. Gesucht wurde ein junger Mann, der zum Kranführer ausgebildet werden sollte. Nachdem er sich im Personalbüro des großen Eisenwerkes gemeldet und vorgestellt hatte, erhielt er zu seiner Freude die Stelle. Von da an stand er jeden Morgen vor 5:00 Uhr auf, machte sich zu Fuß auf den Weg nach Sterkrade, um pünktlich um 6:00 Uhr auf der GHH seine Arbeit aufzunehmen. Schon bald war er bei den Kollegen in der Halle 3 des Brückenbaus ein beliebter und geschätzter Mitarbeiter, der verlässlich und immer pünktlich seinen Dienst versah.

Aber auch in seiner Freizeit machte er sich viele Freunde. Bei Wacker 04 Osterfeld war er als rechter Läufer kaum zu ersetzen, und als Leichtathlet lief er über 800 m auch ohne Training gute Zeiten. Besondere Freude bereitete ihm der Männergesang. Als sich aus dem Gesellenverein Adolf Kolpings, dem er mit achtzehn Jahren beigetreten war, ein Männerquartett bildete, übernahm er die Bassstimme, brachte sich selbst das Spielen der Laute bei und war fortan auch ein guter Solist.

Da er im Kranführerhäuschen des Öfteren auch zum Lesen Zeit hatte, nahm er sich Bücher und Gedichtbände mit, deren Sprache und Ausdruckskraft ihn innerlich beglückten. Eines Tages versuchte er seine Gedanken und Gefühle ebenfalls in Verse zu fassen. Ganz erstaunt stellte er fest, dass ihm das gut gelang und dass es viel Freude bereitete. So überraschte er in der Folgezeit an besonderen Geburtstagen oder Feierlichkeiten im häuslichen Rahmen oder des Gesellenvereins die Teilnehmer mit gereimten Versen, was ihm viel Beachtung einbrachte. „Das ist unser Heimat- und Arbeiterdichter,” sagten die Arbeitskollegen untereinander und belächelten ein wenig den aufgeschlossenen jungen Mann.

Als er Sophia Epke kennenlernte, da war er bereits 28 Jahre alt. Sofort war er Feuer und Flamme für diese schlanke, groß gewachsene, blonde junge Frau. Doch es sollte noch einige Zeit vergehen, bis sie sich näher kommen konnten.

Sophia Epke wohnte ganz in seiner Nähe auf der Waisenhausstraße in Osterfeld, das zur damaligen Zeit – wie auch Sterkrade, der Nachbarort – eine selbständige Gemeinde war. Ihre Eltern waren Franz und Helene Epke. Der Vater kam in Ahlen in Westfalen zur Welt, während ihre Mutter in Duisburg geboren wurde. Am 23.Mai 1905 heirateten sie in Oberhausen und wurden in Osterfeld sesshaft. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor: Franz, Sophia, Heinz und Emil. Den Lebensunterhalt für die Familie verdiente Vater Franz bei der königlichen Eisenbahn in Osterfeld als Zugführer. So verwundert es nicht, dass sich Rangierer Theodor Rundholz und Zugführer Franz Epke als Arbeitskollegen kannten.

Sophia Epke, 1909 geboren, wuchs mit ihren Brüdern in einem sehr gepflegten, aber einfachen Haushalt auf. Sie besuchte die nahe gelegene Volksschule und war eine gute Schülerin. Als sie gerade zehn Jahre alt war, verstarb sehr plötzlich ihre Mutter. Die Trauer in der Familie war groß, und die Kinder vermissten ihre geliebte Mutter sehr. Vater Epke hatte seine Frau geliebt und trauerte eine längere Zeit, doch dann entschloss er sich erneut zu heiraten. Ihm war immer bewusster geworden, dass er, der er selbst ein ruhiger und zurückhaltender Mann war, vor allem für die Kinder eine neue Bezugsperson finden wollte, die ihnen helfen konnte, erwachsen zu werden. Schon bald fand er in Mathilde Österholz eine neue Ehefrau und für seine Kinder den gewünschten „Mutterersatz.”

Die Kinder kamen mit ihr zurecht, doch die leibliche Mutter konnte sie nur unvollkommen ersetzen. Sie führte den Haushalt, war sehr korrekt und hatte den leichten Überheblichkeitsfimmel, wie ihn viele Beamtenfrauen wegen des Beamtenstatus ihrer Männer hatten. Eine zweite, beinahe religiöse Macke kam hinzu, denn sie wollte unbedingt, dass einer der Stiefsöhne das Priesteramt anstreben sollte. Beim ältesten Sohn Franz, Sophias Lieblingsbruder, kam sie mit ihrem Ansinnen zu spät, denn der hatte bereits eine Lehre als Schmied begonnen und ging danach zur Polizei. Anders verhielt es sich bei ihren Brüdern Heinz und Emil. Als diese die Schulbank verlassen hatten, wurden sie von Stiefmutter Mathilde so lange geistig bedrängt, bis sie einwilligten und als Brüder ins Kloster gingen.

Über ihre Zufriedenheit in dieser Zeit ist wenig bekannt; allerdings verließen beide das Kloster, als die Nationalsozialisten auch die wehrfähigen Männer aus den Klöstern zu den Waffen befahlen. Sophia wurde von Stiefmutter Mathilde zwar nicht ins Kloster gedrängt, doch auch sie sollte eine besondere Ausbildung erhalten. Weil schon früh zu erkennen war, dass Sophia alle Hausarbeiten mit großem Geschick erledigte, wurde sie zur Ausbildung als Hausangestellte und Küchenhilfe nach Dortmund in das ‘Josefinen-Stift’ geschickt. Hier wurden junge Frauen insbesondere darauf vorbereitet, Pfarrern und Vikaren den Haushalt zu führen. Es ist anzunehmen, dass Mutter Mathilde diese Ausbildung auch als Prüfung der Gemütslage bei Sophia ansah, ob sie nicht doch Nonne werden wollte?

Diese Hintergründe und Erwartungen in der Familie Epke kannte Paul selbstverständlich nicht, als er Sophia nach einem Hochamt in der St. Pankratius-Kirche zufällig traf und sofort von ihr irgendwie verzaubert war. Da auch seine jüngeren Schwestern mit ihm in der Kirche waren, fragte er sie, wer denn diese tolle Frau sei? „Das ist Sophia Epke. Die ist schon seit einiger Zeit in Dortmund und soll jetzt einem Pastor den Haushalt führen,” bekam er von seiner Schwester Maria zu hören.

Danach schaffte er es in die Nähe Sophias zu kommen und stellte sich ihr als der Bruder von Maria, Josefine und Elly vor. Als das Gespräch auf den Gesellenverein Adolf Kolpings und dessen abendliche Veranstaltung am nächsten Samstag kam, sah Paul eine Chance, Sophia zu dieser Veranstaltung einzuladen. Er schaute sie freundlich an und sagte: „Ich war so überrascht, Sie hier zu treffen und wusste gar nicht, dass Sie meinen Schwestern bekannt sind. Ich bin auch Mitglied des Gesellenvereins und würde Sie gerne zur Abendveranstaltung in der nächsten Woche am Samstag einladen. Ich möchte Sie gerne wieder sehen.” Damit hatte Sophia wohl nicht gerechnet, obwohl auch sie Paul vom ersten Moment an als sehr ansprechend empfand. Doch ohne Scheu und Pauls freundliche Einladung annehmend antwortete sie: „Wenn es eben möglich ist, dann werde ich zum Gesellenverein kommen. Da ich in Dortmund arbeite, ist es notwendig, meine Zusage vor Ort abzuklären. Auch ich würde Sie gerne wieder sehen.” Danach gaben sie sich die Hand und machten sich auf den Heimweg.

Pauls Schwestern hatten die Verabredung ziemlich sprachlos mitbekommen. Erst auf dem Weg nach Hause meinten sie: „Du hast aber ganz schön Tempo gemacht. Du kanntest doch die Sophia gar nicht und hast sie sofort für nächsten Sonnabend eingeladen. Hat dich wohl Knall auf Fall verliebt, nicht wahr?” „Darauf werde ich euch nicht antworten, ich hoffe nur, dass sie kommen wird,” gab er zur Antwort. An der Art und Weise, wie er das sagte, erkannten sie, dass ihr Bruder für Sophia Ecke Feuer gefangen hatte.

Am besagten Samstag feierte der Gesellenverein sein Gründungsfest. Alle Mitglieder und auch deren Angehörige waren zu dieser Feier eingeladen. Der Ablauf der Feier war in zwei Programmpunkte gegliedert. Der erste Teil sollte der Gründung des Gesellenvereins und der zeitgemäßen Umsetzung des Ideengutes Adolf Kolpings gewidmet sein, danach sollte die Ehrung der Jubilare erfolgen. Mit Gesang, Musik und Tanz würde sich dann der zweite Teil der Veranstaltung anschließen.

Da Paul seit einigen Monaten in der Führung des Gesellenvereins als Senior für die Gruppe der unverheirateten Kolpingsöhne tätig war, musste er an diesem Abend die Leitung durch das Programm übernehmen. Hocherfreut konnte er vor Beginn der Feier Sophia Ecke begrüßen, die seiner Einladung gefolgt war. Sie kam in Begleitung von Maria und Elly, Pauls Schwestern, die diese Verabredung jedoch vor Paul geheim gehalten hatten. Sophia trug ein dunkelblaues Kleid, das durch einen weißen Kragen, durch eine weiß abgesetzte, aufgenähte Tasche und durch weiße Borde an den dreiviertellangen Armen ihre tadellose Figur unterstrich. Der faltige Rock bedeckte die Knie, so wie es damals Mode war, aber dennoch konnte man ihre wohlgeformten Beine sehen und erahnen. Paul begleitete Sophia und seine Schwestern an einen gemeinsamen Tisch, an dem für ihn – neben Sophia – ein Platz freigehalten wurde.

Danach leitete er die Veranstaltung souverän. Er beeindruckte alle Teilnehmer durch seine Kenntnis der Ideen Adolf Kolpings, ehrte die Jubilare mit einem Prolog, den er selbst gedichtet hatte und gab danach dem frohen Treiben bei Musik und Tanz Raum.

Er selbst war froh, dass er endlich neben Sophia Platz nehmen konnte. Diese wiederum war begeistert, mit welcher Selbstverständlichkeit Paul die Veranstaltung geleitet hatte. Dass er Senior des Gesellenvereins war, das hatten ihr zuvor Pauls Schwestern verraten. Im Verlauf des Abends tanzten Sophia und Paul einige Male. Dabei musste Sophia feststellen, doch dieses hatte er ihr auch bei der ersten Aufforderung zum Tanz sofort gesagt, dass er kein guter Tänzer war. Die Tanzschritte konnte er, auch der Takt stimmte, doch es fehlte die besondere Flüssigkeit, das geschmeidige Gleiten über den Tanzboden. Sophia war darüber überhaupt nicht verwundert, denn auch sie hatte bisher kaum Gelegenheit zum Tanzen. Gleichzeitig hatte sie auch festgestellt, dass ihr Tanzpartner nur wenige Zentimeter größer war als sie selbst.

Viel besser gefiel es ihnen, dass sie von Anfang an spürten, wie sehr sie sich zueinander hingezogen fühlten. Sie erzählten über ihre Familien, lachten über die Erlebnisse mit ihren Geschwistern, sprachen über ihren bisherigen Werdegang und über zukünftige Erwartungen.

Als die Feier zu Ende ging, da hatten sie das Gefühl, sich tief in die Seele geschaut zu haben. Bei einem Glas Wein vereinbarten sie das Du, was sie mit einem flüchtigen Kuss in aller Öffentlichkeit besiegelten. Später brachte Paul zusammen mit Sophia zuerst seine Schwestern nach Hause, um sie dann selbst zu ihrer Wohnung zu begleiten. Als sie sich verabschiedeten, nahmen sie sich in die Arme und küssten sich inniglich. Beide hatten das Gefühl auf einer Wolke zu schweben, in grenzenloser Vertrautheit. Sie vereinbarten, sich bald wieder zu sehen. Sophia wusste allerdings noch nicht, wann dieses möglich sein würde, denn zurzeit machte sie ein Berufspraktikum im Pfarrhaus des Pfarrers Herold in Dortmund. Paul versprach, dass er ihr schon bald einen Brief schreiben werde, aber dennoch hoffe, sie bald wieder zu treffen.

In den nächsten Tagen musste Paul oft an Sophia denken und er hoffte, dass es ihr genauso erging. Den ersten Brief schrieb er ihr sofort am Montagnachmittag, nachdem er von der Arbeit nach Hause gekommen war. Diese Frau hatte ihn in ihrer einfachen und schlichten Art verzaubert. Geflirtet hatte er immer sehr gerne, und es gab einige junge Frauen, die über eine engere Bindung an ihn erfreut gewesen wären. Doch bis zur Begegnung mit Sophia war es immer beim unverbindlichen Flirt geblieben. Als er seinen Brief an Sophia schrieb, da war ihm bewusst, dass er ihr seine Zuneigung gestehen wollte. Jetzt, 28 Jahre alt, hatte er die viel genannten Schmetterlinge im Bauch. Das Feuer der Liebe hatte ihn erfasst.

Aber auch Sophia ging es kaum anders. Während ihrer Hausarbeit im Pfarrhaus hatte sie so manche Gelegenheit sich in Gedanken nach Oberhausen zu versetzen und über die Begegnung mit Paul nachzudenken. Als Pfarrer Herold sie einmal ganz in Gedanken versunken stehen sah, fragte der alte Herr ohne jeden Hintergedanken: „Sophia, du hast wohl ein schönes Wochenende verbracht? Du strahlst so und siehst glücklich aus.” Sophia, zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt, fühlte sich irgendwie ertappt, bekam einen roten Kopf und antwortete: „Es stimmt, ich hatte ein schönes Wochenende. Ich war auf dem Gründungsfest unseres Gesellenvereins, das im Pfarrsaal durchgeführt wurde.” „Na, das ist ja prima. Waren bestimmt auch fesche Gesellen dabei,” meinte Pfarrer Herold und verließ das Zimmer ohne eine Antwort abzuwarten.

Sophia richtete es in den kommenden Tagen so ein, dass sie morgens dem Postboten die Tür öffnete und die Post entgegennahm. Am Mittwoch endlich war Pauls Brief dabei, den sie sofort in ihrer weißen Schürze verschwinden ließ, um ihn bei nächster Gelegenheit zu lesen. Es waren ganz liebe Zeilen, die er an sie gerichtet hatte, und sie hatte fast das Gefühl, dass er vor ihr stehe und sie in die Arme nehme. Zum Schluss schrieb er: „Wir kennen uns noch gar nicht sehr lange, doch ich habe das Gefühl, als hätten wir auf uns gewartet, um uns nicht mehr zu verlieren. Ich habe ständig Dein Bild vor Augen und möchte Dich sehr bald wieder sehen. Wenn Du nicht kommen kannst, dann komme ich gerne auch nach Dortmund, um Dich zu sehen und Dir nahe zu sein. Dein Dich liebender Paul.”

Als Sophias Antwortbrief auf der Michelstraße eintraf, war Paul noch auf der Arbeit. Seine Mutter nahm den Brief entgegen und stellte ihn auf die Ablage am Küchenschrank. Da seine Schwestern vor ihm zuhause waren, staunten sie nicht wenig darüber, dass Sophia Paul geschrieben hatte. „Da tut sich etwas,” gackerte Schwester Josefine hell lachend. „Ich glaube der Paul hat sich verliebt.” „Das scheint eine ernste Sache zu sein,” meinte Elly. „Der Paul ist ganz anders als sonst. Ich glaube, den hat es diesmal erwischt.” Mutter Maria hatte diese Bemerkungen mitbekommen und sagte darauf in aller Ruhe: „Der Paul ist alt genug und weiß, was er will. Ihr habt selbst gesagt, dass die Sophia Epke eine hübsche und angenehme Person ist. Haltet euch darum gegenüber Paul ein wenig zurück mit euren lästernden Reden.”

Von der Arbeit zurück sah Paul sofort den Brief auf der Ablage stehen, nahm ihn an sich, ging ins Wohnzimmer, öffnete ihn und las mit innerem Frohlocken, dass Sophia seine Gedanken und Gefühle teilte. Leider könne sie am Sonnabend nicht nach Sterkrade kommen, da die eigentliche Haushälterin des Herrn Pastor für einige Tage verreisen musste, sodass sie für diese Zeit den Haushalt zu führen habe. Sie würde sich aber sehr freuen, wenn er am Samstagnachmittag nach Dortmund kommen könne. Sie beendete den Brief, indem sie schrieb: „Ich warte auf Dich. Deine Dich liebende Sophia. P.S. Weil für eine briefliche Antwort von Dir die Zeit nicht mehr ausreicht, bitte ich Dich, mich hier im Pfarrhaus anzurufen.” Die Telefonnummer des Pfarrhauses hatte sie aufgeschrieben, sodass Paul sie schon zwei Stunden später anrufen konnte. Zuhause erklärte er nur, dass er am Samstag Sophia Epke in Dortmund besuchen werde.

Wie diese Liebesgeschichte danach in Einzelheiten weiter gegangen ist, das entzieht sich der Kenntnis des Schreibers dieser Zeilen. Richtig ist, dass sich Sophia und Paul, so oft es möglich war, in der Folgezeit getroffen haben. Sie waren ein verliebtes Paar und verlobten sich zu Weihnachten 1932. Von diesem Tag an sparten und rüsteten beide auch für eine baldige Hochzeit.

Als sie im April 1933 mit großem Glück die Zusage für eine kleine Mansardenwohnung in Sterkrade auf der Neumühler Straße erhielten, beschlossen sie im August des Jahres 1933 zu heiraten. Die Freude über die baldige gemeinsame Zukunft muss so groß gewesen sein, dass sich Sophia und Paul zum Ende des Frühjahres einander ganz nahe kamen und ihr erstes Kind zeugten.

Da Paul in der Zwischenzeit zum Pfarrer und Dichter Augustin Wibbelt in Mehr bei Kleve Kontakt aufgenommen hatte, den er seit seiner Zeit als Kriegskind in Vorhelm immer im „Blick” behalten hatte, um ihn zu bitten, seine ersten Gedichte und Erzählungen wohlwollend und kritisch bezüglich einer Veröffentlichung im Kirchenblatt der Diözese Münster zu prüfen, kam gleichzeitig die Idee auf, sich auch von ihm kirchlich trauen zu lassen. Pfarrer Wibbelt unterstützte das literarische Wirken von Paul auf seine Weise, indem er, als der dafür Verantwortliche, nacheinander einige Gedichte und Erzählungen im Kirchenblatt des Bistums Münster veröffentlichte. Auch freute er sich darüber, dass Sophia und Paul mit seinem priesterlichen Segen kirchlich heiraten wollten.

Für Sophia und Paul war es eine spannende und glückliche Zeit. Vom Standesbeamten in der neuen Großstadt Oberhausen, die nach einer Gebietsreform inzwischen aus den drei Stadtteilen Sterkrade, Osterfeld und Oberhausen gebildet worden war, wurde der Termin für die standesamtliche Hochzeit auf den 20. August 1933 festgelegt. Die feierliche kirchliche Trauung wurde für den 22. August 1933 vereinbart. Wie festgelegt, fand die standesamtliche Hochzeit am 20. Juli im Rathaus zu Oberhausen-Osterfeld statt. Der teilnehmende Kreis an Personen war bewusst klein gehalten worden, da sie allein die kirchliche Hochzeit in einem etwas erweiterten Rahmen feiern wollten. Die finanziellen Mittel waren in beiden Familien begrenzt, und Paul und Sophia gedachten ihre Ersparnisse für die Einrichtung der Wohnung aufzuwenden.

So waren zur Zeremonie im Standesamt beide Elternpaare und als Trauzeugen, Sophias Bruder Franz und Pauls Schwester Maria erschienen. Sophia trug ein blaues Kostüm, das sie gut kleidete und ihre schlanke Figur betonte. Paul war in einem schwarzen Anzug erschienen, den die Männer damals immer zu besonderen Anlässen trugen. Der Standesbeamte erledigte seine Aufgabe mit viel Routine und ermahnenden Worten, diesen Ehebund als tragfähige Grundlage für das weitere gemeinsame Leben zu begreifen. Maria und Franz bestätigten mit ihren Unterschriften das Heiratsdokument, und die Eltern beglückwünschten sich und ihre Kinder in der Hoffnung auf viele gemeinsame Jahre.

Zur kirchlichen Trauung in der Pfarrkirche zu Mehr bei Kleve waren neben den Eltern und den bekannten Trauzeugen auch Pauls Schwestern Josefine, Elly und Angela angereist. Seine älteste Schwester Grete, seit einigen Jahren mit dem Lokführer Heinrich Stein verheiratet und inzwischen Mutter von zwei Söhnen, hatte kurzfristig mitgeteilt, dass sie wegen einer Krankheit ihres Sohnes Theo nicht aus Hamm i. Westfalen kommen könne, was sie sehr bedaure. Sophias weitere Brüder Heinz und Emil waren damals im Noviziat des Ordens und hatten keine Erlaubnis zur Teilnahme erhalten. Dazu kamen noch drei Mitglieder des Männer-Quartetts, in dem Paul sang, sowie einige gute Freunde aus dem Gesellenverein und aus dem Kirchenchor, dem er ebenfalls angehörte.

Sophia hatte sich erneut für ein nicht ganz weißes, cremefarbenes Kostüm entschieden, dazu trug sie Handschuhe, einen zum Kostüm passenden mit Spitze abgesetzten Hut und cremefarbene Schuhe mit höheren Absätzen. In den Händen hielt sie einen kleinen Brautstrauß aus gelben Rosen. Paul trug wiederum seinen schwarzen Anzug, den am Revers ein kleines Blumensträußchen schmückte, dazu am Hals eine weiße Fliege. Seine volle Haarpracht hatte er zur Feier des Tages vom Friseur ordentlich beschneiden lassen. Alle weiteren Teilnehmer hatten sich dem Anlass entsprechend festlich aber einfach gekleidet. Pauls Schwestern waren in ihren luftigen Sommerkleidern herausgehobene Farbtupfer, denn beide Elternpaare trugen ohne Ausnahme die damals übliche dunkle Kleidung. Sophias Bruder Franz hatte einen hellgrauen Sommeranzug angezogen, der die sommerlichen Temperaturen erträglich machte und gut zu seiner sportlichen Figur passte. So erwarteten alle gemeinsam, vor der Kirche stehend, Pfarrer Wibbelt, der im Münsterland, am Niederrhein und vor allem im Bistum Münster wegen seiner plattdeutschen Gedichte und Erzählungen sehr bekannt war.

Als Pfarrer Augustin Wibbelt dann aus dem seitlich von der Kirche gelegenen Pfarrhaus gekommen war und nach einer freundlichen Begrüßung mit der Hochzeitgesellschaft seine Pfarrkirche betrat, ertönte die Orgel mit vielen Akkorden. Paul erkannte sofort am Orgelspiel, dass auch Organist und Chorleiter Krähenheide aus Osterfeld angereist sein musste, denn diese Passage aus einem Orgelkonzert Nr. 14 von Georg Friedrich Händel, spielte er meisterlich. Mit seinem Erscheinen hatte Paul nicht gerechnet, sodass diese Überraschung voll gelungen war.

Pfarrer Wibbelt, ein untersetzter und stets freundlich blickender älterer Herr, vollzog die kirchliche Trauung und fand dabei für Sophia und Paul sehr aufmunternde und auch persönliche Worte. Er wünschte Paul für seine weitere literarische Tätigkeit viel Erfolg und meinte, seinen Blick auf Sophia gerichtet: „Ich bin davon überzeugt, dass Sie mit dieser Frau an Ihrer Seite noch manche gute Eingebung haben werden und auch die Höhen und Tiefen des Lebens gemeinsam meistern werden. Gottes Segen auf allen Wegen möge Sie beide begleiten.”

Vor dem Auszug aus der Kirche sang das Männerquartett, verstärkt durch den Gesang und das Orgelspiel des Organisten Krähenheide, das Lied: „So nimm denn meine Hände und führe mich.” Pauls Schwestern, aber auch die anderen Teilnehmer dieser Trauung, waren gerührt und wischten verstohlen einige Tränen aus ihren Augen.

In einer nahe gelegenen Bauerngaststätte, die einen kleinen, separaten Saal hatte, aß die genau zwanzig Personen umfassende Hochzeitsgesellschaft zu Mittag. Auch Pfarrer Wibbelt war der Einladung gefolgt und nahm an dem Essen teil. Wie bei Hochzeitsgesellschaften üblich, drehten sich die Gespräche zuerst um die Zukunft des Brautpaares, danach um Erlebtes aus dem Alltag. In einer Gesprächspause verstand es Paul, Pfarrer Wibbelt zu Aussagen über sein gegenwärtiges literarisches Schaffen zu veranlassen: „Ich erlebe mit einiger Besorgnis, wie sich seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zu Beginn des Jahres Veränderungen in unserem Volk vollziehen. Noch weiß ich nicht, und wir alle kennen nur die offiziellen Reden und Verlautbarungen, wohin sich das Ganze entwickeln wird. Ich habe nur das vage Gefühl, wenn ich an das Buch Adolf Hitlers „Mein Kampf” denke, das Sie ja auch zur standesamtlichen Hochzeit erhalten haben, dass einige unserer christlichen und abendländischen Wertvorstellungen von den neuen Machthabern zugunsten ihrer Ideologie umgedeutet werden. Aus diesem Grunde werden sich meine nächsten Arbeiten mit bestimmten Wertvorstellungen wie z.B. der Treue, dem Gehorsam, der Liebe zu den Eltern oder aber auch mit den Fragen befassen: Was heißt Gefolgschaft oder ‘blinder Gehorsam’?” An dieser Stelle machte er eine kurze Pause, sah zu Paul und Sophia herüber und meinte dann schmunzelnd: „Das ist Ihr Tag, darum sollten wir nicht zu ernst und zu politisch werden.” Und sich zu Paul hinwendend fuhr er fort: „Wir können uns noch gerne ein wenig über Vorhelm, das ist ja mein Heimatort, und Ihre Erlebnisse in den Kriegsjahren 1917/1918 auf dem Bergeickel, dieser Ansammlung von Bauernhöfen, unterhalten. Das, was ich bisher von Ihnen darüber gelesen habe, das hat viele Erinnerungen in mir wachgerufen.”

Während Pfarrer Wibbelt sprach, hatten alle am Tisch zugehört. Da er sich mit seinen letzten Worten besonders an Paul gewandt hatte, nahm man danach wieder die eigenen Gespräche auf. Paul und Sophia, wie auch ihre Eltern, denen das Münsterland von Lüdinghausen bis Beckum gut bekannt war, vertieften hingegen den Gedankenaustausch mit Pfarrer Wibbelt. Dieser empfahl sich nach dem Mittagessen in die so genannte ‘Unterstunde’, was im Plattdeutschen die Mittagsruhe umschreibt. Zuvor lud Pfarrer Wibbelt Paul und Sophia ein, auch weiterhin zu ihm Kontakt zu halten. Er verabschiedete sich bei allen und machte sich dann auf den Weg zu seinem Pfarrhaus. Die übrige Hochzeitsgesellschaft trank noch gemeinsam Kaffee, gönnte sich einige Biere und Schnäpschen, um dann wieder nach Oberhausen aufzubrechen.

Alle Teilnehmer waren der Ansicht, an einer etwas anderen aber besonderen Hochzeit teilgenommen zu haben. Sophia und Paul bezogen an diesem Abend – müde aber glücklich – ihre eigene Mansardenwohnung, die für die nächsten vier Jahre ihr Refugium, ihr Zuhause sein sollte.

Am 18.Februar 1934, an einem Sonntag, gebar Sophia ihr erstes Kind. Die Geburt verlief ohne besondere Schwierigkeiten und auch alle anderen Umstände, die in Wirklichkeit keine waren, erweckten den Eindruck, dass hier ein Sonntagskind auf die Welt gekommen war, was sich im weitern Leben tatsächlich bestätigen sollte. Die stolzen und glücklichen Eltern waren sich darüber einig, dass der Sohn den Namen des Großvaters Theodor – und in Erinnerung an die Trauung mit Pfarrer Augustin Wibbelt – den Zweitnamen Augustin tragen sollte. Am 25.Februar 1934 wurde ihr Erstgeborener in der St. Marienkirche in Osterfeld-Rothebusch auf den Namen Theodor Augustin getauft.

Als am 29.April 1935 der zweite Sohn zur Welt gekommen war, wurde dieser am 5. Mai in der St. Marienkirche des Kapuzinerklosters in Sterkrade auf den Namen Franz-Josef getauft. Beide Söhne entwickelten sich in den folgenden Jahren prächtig. Doch je größer sie wurden, desto offensichtlicher wurde auch, dass die kleine Mansardenwohnung auf Dauer vom Platz her nicht mehr ausreichen würde. So verwundert es nicht, dass sich die Familie Rundholz zum Ende des Jahres 1936 auf die Suche nach einer größeren Wohnung machte.

Da es auch damals nicht leicht war, für eine Arbeiterfamilie mit Kindern eine gute und bezahlbare Wohnung zu finden, dauerte es bis zum Februar 1937, dass sie die Zusage für eine Wohnung auf der Steinbrinkstraße in Sterkrade bekamen. Mit dem Umzug im März 1937 begannen vierundzwanzig erlebnisreiche, glückliche und manchmal auch sehr schwierige Jahre des familiären Zusammenlebens.

 

 

Das Zuhause

Auf der Steinbrinkstraße Nr. 134 in Sterkrade wohnte seit dem Jahre 1923 die Familie Wilhelm von Kamp. Der Malermeister, seine Frau, drei Töchter und der Sohn Wilhelm jun. waren in das Haus eingezogen, als mit dem Verfall des Geldes im Inflationsjahr 1923 ein sonst finanziell gut ausgestatteter Auftraggeber seine Rechnung nicht mehr begleichen konnte. Das Haus wurde zur Begleichung der Rechnung eingesetzt. Den Rest der ausgehandelten Verkaufssumme nahm Senior Wilhelm von Kamp bei der Bank auf, um das Darlehen wenige Wochen später vollkommen zurückzuzahlen, nachdem sich der Wert des Geldes im Verhältnis 1:100 verändert hatte.

Der Adelstitel „von” war schon am Ende der Kaiserzeit dem Namen beigefügt worden. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte man zuweilen, dass dieser Titel viel Geld gekostet habe, obwohl er vermutlich, so witzelten Außenstehende, nur eine Bezeichnung für die Herkunft von etwas – also örtlich gesehen – war. Damals, im Jahr 1937, trugen alle Familienmitglieder der von Kamp den Titel mit Stolz, weil er ihnen – neben dem guten finanziellen Stand aus dem Handwerksbetrieb – gleichzeitig die Türen in die gehobene Bürgergesellschaft der Stadt öffnete.

Alle Kinder der Familie von Kamp besuchten die höhere Schule; die Töchter das Lyzeum auf der Kantstraße und Sohn Wilhelm das Gymnasium am Volkspark in Sterkrade. Die Töchter erhielten Klavierunterricht, während Junior Wilhelm Hockey spielte und auf Partys ein glänzender Unterhalter war. Aber auch das Tennisspiel nahm bei den Vieren viel Zeit in Anspruch. Dieses änderte sich schlagartig, als Wilhelm von Kamp Senior Ende des Jahres 1936 ganz plötzlich verstarb. Da Sohn Wilhelm nicht in der Lage war den elterlichen Betrieb weiterzuführen und auch keine der Töchter der weiteren Führung des Malergeschäftes etwas abgewinnen konnte, wurde der Betrieb kurzerhand an Heinrich Arntzen vermietet, der aus seiner Sicht einen guten Mietpreis aushandeln konnte.

Doch der plötzliche Tod des Wilhelm von Kamp bedeutete für die Familie kräftige finanzielle Einbußen und machte es in der Konsequenz notwendig, leer stehenden Büroraum und das sogenannte Ankleide- und Klavierübungszimmer als Wohnungen zu vermieten. Mit Geschick wurde die untere Etage zu einer großen Wohnung umfunktioniert. Auch die anliegenden Zimmer am Treppenhaus, das bis unter das Dach führte, konnten als Wohnung für eine kleinere Familie hergerichtet werden. Im März 1937 bezogen Sophia und Paul Rundholz mit ihren Söhnen Theo und Franz-Josef die untere Etage im Haus der Steinbrinkstraße Nr. 134. Hans-Otto und Hildegard Reich, ein kinderloses Ehepaar, erhielten den Zuschlag für die kleinere Wohnung im Treppenhaus.

Da das Haus der von Kamp direkt mit dem Nachbarhaus verbunden war, bildeten beide Häuser zur Steinbrinkstraße eine fast 25m lange Front, die mit Ornamenten und Tierköpfen geschmückt, gut anzusehen war. Von vorne gesehen wurde diese Häuserfront sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite durch Toreinfahrten begrenzt, die auf die hinteren Höfe führten. In der Mitte dieser Front befand sich die Haustür als Zugang zu den Wohnungen des Hauses Nr. 134. Da beide Häuser durch angebaute Seitenflügel nach hinten heraus erweitert worden waren, entstanden einerseits dunkle Toreinfahrten und andererseits ein großer hufeisenförmiger Innenhof. In der dunklen Toreinfahrt zur linken Hand befanden sich gleichzeitig die Hauseingänge für die Häuser Nr. 136 und 138.

Der Vermietungsstand, der wie ein Hufeisen angelegten Häuser Nr. 134 und 136, stellte sich Ende März 1937 wie folgt dar: Im Haus Nr.134 lebten in der unteren Etage Sophia und Paul Rundholz mit ihren Kindern. Die im Treppenhaus gelegene Zweizimmerwohnung, deren Fenster zur Steinbrinkstraße zeigten, bewohnten Hans-Otto und Hildegard Reich, während die Familie von Kamp die erste Etage und eine große Zimmerflucht im Anbau zum großen Hinterhof bewohnte. Alle Wohnungen wurden durch einen langen Flur erschlossen, der einerseits zum Treppenhaus oder auch in den Keller führte. Das Besondere an diesem Flur bestand aber auch darin, dass er eine direkte Verbindung zum Hinterhof war und am Ende eine Toilette hatte, die von der Familie Rundholz zu benutzen war. Öfter kam es aber auch vor, dass sie von den Mitarbeitern des Malerbetriebes mitbenutzt wurde, für die sie ursprünglich auch vorgesehen war, als das Geschäft noch von der Familie von Kamp betrieben wurde.

Die Wohnungen im Nachbarhaus, links neben der Haustür, hatten, wie schon geschildert, separate Eingänge, die über eine der Toreinfahrten zu erreichen waren. Im Parterre des Hauses wohnte die Familie Tepaz, in der ersten Etage die Familie Becker und im hinteren Anbau, der ebenfalls einen besonderen Eingang hatte, die Familie Köster mit ihrer behinderten Tochter. Der Innenhof der hufeisenförmigen Wohnanlage wurde auf einer Seite durch die angrenzende Malerwerkstatt erweitert. Unterhalb des zum Hof gelegenen Küchenfensters der Familie Rundholz führte ein gemauerter Treppenabgang in die gemeinsame Waschküche und einen angrenzenden Kellerraum. Die Wohnung zum Parterre hatte dazu – genau im “Knick” des Hufeisens – einen Treppenaufgang mit einer gemauerten, perronartigen Fläche unterhalb eines großen Fensters, hinter dem die Familie Rundholz ihr Wohnzimmer hatte. Der Hinterhof selbst erweiterte sich über eine Rasenfläche in zwei Nutzgärten. Während der erste Garten mit Ziersträuchern, Blumenbeeten und kleineren Obstbäumen angelegt war und von der Familie von Kamp beansprucht wurde, nutzten die Rundholz ihren dahinter gelegenen Garten beinahe ausschließlich als Gemüsegarten.

Die Grenze zu von Kamps Garten bildete ein üppiger Fliederstrauch, unter dem ein Tisch mit einer Sitzbank stand. Hier fanden Sophia und Paul an Sommertagen nach getaner Arbeit Ruhe und Muße. Ansonsten bestand der Garten aus Gemüsebeeten, der damals bekannten Gemüsesorten – Spinat, Melde, Mangold, Möhren, Erbsen, Bohnen, Tomaten, verschiedenen Salaten, Gewürzpflanzen und einem größeren Kartoffelbeet. Die Gartenarbeit verrichtete Paul meistens nachmittags, wenn er von der Arbeit nach Hause gekommen war. Sophia, durch die Kinder immer reichlich beschäftigt, kam nur hin und wieder in den Garten und hatte dann die Kleinen zu beaufsichtigen, damit sie nicht die Beete zertraten. Sie ermunterte Paul immer sehr, die Gartenarbeit als Ausgleich zur Tätigkeit auf der GHH anzusehen, denn die Gartenarbeit war nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung.

Zu erwähnen ist auch, dass sich an der Vorderfront des Hauses ein ca. 2,0 m breiter Bürgersteig zur kopfsteingepflasterten Straße anschloss, der durch seine Erhöhung eine Abgrenzung darstellte und damit die tiefer gelegenen Geleise der Straßenbahn scheinbar zurückdrängte. Den Lärm der Straßenbahn hörten die Bewohner des Hauses kaum noch, denn an solche Beeinträchtigungen gewöhnt man sich im Verlauf der Zeit. Einzig und allein Besucher, die auch schon einmal über Nacht blieben und im” Gästezimmer” zur Straße schliefen, gaben morgens zu erkennen, mit Beginn der Straßenbahnfahrten gegen 4:00 Uhr kein Auge mehr zugemacht zu haben, was so viel bedeutete, dass sie nicht mehr in den Schlaf finden konnten.

Für Paul und Sophia war die Wohnung ein Glücksfall. Vier große Zimmer mit fast 110qm Wohnfläche, ein kleiner Flur mit einem Ausgang zum Hof, der aber auch gleichzeitig die Verbindung zwischen der Küche und dem Wohnzimmer war und ein eigenes Fenster hatte. Die Ausmaße der Küche sind besonders erwähnenswert. Vom Fußboden zur Decke betrug die Höhe 3,30m; der gesamte Raum hatte einen Holzfußboden und umfasste 29 qm. Die Wände waren bis zu einer Höhe von 1,80m weiß gefliest. Den Abschluss der Fliesen bildete eine Dekorleiste und die darüber liegenden Wände waren mit einer geschmackvollen Küchentapete beklebt. Die beiden großen Küchenfenster zum Hof wurden von Holzrollläden gesichert. Wenn man die Küche vom Verbindungsflur aus betrat, gab es links zum Hof noch einen durch eine eigene Tür abgegrenzten Vorratsraum mit einem kleinen Fenster.

Räumlich gesehen bot diese Wohnung alle Möglichkeiten für eine große Familie, und der Mietpreis war im Preisgefüge der damaligen Zeit. Paul und Sophia waren über diese Wohnung glücklich, auch wenn sie anfänglich sehr sparsam wirtschaften mussten, denn mit der Mietzahlung wurde doch ein erheblicher Teil des Lohnes verbraucht. Von Anfang an spielte sich der größte Teil des täglichen Familienlebens der Rundholz in der Küche ab. Dieses sollte – ohne den Geschehnissen vorgreifen zu wollen – beinahe 25 Jahre so bleiben, in denen die Familie Rundholz auf der Steinbrinkstraße im Haus Nr.134 die Höhen und Tiefen des Lebens kennen lernte. In der Küche wurde gesungen, geweint, getanzt und gelacht, so wie das Leben die Situationen bereithielt.

Auch die Wohngegend, das häusliche Umfeld, kam den Vorstellungen von Paul und Sophia entgegen. Im Nachbarhaus wohnte auf der einen Seite die Familie Schult, die sich ein Taxigeschäft aufgebaut hatte. Daneben wiederum hatte die Familie Schumacher ihr kleines Lebensmittelgeschäft, in dem auch Sophia einen Teil ihrer Einkäufe tätigte. In den Häusern zur anderen Seite wohnte der Diplomingenieur Dahl mit seiner Frau und zwei Kindern. Wenn man ihm begegnete, so glaubte man im ersten Moment Otto von Bismarck vor sich zu haben. Sein Gesicht, der Schnauzbart, die Augenpartie und auch die Haltung des Körpers, die von den Fotos bekannte „Bismarck – Schirmmütze,” alles das gab ihm die Ähnlichkeit, doch die Politik war nicht sein Metier. Die Hausbesitzerin dieses und des nächsten Hauses war Frau Pelzer, die in der ersten Etage sehr zurückgezogen lebte. Sie war dem Gerede nach sehr vermögend, aber in der Ehe unglücklich und zum zweiten Mal verheiratet. Hinter der vorgehaltenen Hand erzählte man sich, dass sie das Vermögen von ihren jüdischen Eltern geerbt habe.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Nr.134 stand ein einzelnes Haus, dem sich ein großes, offenes Feld auf der rechten Seite anschloss. Auf der linken Seite wiederum standen Häuser, in denen Ingenieure und Technische Zeichner der GHH, der Bäckermeister Mangelmann mit seiner Familie, Justizbeamter Thelen mit seinen extravaganten Töchtern oder auch Polizeimeister Heckmann lebten. Während der Bäckermeister auch sein Geschäft in dieser Häuserflucht hatte und sein Backgut von den Kunden gelobt wurde, war Polizeimeister Heckmann bei den Jungen, die oft auf dem Feld Fußball spielten, wegen seines überaus ordnungsbewussten Auftretens sehr gefürchtet.

Es bleibt festzustellen, dass dieses bürgerliche Milieu ganz nach den Vorstellungen von Paul und Sophia war, die beide aus Familien kamen, in denen die Väter als „kleine” Beamte der Reichseisenbahn ihr Geld verdienten, das wegen der großen Kinderschar meistens kaum bis zum Monatsende reichte. In einer Wohnsiedlung der GHH oder auch in einer Zechensiedlung, die ja immer als das typische Wohnen im Ruhrgebiet ausgegeben wurden, wollten sie nicht wohnen. Für eine Zechensiedlung hätte es auch eines Wohnberechtigungsscheins bedurft, den sie nicht hatten.

Untereinander und ebenso bei ihren Kindern achteten sie von Anfang an darauf, dass nicht das so genannte Ruhrgebietsdeutsch mit „dat” und „wat”,” hasse” und „willse” gesprochen wurde, sondern eine gepflegte Aussprache – also Hochdeutsch und eine exakte Wortwahl den zu hörenden Unterschied ausmachte.

Die von der Steinbrinkstraße abzweigenden Nebenstraßen trugen zur damaligen Zeit Namen von verdienten Kriegsveteranen der Kaiserzeit wie z.B. Otto-Weddigen-Straße oder auch von bekannten Schlachtschiffen wie z.B. die Emden-Straße. Je nachdem, wie Paul zu seiner Arbeitsstätte ging, benötigte er 15 bis 20 Minuten an Zeit. Der Weg führte ihn entweder über die Steinbrinkstraße bis zur Bahnhofstraße, über die er nach ca.200m das Tor 1 der GHH erreichte, oder aber nur wenige Meter über die Steinbrinkstraße, danach über die Otto –Weddigen-Straße bis zur Dorstener Straße, auf der er nach ebenfalls ca. 200m das Tor 3 der GHH erreichte. Den zuletzt genannten Weg ging er in der Regel nach der Arbeitszeit nach Hause, weil hier nur wenig Verkehr war und Sophia ihn manchmal mit den Kindern abholte.

Zum sonntäglichen Gottesdienst machten sie sich meistens schon früh – gegen 7:00 Uhr, spätestens aber um 8:00 Uhr – auf den Weg zur hl. Messe. Die dem hl. Clemens geweihte Pfarrkirche lag mitten in der Stadt, in der Nähe des kleinen Marktplatzes an der Steinbrinkstraße. Ein älterer Propst, dem vier und manchmal auch fünf Kapläne zur Seite standen, war für die Seelsorge verantwortlich.

Paul war die Umstellung auf eine andere Pfarrgemeinde schwerer gefallen als Sophia, denn gerne erinnerte er sich an den Kirchengesang unter dem Organisten und Chorleiter Krähenheide in der Propstei St. Pankratius in Osterfeld. Dort hatte er als Mitglied des Männerquartetts manchen Gottesdienst mitgestaltet. In der Propstei St. Clemens hatte er anfangs nur im Gesellenverein eine stärkere Anbindung erfahren. Sophia hingegen war die Umstellung nicht schwer gefallen, doch für eine aktive Beteiligung in der Pfarrgemeinde hatte sie schon allein wegen der Kinder keine Zeit.

So ging das Leben viele Wochen und Monate ohne auffällige Besonderheiten seinen gewohnten Gang. Im Haus und in der Nachbarschaft fühlte man sich wohl, auch wenn die Mitglieder der Familie des Hauseigentümers meinten, im Auftreten und Gehabe ihre besondere gesellschaftliche Stellung herausstellen zu müssen. Sophia und Paul begegneten ihnen freundlich, zahlten pünktlich ihre Miete und konnten so ihr eigenes Familienleben nach ihren Vorstellungen gestalten. Familie zu sein, Familie zu leben, mehrere Kinder zu haben und verantwortlich für das Leben zu erziehen, das war eine ihrer Idealvorstellungen.

Beruflich hatte Paul den Wunsch, sich besser zu qualifizieren, denn er empfand es als großen Mangel, keine berufliche Ausbildung zu haben. Eine nachträgliche berufliche Ausbildung war in der damaligen Zeit aber so gut wie unmöglich, insbesondere dann, wenn man durch die schlechten vorausgegangenen wirtschaftlichen Jahre froh sein musste, überhaupt eine Arbeit zu haben. So konnte er nur hoffen, dass seine rasche Auffassungsgabe und die Tugenden Pünktlichkeit und Fleiß die Verantwortlichen am Arbeitsplatz von seiner Person überzeugten.

Zu seiner Frau Sophia hatte er schon kurz nach der Hochzeit gesagt: „Wenn ich eine bessere berufliche Qualifikation hätte, dann würden sich mir auf der Arbeit andere Aufstiegschancen eröffnen. Doch in meinem Alter (er war damals 30 Jahre alt) und zu dieser Zeit bekommt man die Möglichkeit der Nachqualifikation nicht. Ich muss mir also auf einem anderen Gebiet einen Namen machen, um für uns beide und unsere Familie bessere Chancen zu eröffnen.” Sophia hatte sich damals an ihn geschmiegt und liebevoll geantwortet: „Ich liebe dich so wie du bist. Du bist fleißig, ehrlich und hast mich lieb. Du wirst für uns deinen Weg gehen. Ich bin auch ganz sicher, dass du dir über deine Gedichte und Erzählungen einen Namen machen wirst. Dass du keine berufliche Ausbildung durchlaufen konntest, das war nicht deine Schuld. Gemeinsam werden wir unsere Vorstellungen verwirklichen.”

Zum Ende des Jahres 1937 konnten beide feststellen, dass Paul durch seine schriftstellerische Tätigkeit auf der Arbeit, in der Nachbarschaft und in einem größeren Umfeld der Sterkrader Öffentlichkeit bekannt geworden war. Sophia hingegen war erneut schwanger und erwartete gegen Ende Januar oder Anfang Februar 1938 das dritte Kind. Nach der Geburt von Tochter Maria am 26. Januar 1938, die ohne Komplikationen verlaufen war, konnte Sophia schon bald wieder die gesamte Hausarbeit übernehmen, die bei drei kleinen Kindern nicht unerheblich war. Paul hingegen wurde betrieblich zu Überstunden herangezogen, durch die er seinen Lohn aufbessern konnte. Durch die Rüstungsaufträge bei der GHH fiel in der Zwischenzeit so viel an Arbeit an, dass eine Arbeitswoche mit fast 60 Arbeitsstunden nicht selten war.

In der Mitte des Jahres zog Frau Pelzer aus dem Nachbarhaus aus, und eine junge Familie mit drei Kindern bezog die frei gewordene Wohnung. Das Ehepaar Lorenbeck, darin waren sich Paul und Sophia einig, machte einen guten Eindruck. Auffallend war allerdings, dass der Mann, Wolfgang L., fast ausschließlich in seiner SS Uniform zu sehen war und oft von einer schwarzen Limousine abgeholt wurde. So verwunderte es nicht, dass man sich in der Nachbarschaft erzählte, er sei ein hoher Mitarbeiter Reinhard Heydrichs beim Staatsicherheitsdienst.

Nachdem Paul erneut einige Gedichte und Erzählungen in der Werkszeitung der GHH veröffentlicht hatte, war er verstärkt in den Blick der Werksleitung und auch der örtlichen Parteigrößen gekommen. Seine kraftvolle Sprache, die ausdrucksvollen Bilder seiner Gedichte und Erzählungen zur Familie und zur Arbeitswelt, verbunden mit religiösen oder nationalen Motiven, sollte er nach deren Meinung in den Dienst der völkischen Sache stellen. So verwundert es nicht, dass der junge Familienvater und Kranführer aus dem Brückenbau der GHH beinahe regelmäßig bezüglich eines Parteibeitritts zur NSDAP angesprochen wurde. „Mensch Paul,” sagte eines Tages Karl Langsam, ein einfacher aber immer freundlicher Arbeitskollege, „warum kommst du nicht in die Partei? Hier auf der Ortsebene wird keine große Politik gemacht. Wir versuchen mit kleinen Schritten Dinge zu bewegen, die das Leben von uns ‘kleinen’ Arbeitern ein wenig verbessern. Wir brauchen so Köpfe wie dich, die ihr Wort machen und andere mitreißen und begeistern können.”

„Ja, ja,” erwiderte Paul, „ich kann dich verstehen. Doch zurzeit bin ich durch die ehrenamtliche Tätigkeit im Gesellenverein Adolf Kolpings im Freizeitbereich sehr beansprucht. Vielleicht später einmal.” Damit war das Thema der Mitgliedschaft in der NSDAP erst einmal vom Tisch. Als er jedoch im Anschluss einer kirchlichen Feier, in der Pfarrer Kreienburg zu verschiedenen politischen Ideen und zu Positionen der NSDAP kritisch Stellung bezogen hatte, ebenfalls unter dem Beifall der Kolpingsöhne kritische Anmerkungen machte und christlich soziales Gedankengut in die Diskussion einbrachte, da nahm ihn der Pfarrer und Präses des Gesellenvereins nach der Veranstaltung an die Seite und sagte: „Paul, ich freue mich über deine eindeutigen christlich-katholisch orientierten Diskussionsbeiträge. Doch du musst aufpassen, denn die NSDAP hat ihre Spitzel auch in unseren Reihen, in jedem Gottesdienst. Nicht linientreue Äußerungen werden notiert, den Parteibossen gemeldet und in der Folge gibt es dann Schwierigkeiten auf der Arbeit oder die Vorladung auf eine Dienststelle der Partei. Ich bin Priester, ohne Familie, du jedoch hast drei Kinder und eine junge Frau! Denke darüber nach!” Spät am Abend sprach er mit Sophia darüber. Die war sehr erschrocken und sie gingen später beide innerlich erregt und bedrückt zu Bett.

 Wenige Tage später kam überraschend eine dreiköpfige Delegation von der Partei und dem Betrieb zu ihnen in die Wohnung. Im ersten Moment argwöhnten sie Schlimmes, denn es war bisher noch nicht vorgekommen, dass Betriebsleiter Diesler, Meister Risse aus dem Brückenbau und Ortsgruppenführer Nause von der NSDAP sie aufgesucht hatten. Meister Risse, ein kleingewachsener Mann, lächelte schon an der Tür als er sagte: „Wir wollten gerne mit ihnen, also mit dir und deiner Frau, in den geschützten Wänden eurer Wohnung sprechen, denn was wir zu beraten haben, das geht nur uns Fünf etwas an,” dabei schaute er seine Begleiter an.

Nachdem alle im Wohnzimmer Platz genommen und durch Sophia Kaffee erhalten hatten, einige höfliche aber unbedeutende Redewendungen ausgetauscht worden waren, nahm Ortgruppenführer Nause das Wort: „Wir sind gekommen, um mit Ihnen, Volksgenosse Rundholz, etwas abzustimmen. Selbstverständlich haben wir uns mit Ihren Personalunterlagen vertraut gemacht. 1904 als fünftes von dreizehn Kindern in Oberhausen – Osterfeld geboren, zwei Jahre – 1917/1918 – als Kriegskind in Vorhelm in Westfalen auf einem Bauernhof. Insgesamt sechs Jahre Volksschule, aber dennoch eine besondere Befähigung in der deutschen Sprache. Sie schreiben gute Gedichte und Geschichten. Ist was für unser deutsches Volk, für unsere Arbeiter. Doch darauf komme ich noch zurück.” Mit Kopfnicken und unterstützenden Gesten stimmten Meister Risse und Betriebsleiter Diesler allen Aussagen zu.

Sophia hörte, den Kopf leicht zur Seite geneigt, mit leuchtenden Augen zu. In ihr brodelte die Frage nach dem Warum des Besuches. Ortsgruppenführer Nause fuhr dann fort: „Seit Jahren sind Sie ein fleißiger, pünktlicher – und ich will es mal so sagen – ein treuer Mitarbeiter im Brückenbau. Wir wissen, dass Sie die Arbeit als Kranführer gut und korrekt erledigen. Doch in Ihnen steckt mehr, Sie haben größere Fähigkeiten. Wie sind Sie eigentlich zum Schreiben, ans Dichten gekommen?”

Bei allem Gehörten fühlte sich Paul sehr geschmeichelt und anerkannt. Dann antwortete er: „Ich habe immer gerne gelesen, Gedichte interpretiert und dann eines Tages angefangen, meine Gefühle und mein Denken selbst in Verse zu fassen. Durch unsere Heirat lernten wir den Pfarrer und Schriftsteller Augustin Wibbelt in Mehr bei Kleve näher kennen, den ich schon aus meiner Kriegskindzeit in Vorhelm kannte. Dort wurde Wibbelt auf einem großen Bauernhof geboren,” erklärte Paul dem Ortsgruppenführer. Dieser wollte gerade wieder das Wort nehmen, doch Paul ergänzte das bisher Gesagte: „Ich habe dann dem Pfarrer einige meiner Gedichte und Kurzgeschichten zur Beurteilung gegeben. Die fand er gut, und er ermunterte mich auch weiterhin dieser schönen Muße nachzugehen.”

„Schon gut,” nahm der anwesende Parteiführer das Wort, „ich will es jetzt auf den Punkt bringen. Das, was Sie über die Arbeit, das Volk, unsere Nation und den notwendigen Aufbruch in eine neue Zeit schreiben, das finden wir auch als Partei gut. Doch es fehlt uns an einigen Punkten der Bezug zum Führer. Ein ‘Heil Hitler’ unter Ihren Gedichten wäre gut.”

Paul erschrak und bekam einen roten Kopf. Sophia guckte erstaunt, doch die Begleiter aus dem Betrieb unterstrichen mit bedeutungsvollem Kopfnicken die Worte des Ortsgruppenführers. Der ergriff erneut das Wort: „Wir meinen, und das ist mit dem Betrieb, also mit den Verantwortlichen der GHH abgestimmt, dass sie in der Verwaltung der GHH tätig werden sollen, damit Sie fürs Schreiben mehr Zeit haben und am Ende die Gedichte und Erzählungen unserem Führer widmen. Natürlich müssen Sie dann auch Mitglied der NSDAP werden.”

Damit war “die Katze aus dem Sack.” wie man zu sagen pflegt. Betriebsleiter Diesler und Meister Risse sagten wie aus einem Mund: „Der Betrieb unterstützt das Wollen der Partei und bietet Ihnen deshalb eine Verwaltungstätigkeit und ein höheres Gehalt an.” Damit hatten Sophia und Paul nicht gerechnet. Erstaunt, erfreut und die Tragweite des Angebotes noch nicht ganz überblickend, erwiderte Paul: „Das ist ein unerwartetes Angebot. Natürlich würde ich gerne in der Verwaltung arbeiten, und bei drei Kindern ist ein etwas höherer Lohn auch nicht zu verachten. Doch man kann nicht jedes Gedicht auf den Führer enden lassen. Wie stellen Sie sich das vor?”

„Unter dem Gedicht oder unter der Erzählung soll nur am Ende stehen: ‘Heil Hitler’. Die Form wird Ihnen schon einfallen. Wir müssen nur deutlich machen, dass alles, was bisher erreicht wurde und unser Volk wieder stark macht, dem Führer zu verdanken ist. Das schaffen Sie schon. Hier ist der Parteiaufnahmeschein! Überlegen Sie nicht zu lange und geben Sie ihn morgen oder übermorgen in meinem Büro im Werk ab. Deutlicher müssen wir doch nicht werden. Sie haben den Willen der Partei verstanden?!” Ohne weitere Worte stand Ortsgruppenführer Nause auf. Meister Risse und Betriebsleiter Diesler folgten seinem Beispiel. Schnell verabschiedete man sich mit einem ‘Heil Hitler’ und ‘Deutschem Gruß ‘. Im Herausgehen sagte Parteiführer Nause, die linke Hand auf Sophias rechten Arm legend: „Reden Sie Ihrem Mann zu. Er soll sich für den Führer und die Sache des Volkes einen Ruck geben. Wird sein Schaden nicht sein.” Dann waren die unerwarteten Besucher schon aus dem Haus und machten sich auf ihren Weg.

Sophia und Paul nahmen sich in die Arme, sprechen konnten sie im ersten Moment beide nicht, denn dieser Auftritt war zu überraschend und in seinem Ansinnen zu weit reichend. Als sie ihre Sprachlosigkeit überwunden hatten, diskutierten sie bis in die Nacht das Für und Wider zum Vorschlag des Ortsgruppenführers. Sophia sah insbesondere die bessere Stellung ihres Mannes, die angesprochene höhere Entlohnung der Arbeit, die Vorteile für die Familie. Pauls lang gehegter Wunsch des beruflichen Aufstiegs konnte jetzt in Erfüllung gehen.

„Du kannst dem Wollen der Partei kaum ausweichen,” begann sie die Auswertung ihrer Überlegungen. „Der Führer verändert ja tatsächlich unsere schlechte wirtschaftliche Situation zum Besseren. Was kann dir oder uns schon passieren, wenn du in die NSDAP eintrittst. Ich meine, du solltest es tun, denn wir als Familie und du in deinem Beruf, wir erreichen eine erhebliche Verbesserung der augenblicklichen Situation,” fasste sie am Ende ihre Meinungsbildung innerlich bewegt und leicht lächelnd zusammen.

Paul aber verspürte ein Unbehagen, denn mit diesem Schritt – Parteimitglied zu werden – würde er einen Teil seiner persönlichen und auch dichterischen Freiheit aufgeben. Von den Arbeitskollegen auf der GHH, aus der Pfarrgemeinde und auch aus dem Gesellenverein waren ihm Parteimitglieder bekannt; sie fielen im Allgemeinen als solche kaum auf. Nur wenn Aktionstage der SA angesagt waren, dann wurde deutlich, wer hinter den Standarten marschierte.

Hitler hatte einen Vierjahresplan der Wirtschaft in Gang gesetzt, der allem Anschein nach seine Wirkung nicht verfehlte und immer mehr Männer wieder in Arbeit brachte. Das so genannte ‘Winterhilfswerk’ (WHW) und die ‘Nationalsozialistische Volkswohlfahrt’ (NSV) sammelten Geld- und Sachspenden für die Ärmsten, und die Organisation ‘Kraft durch Freude’ (KdF) verschaffte den Arbeitern billige Erholungsmöglichkeiten sowie die Teilnahme an Sport-, Kunst- oder Kulturveranstaltungen. Negativ war zu vermerken, dass die Gewerkschaften und andere Parteien als die NSDAP verboten wurden und mit dem Ermächtigungsgesetz fast alle Verbände, gesellschaftlichen Organisationen, Jugendverbände, Lehrerverbände, Sozialverbände, Frauenverbände u. a. gleichgeschaltet und der NSDAP unterstellt worden waren. Über allem stand der Führer. So ging es Paul damals nach Sophias Worten in Sekundenschnelle durch den Kopf: „Beruflicher Aufstieg gegen Parteimitgliedschaft.” Zur Antwort gab er ihr nur: „Ich werde diese Nacht darüber schlafen und mich morgen entscheiden.”

Am anderen Morgen nahm er den Aufnahmeschein für die NSDAP mit in sein Kranführerhäuschen, füllte ihn in einer Arbeitspause mit sauberer Handschrift aus und gab ihn zum Ende der Frühschicht im Büro des Ortsgruppenführers ab. Er war froh, dass Nause selbst nicht anwesend war, denn bei diesem Kuhhandel fühlte er sich nicht wohl, und er hatte das Gefühl, die anwesende, hübsche Partei – und Volksgenossin, Nachbarin Eleonore Lorenbeck, habe mitbekommen, wie sich sein Gesicht rot verfärbte.

Zum Ende des Monats erhielt Paul seine neue Stelle in der Verwaltung. Die bisherigen Arbeitskollegen beglückwünschten ihn und meinten: „Bei deinen Fähigkeiten bist du in der Verwaltung besser aufgehoben. Lasse dich ab und zu mal hier unten sehen.” Auch seine Arbeitszeit änderte sich so, dass er eine Stunde später aufstehen konnte, um pünktlich gegen 7:00 Uhr in der Verwaltung zu sein.

Die Tage, Wochen und Monate vergingen wie im Flug. Paul musste bei Versammlungen und Aufmärschen der SA dabei sein, die Uniform der SA tragen, die ihm allerdings ganz gut stand. Dennoch trug er viel lieber Zivil, denn das Tragen der Uniform empfand er als zur Zuschaustellung einer Gesinnung, die er nicht in allen Punkten teilte.

An einem Sonntag, wie öfter in der vergangenen Zeit, besuchte Hans van de Veen mit seiner Frau Maria und den Kindern Sophia und Paul auf der Steinbrinkstraße. Paul und Hans kannten sich schon mehrere Jahre. Gemeinsam hatten sie im Männerquartett gesungen, manchen Gottesdienst in der Kirche mitgestaltet oder auch Feiern in der Gaststätte Lüger in Osterfeld gesanglich begleitet. Vor einigen Jahren hatte Hans seine bildschöne Schwester Maria geheiratet, mit der er inzwischen drei Kinder – Anne, Bernd und Vera – hatte. Schwager Hans arbeitete als Zugführer bei der Reichsbahn und die Familie wohnte in einer Eisenbahnersiedlung in Osterfeld. Der Schwager konnte sehr gut singen und sein Tenor, den er bei geeigneten Liedern zu einem höchsten Tremolo empor schwingen konnte, zeichnete ihn besonders aus. Beim Singen in den höchsten Tonlagen bekam er allerdings immer einen hochroten Kopf und selbst die längeren, lockigen Haare wirkten wie elektrisiert. Ganz wichtig ist jedoch zu wissen, dass dieser Schwager ungeheuer eifersüchtig werden konnte, wenn manchmal, zur vorgerückten Stunde im Gasthaus Lüger, andere Männer seiner Frau Maria schöne Augen machten.

Nachdem man gemeinsam Kaffee getrunken und die Neuigkeiten der vergangenen Tage ausgetauscht hatte, nahm Paul seine Laute von der Wand und zusammen sang man Volks- und Wanderlieder. Da in der Woche kaum Alkohol getrunken wurde, lösten einige Bier und Schnäpschen die Zungen. Es kam zu einem Gespräch, an das sich Sophia und Paul später immer wieder erinnern mussten. „Weißt du Paul,” sagte Hans, „du bist ja jetzt auch in der Bewegung. Ist ja auch für dein berufliches Fortkommen gar nicht schlecht. Du oder ihr wisst es ja beide und merkt es auch, mehr Kinder brauchen mehr Brot.”

„Ist schon in Ordnung,” versuchte Paul Hans in seiner Rede zu unterbrechen, „ich habe mir diesen Schritt lange überlegt und bin dann letztlich überredet und durch eine neue berufliche Perspektive überzeugt worden.” „Du musst dich nicht entschuldigen oder deine Entscheidung rechtfertigen,” nahm Hans sich wieder das Wort, „die Bewegung weiß, was uns und unser Volk voran bringt.”

„Paul,” sagte darauf seine Schwester Maria, „Hans hat auch immer mehr Verantwortung zu übernehmen. Jetzt hat er als Zugführer eine Pistole und scharfe Munition bekommen, wenn er besondere Transporte z.B. in ein Arbeitslager zu begleiten hat.” „Frauen müssen doch immer Dinge erzählen, die ihnen gar nicht zukommen,” zischte Hans dazwischen. „Es stimmt, einige von uns Zugführern sind bewaffnet worden, wenn wir für den Staatssicherheitsdienst besondere Transporte zu fahren haben. Man weiß ja auch gar nicht was passieren kann, wenn man dieses Pack – Zigeuner, Juden oder Volksverräter – in ein Lager bringen muss, damit sie uns nicht mehr gefährlich werden können.” Indem er hörbar Luft holte fügte er dann abwiegelnd hinzu: „Doch lasst uns wieder über andere Dinge reden, wir sind zum Schweigen verpflichtet und Plaudern, so wie du es tust, Maria, kann hart bestraft werden.” Es wurden zwar noch einige andere Themen aus dem Vereins- oder Familienleben angesprochen, doch bis zur Verabschiedung von Schwager Hans und seiner Familie wollte keine gemütliche Stimmung mehr aufkommen.

Paul und Sophia hatten seine Ausführungen innerlich tief betroffen gemacht und sie hatten das Gefühl, als wenn sich Blei auf die zuvor gute Stimmung gelegt habe. Erstmals war ihnen bewusst geworden, dass aus dem engsten Familienverband jemand Transporte in die so genannten Konzentrations- und Arbeitslager fuhr. Ihre naive und positiv oberflächliche Denkweise über den Führer und sein Handeln hatte einen derben Kratzer bekommen. Sie hatten jetzt die Gewissheit: Es gab die KZs und der Schwager ‘belieferte’ diese Lager mit ausgestoßenen und entrechteten Menschen.

„Eigentlich hätte es dieses Abends nicht bedurft,” dachte Paul bei sich, „denn waren nicht die ‘Nürnberger Gesetze’ aus dem Jahre 1935 der Grundstein für die Verfolgung der Juden? Hatte Hitler nicht in diesen Gesetzen jede Gemeinschaft, besonders Ehen zwischen Juden und Ariern verboten und den Juden alle bürgerlichen und politischen Rechte aberkannt? Die Tragweite dieser Gesetze war ihm nicht bewusst geworden, oder er hatte sie nicht wahrnehmen wollen. Angestachelt, weil alle es taten und die neuen Führer es so wollten, hatte auch er damit begonnen, den Stammbaum der Familie zu erforschen und den Arier-Nachweis zu erbringen. Ohne Schwierigkeiten konnte er bisher nachweisen, dass sein Großvater, Bernhard Rundholz, 1864 im Krieg zwischen Dänemark und Preußen bei den Düppeler-Schanzen gekämpft und mit dem ‘Eisernen Kreuz’ ausgezeichnet worden war. Auch sein Vater Theodor hatte von 1895 bis 1897 beim Infanterie-Regiment Herwarth von Bitterfeld in Westfalen gedient. Weitere Urkunden, die den Stammbaum der Familie über das Geburtsjahr des Vaters hinaus belegen sollten, waren von ihm beim Standesamt in Herbern, Kreis Lüdinghausen, beantragt worden. Diese Sache lief also gut, und auch der Stammbaum seiner Mutter Maria machte deutlich, dass die familiären Wurzeln in Westfalen, in Preußen gewachsen waren. Lediglich bei seiner Geburt hatte der Standesbeamte das ‘z’ am Ende des Namens in ein ‘tz‘ umgewandelt. Doch das würde er schon berichtigen lassen.”

In diese Gedanken versunken erinnerte ihn Sophia daran, dass er für den morgigen Tag zu einer Versammlung der SA in die Gaststätte Neugebauer, Deutsches Eck, an der Straßenecke Steinbrinkstraße / Emdenstraße eingeladen worden war. Nicht zu erscheinen bedeutete Minuspunkte beim Ortsgruppenführer und ein ständiges Nachfragen, warum man gefehlt habe. Doch durch den Auftritt seines Schwagers Hans war Paul sehr aufgewühlt und fragend antwortete er: „Meinst du, ich muss die Versammlung besuchen? Was Hans eben gesagt hat, das hat mich doch sehr erschreckt und nachdenklich gemacht. Kann man von ‘Pack’ reden, so genannten Volksschädlingen, nur weil es Zigeuner oder Juden sind? Ich frage mich seit geraumer Zeit, was in den Konzentrationslagern geschieht? Am liebsten würde ich morgen die Versammlung versäumen.”

„Ach, Paul, ich kann dir deine Fragen nicht beantworten. Hast du nicht selbst gesagt, dass manche Ankündigungen der Politiker schlimm klingen, doch im näheren Umfeld eigentlich gar nicht viel passiert,” entgegnete Sophia.

„Ja, das habe ich gesagt, doch auf der Arbeit hört man immer öfter, dass Menschen abgeholt werden, wenn sie sich gegen Hitler geäußert haben oder weil sie angeblich Juden sind. Die meisten von ihnen kämen auch nicht mehr zurück, so wird erzählt,” führte Paul das Gespräch weiter.

„Aber wenn du morgen nicht zur Versammlung gehst, wirst du dann nicht Schwierigkeiten auf deiner neuen Arbeitsstelle bekommen? Wir können den Lohn, jetzt ist es ja ein Gehaltzuschlag, aber gut gebrauchen,” gab Sophia zu bedenken.

Paul antwortete nicht sofort, doch dann sagte er: „Dein Einwand ist richtig, aber ich muss erst noch einmal darüber schlafen. Irgendwie bin ich innerlich beunruhigt. Entweder ich werde gehen oder aber mir eine gute Entschuldigung einfallen lassen. Du musst nicht beunruhigt sein.”

Beide gingen zu Bett. Paul legte sich noch einen Moment neben Sophia, streichelte sie und nach einem liebevollen Gute-Nacht-Kuss drehte er sich in sein Bett zurück, um zu schlafen. Doch er konnte einfach nicht einschlafen. Seine Gedanken waren immer wieder bei den Aussagen seines Schwagers Hans und bei der Frage, was er am nächsten Abend tun sollte?

Bisher war ihm der Parteibeitritt von Nutzen gewesen, nun erstmals hatte er das Gefühl, dadurch einen Teil seiner Freiheit verkauft zu haben. Ein Verrat von Prinzipien, die er vorher hochgehalten hatte. Dabei erinnerte er sich an Worte von Ernst Wiechert, eines Schriftstellers, den er besonders gern gelesen hatte. Er versuchte einzuschlafen. Sophia neben ihm atmete im Schlaf ganz ruhig. Plötzlich hatte er sinngemäß die Worte Wiechert´s im Kopf: „Ja, es kann wohl sein, dass ein Volk aufhört Recht und Unrecht zu unterscheiden, und dass jeder Kampf ein ‘Recht’ ist, aber dieses Volk steht schon auf einer jäh sich neigenden Ebene.” Danach hatte Wiechert noch davon gesprochen, dass man dem Gewissen folgen müsse und nicht zu den Tausenden und Abertausenden gehören dürfe, die Angst in der Welt haben und von Feigheit zerfressen werden. Noch lange beschäftigten ihn diese Worte und Überlegungen, bis ihn dann doch endlich der Schlaf überwältigte.

Am anderen Morgen, Sophia war mit aufgestanden, redete man nicht viel miteinander. Sophia machte Kaffee und Butterbrote, von denen Paul einige mit zur Arbeit nahm. Gewöhnlich trank er auch eine Tasse Kaffee und aß ein Butterbrot, bevor er sich dann auf den Weg zur Arbeit machte. Sophia hatte Pauls sehr ernsten Gesichtsausdruck gesehen und fragte ihn, als er gehen wollte: „Hast du gut geschlafen? Denkst du auch an die Versammlung heute Abend?”

„Ja, ja, mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung,” antwortete er im Herausgehen, gab ihr einen Kuss und war auf dem Weg zu Arbeit. Schnellen Schrittes eilte er über die Steinbrinkstraße zur Bahnhofstraße, um dann nach ca. 100 m das Verwaltungsgebäude der GHH zu betreten. Sein Büro, das er mit dem Kollegen Willi Rüther teilte, lag im dritten Stock des Gebäudes. Ein schmuckloser, alter Büroraum mit zwei Schreibtischen und Bürostühlen, einem Fenster zum Innenhof und einem in dieser Zeit kaum zu vermeidenden Bild des Führers an der Wand. In einer Ecke des Raumes stand noch ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, so dass auch bei notwendigen Gesprächen für Besucher eine Sitzgelegenheit gegeben war.

Nachdem er dem Pförtner beim Betreten des Gebäudes einen guten Morgen gewünscht hatte, beeilte sich Paul sein Büro zu erreichen. Er grüßte vorbeihastende Kollegen, fuhr im Pater-Noster in die dritte Etage und betrat nach ca. 20 Schritten über den Flur sein Büro, in dem zu seinem Erstaunen schon die groß gewachsene, schlanke und mit allen weiblichen Attributen ausgestatte Eleonore L. auf ihn wartete. Die blonden Haare zu einem Knoten im Nacken zusammengefasst, gekleidet mit einem dunkelblauen Kostüm und weißer Bluse, erhob sie sich langsam von dem Stuhl, auf dem sie gewartet hatte und sagte mit einem hintergründigen Lächeln: „Ich hielt es für angebracht und für eine Pflicht als Nachbarin auf der Steinbrinkstraße, dich noch einmal darauf hinzuweisen, dass wir heute eine wichtige Parteiversammlung haben, zu der Ortsgruppenführer Nause keine Entschuldigung gelten lassen will. Es geht um neue Instruktionen aus Berlin.”

„Du siehst gut aus und es ist ein Lichtblick am frühen Morgen dich in diesem Hinterhofbüro zu sehen. Ja, ich denke an den Termin heute Abend, obwohl ich eigentlich etwas anderes vorhatte,” entgegnete Paul.

Dann rauschte Eleonore L., ihm freundlich die Hand gebend, das beinahe einem Streicheln ähnlich war mit den Worten „bis heute Abend” aus dem Büro und eilte zu Hermann Nause, der im ersten Stock ein geräumiges Büro, selbstverständlich mit Sekretärin, für seine innerbetriebliche Parteiarbeit zur Verfügung hatte.

Der unerwartete Auftritt von Eleonore L., die ihr attraktives Aussehen gut in Szene setzen konnte, brachte Paul erneut ins Grübeln: „Worauf hatte er sich mit dem Parteibeitritt eingelassen? Welche Dienste oder welches Entgegenkommen erwartete man von ihm, nachdem er eine ‘Beförderung’ in den Verwaltungsbereich erfahren hatte? Akkordmarken musste er sammeln und zur Berechnung des entgeltpflichtigen Lohnes an die Personalabteilung weiterleiten. War dieser berufliche Aufstieg der Judaslohn für immer neue Gewissensbisse?

Sophia wusste zwar von diesen zwiespältigen Gedanken, doch sie glaubte an die nach außen verkündeten guten Absichten des Führers, nahm die Erfolgsmeldungen als Bestätigung und sah in seiner beruflichen Veränderung vor allem eine Stärkung der eigenen Familie wie auch der Persönlichkeit ihres Paul, für den sie ganz da sein wollte.

Nachdem Kollege Rüther ebenfalls am Arbeitsplatz eingetroffen war, begann man mit dem Sammeln und Zuordnen der Akkordmarken. Für Pauls Intellekt eine glatte Unterforderung, die ihm immer wieder Zeit gab, anderen Gedanken und seinen dichterischen Empfindungen nachzugehen.

Als er am Abend zur Parteiversammlung ging, wurden seine zweifelnden Gedanken überlagert von der ungewissen Erwartung, was die neuen Instruktionen beinhalten könnten. Der Versammlungsraum im ‘Deutschen Eck’ war gut gefüllt. Beinahe alle bekannten Bürger der oberen Steinbrinkstraße hatten sich eingefunden. Ob alle auch Mitglieder der NSDAP waren, denn eigentlich wurden zu derartigen Zusammenkünften nur Parteimitglieder eingeladen, das hatte Paul bei den bisher wenigen Treffen, zu denen er geladen war, nicht herausfinden können. Doch jetzt ging er davon aus, denn Eleonore L. und Ortsgruppenführer Nause begrüßten alle persönlich bei ihrem Eintreffen. Dabei fiel Paul auf, dass sich Ortsgruppenführer Nause, breitbeinig in seiner SA Uniform stehend, sehr intensiv mit einigen so genannten guten Bürgern – Geschäftsleuten, Handwerkern und leitenden Ingenieuren der GHH – unterhielt. Zu ihm hatte er nur gesagt: „Gut, dass Sie gekommen sind. Heute gibt es wichtige Neuigkeiten. Wir werden alle für die Sache des Volkes gefordert.” Dann hatte Nause sich anderen Teilnehmern der Versammlung zugewandt. Eleonore L. hingegen hatte ihm beide Hände entgegengestreckt und gewinnend, freundlich leise gesagt: „Ich freue mich, dass du da bist.”

Auch sie begrüßte nachfolgende Teilnehmer; sie fand jedoch immer wieder Gelegenheiten, Paul einen besonderen Blick oder ein leicht angedeutetes Kopfnicken oder Augenzwinkern zuzusenden. Dann eröffnete Ortsgruppenführer Nause die Parteiversammlung: „Volksgenossinnen und Volksgenossen! Wir sind zusammengekommen, weil unser Führer, Adolf Hitler, und weil unsere Partei beschlossen haben, jetzt ganz entschlossen der Sache des Volkes zu dienen und den jüdischen Schmarotzern und Ausbeutern den Kampf anzusagen. Ich begrüße Euch im Namen des Führers, der Tag und Nacht für sein Volk arbeitet, damit es wieder in der Welt politisch anerkannt wird, damit unsere Wirtschaft wieder stark wird, alle Männer Arbeit finden und ihre Familien ernähren können.”

Paul hörte die Rede, die sich ständig wiederholenden Lobreden auf den Führer, doch irgendwie war er nicht ganz bei der Sache. Die Propaganda rieselte tagtäglich auf alle Bürger herab. „Neues scheint Nause nicht zu verkünden zu haben,” dachte er. „Dafür hätte es eigentlich keiner besonderen Veranstaltung bedurft,” führte er seine Gedanken weiter. „Große Worte von der Ehre der Nation, vom ‘Blutmäßigen Adel’ des deutschen Herrenmenschen, die Auslöschung des Schanddiktates von Versailles nach dem I. Weltkrieg, begeisternde Aufmärsche, Jubel, Marschmusik, Sprechchöre, die Uniformierung der Gesellschaft,” dieses alles hatte er ja miterlebt oder auch mitgemacht. Seine Gedanken begannen noch weiter auszuschweifen, als er plötzlich Nause mit sich überschlagender Stimme ausrufen hörte: „Wir alle sind aufgefordert, morgen, am 9. November, auch in unserer Stadt gegen die Juden ein Zeichen zu setzen. Die SA ist aufgerufen, die jüdischen Geschäfte zu besetzen und die Zionisten aus der Stadt zu jagen! Die Aktion beginnt morgen früh um 6:00 Uhr in der Steinbrinkstraße beim Juden Rosenberg und wird dann den ganzen Tag über fortgesetzt. Sterkrade muss judenfrei werden!” Mit dem üblichen ‘Heil Hitler’ beendete Nause seine Hassrede.

Erstmals seit seinem Parteibeitritt hatte Paul nun das beklemmende Gefühl in eine Sache hineingezogen zu werden, die andere Menschen in Bedrängnis bringen und sie von ihrem Grund und Boden vertreiben sollte. Er war erregt und aufgewühlt. Sein Gewissen meldete sich und signalisierte ihm Unrechtbewusstsein, und er begann nach einer Lösung zu suchen, die seinen Einsatz als SA-Mann gegen die Juden verhindern konnte.

Vom ‘Deutschen Eck’ nach Hause waren es nur wenige Minuten Fußweg. Gemeinsam mit Eleonore L., so hatte er es abgepasst, ging er diesen Weg. Die freute sich sichtlich darüber, hängte sich locker in seinen Arm ein und plauderte über gute Nachbarschaft. Nach einer kurzen Wegstrecke blieb Paul unvermittelt stehen, stellte sich nahe vor Eleonore L. hin und sagte mit gespielter ruhiger Stimme: „Eleonore, du musst mir einen Gefallen tun. Du weißt, dass ich gerne Gedichte und Erzählungen schreibe. Ich kann auch gut Reden halten, doch Juden vertreiben, das kann ich nicht. Du hast doch die Möglichkeit auf Nause einzuwirken und ihm klar zu machen, dass ich besser bei einem besonderen Anlass eine Rede halten oder ihm auch Reden schreiben kann, wenn er besondere Auftritte hat.”

„Paul,” erwiderte Eleonore L., dabei kam sie mit ihrem Gesicht ganz nahe an sein rechtes Ohr, „du weißt, dass ich dich gut leiden kann und viel für dich empfinde, auch wenn wir beide verheiratet sind.” Er spürte ihre Ausstrahlung und körperliche Nähe. Die Versuchung, sie feste in die Arme zu nehmen, war übergroß. „Ich werde versuchen es Nause beizubringen, deinen Einsatz für die Partei zu anderer Gelegenheit einzufordern. Sprich mit niemandem darüber, auch nicht mit deiner Frau. Schreib mir mal ein Gedicht. Ich liebe dich.” Darauf gab sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und beide gingen danach die wenigen Schritte bis zu ihren Wohnungen auf der Steinbrinkstraße Nr. 134 und Nr. 136.

Paul berichtete Sophia den Verlauf der Parteiversammlung und auch von seinem Gespräch mit Eleonore L. Dass diese ein Gedicht wünschte und ihm ihre Liebe gestanden hatte, das behielt er für sich.

Als Ortsgruppenführer Nause am nächsten Morgen im Büro anrief und sagte: „Genosse Rundholz, Sie müssen mir für Sonntag zum Volkstrauertag eine Rede schreiben. Ich komme selbst nicht mehr dazu. Ihr Einsatz ist heute am Nachmittag nicht gefragt. Wir sind auch genug Männer für das Judenspektakel am ganzen Tag,” da wusste er, dass Eleonore L. sich für ihn eingesetzt hatte. In einer stillen Stunde schrieb er ihr ein Gedicht, das er ihr allerdings nie gegeben hat:

 

Unerfüllte Sehnsucht

 

Dich zu kennen, Deinen Namen zu nennen,

das ist wunderbar!

Deine Augen zu schauen, Dir zu vertrauen,

das ist wunderbar!

Bei Dir zu sein, in der Liebe Schein,

das ist wunderbar!

So träumte ich viele Stunden, oft in Gedanken verbunden,

das war wunderbar!

Ich spürte Deine zärtliche Hand, den Kuss, der uns inniglich verband,

es war wunderbar!

Doch Träume sind Gedanken, die verwehen im Wind,

sie kennen unsere Schranken und wiegen uns lind,

das ist wunderbar!

 

 

Die ersten Kriegsjahre

Das äußere Bild des Lebens im nationalsozialistischen Staat wurde immer mehr durch die braunen Uniformen der SA und Uniformen anderer Gliederungen der NSDAP bestimmt. Mit zehn Jahren kamen die Jungen zum „Deutschen Jungvolk” (DJ) und vier Jahre später in die „Hitlerjugend” (HJ). Für die Mädchen gab es die Gruppe der Jungmädel und den „Bund Deutscher Mädel” (BDM). Weitere Unterorganisationen der NSDAP waren die „Schutzstaffeln” (SS), das „Nationalsozialistische Kraftfahrerkorps” (NSKF) oder das „Nationalsozialistische Fliegerkorps” (NSFK)

Mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935 begann gleichzeitig eine bis dahin beispiellose Militarisierung und Uniformierung der Gesellschaft. Kasernen, Flugplätze und militärische Übungsplätze schossen wie Pilze aus der Erde. Alle Gliederungen der NSDAP verfolgten im Kern eine gewisse militärische Ausbildung und waren in ihrer Struktur auf Befehl und Gehorsam ausgerichtet. Die Ertüchtigung im Reichsarbeitsdienst (RAD) sowie auch die Inhalte und Erziehung in der Schule verfolgten das Ziel, einen nationalsozialistischen Menschen herauszubilden, der sich anderen überlegen fühlte und bereit war, unerschrocken dem Führer und seinen Vorgaben zu folgen und bewusst und herrisch seine Macht auszuüben.

Nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938, von den Nationalsozialisten zynisch als „Reichskristallnacht” propagiert, war auch in der Familie Rundholz erkannt und bewusst geworden, dass die Gewalttaten der Nationalsozialisten gegen Juden und Andersdenkende immer unverhohlener in der Öffentlichkeit gezeigt wurden. Bisher hatte man von dem einen oder anderen Nachbarn gehört, der plötzlich verschwunden war. Es war bekannt geworden, dass einige jüdische Hausärzte ihre Praxen hatten schließen müssen. Auch der Begriff Konzentrationslager war seit 1933 bekannt und wurde immer häufiger mit dem Verschwinden von jüdischen Mitbürgern und Gegnern des Nationalsozialismus in Verbindung gebracht, doch die tatsächliche Existenz solcher Lager wollte man sich oft nicht eingestehen.

Sophia und Paul waren in ihrer Haltung sehr verunsichert, als am 9. November 1938 jüdische Geschäfte in Sterkrade zerstört und ihre jüdischen Besitzer aus der Stadt verjagt und ins KZ gebracht wurden. Als sie dazu am nächsten Tag in der Zeitung nachlesen konnten, dass in vielen Städten die Gotteshäuser der Juden in Flammen aufgegangen und zerstört worden waren, signalisierte ihnen ihr Gewissen die Unrechtmäßigkeit dieser Taten, aber dennoch arrangierte man sich weiter im System.

Eleonore L. hatte durch ihre Fürsprache beim Ortsgruppenführer Nause Paul Rundholz Teilnahme an derartigen Grausamkeiten der SA gegenüber Juden verhindern können, so dass dieser sich in ihrer Schuld fühlte. Er begegnete ihr dankbar und mit innerer Zuneigung, was er ihr durch die besondere Wahl seiner Worte bei gelegentlichen Begegnungen zu verstehen gab. Dann lächelte sie ihn hintergründig an, ohne eine gewisse Distanz aufzugeben. Paul wiederum bewunderte ihr gutes Aussehen und gestand ihr einmal ihre anziehende Wirkung auf ihn. Dennoch blieben ihre Begegnungen ohne besonderen körperlichen Kontakt, wenn man das für andere nicht wahrnehmbare Streicheln ihrer oder seiner Hand oder den tiefen Blick in die Augen nicht einbezog.

Nach Eleonores Intervention beim Ortsgruppenführer Nause musste er diesem Reden schreiben, die dieser bei unterschiedlichen Anlässen mit viel Pathos vortrug. Nause waren geschichtliche Zusammenhänge und Feinheiten der deutschen Sprache ziemlich fremd, so dass er vor allem an besonderen Gedenktagen Pauls Hilfe in Anspruch nahm, was selbstverständlich außer Eleonore L. und den Beteiligten, die sich zu höchster Diskretion verpflichtet hatten, niemand weiter wissen durfte.

Bei den monatlichen Märschen der SA im Sinne der Wehrertüchtigung holte sich Paul in seinen Stiefeln zwar manche Blase an den Füßen, die er jedoch gern in Kauf nahm, zumal er von anderen Spezialeinsätzen durch Nause ausgenommen wurde.

In der Werkszeitung der GHH und in den Oberhausener Tageszeitungen veröffentlichte er Gedichte zur Arbeit der „Brückenbauer,” zum „Deutschen Land,” zur „Heimatliebe” oder zum Titel „Mein Werk – Mein Reich.” Kurzgeschichten über Jugenderlebnisse aus den letzten beiden Kriegsjahren des I. Weltkrieges, die er auf dem Bauernhof in Westfalen erlebt hatte, sowie veröffentlichte Episoden aus dem alltäglichen Geschehen am Arbeitsplatz brachten ihm nicht nur unter Kollegen sondern auch in der Oberhausener Presse bald den Titel des Arbeiter- und Heimatdichters ein. Auf besondere Aufforderung des Ortsgruppenführers Nause, der ihn selbst einige Male erinnerte, setzte er ein „Heil Hitler” unter einige seiner Gedichte und Erzählungen, obwohl er gern seine literarische Tätigkeit von jeder politischer Propaganda freigehalten hätte.

Für die Veröffentlichung seiner Gedichte und Erzählungen erhielt Paul immer auch ein Honorar, das nicht sehr üppig war, aber dennoch dazu beitrug, der Familie einige zusätzliche Anschaffungen zu ermöglichen. Von einem seiner ersten Honorare kaufte er für den erstgeborenen Sohn Theo ein buntes Spielzeug, einen hölzernen Vogel, der seine Flügel bewegen und so in geringer Höhe einige Runden fliegen konnte, wenn man die ihm eingebaute Metallfeder stramm aufzog. Als er mit dem Spielzeug nach Hause kam und es Sophia zeigte, war diese sehr erfreut und rief mit fröhlichem Lachen: „Da wird sich unser Sohn aber freuen. Komm Paul, wir sollten es ihm sofort geben.”

Beide betraten in froher Erwartung überraschter und großer Kinderaugen das Kinderzimmer. Paul zog die Metallfeder im Vogel kräftig auf und ließ diesen dann durchs Kinderzimmer fliegen. Sohn Theo verfolgte das fliegende Etwas mit großen Kinderaugen und fuchtelte mit seinen Armen unter lautem Kinderlachen in der Luft herum. Nachdem jedoch der Vogel gelandet war, stürzte er sich auf diesen und riss ihm beide Flügel aus. Sophia und Paul hatten noch wie aus einem Munde gerufen: „Nein, nein! Nicht tun!” Doch schon war nichts mehr zu ändern. Beinahe triumphierend hielt Theo die Flügel des Vogels in die Luft. Paul spürte, wie sich seine Gesichtsfarbe veränderte und Zorn in ihm aufstieg. „Das ist aber ganz böse!” rief Sophia mit Theo schimpfend – um dann das zerstörte Spielzeug aufzunehmen und gemeinsam mit Paul das Zimmer zu verlassen.

Sofort nahm sie Paul in ihre Arme, lehnte ihren Kopf an ihn und sagte leise: „Das tut mir für dich sehr leid. Das war eine so tolle und schöne Idee. Ich glaube, unser Sohn ist für derartiges Spielzeug noch zu klein.” Paul spürte die Wärme ihres Körpers und vernahm ihre tröstende Stimme. Er löste sich ein wenig aus ihren Armen, schaute sie an und sagte, wieder ohne Zorn, mit sanfter Stimme: „Es ist schon wieder gut. Ich hatte mich selbst so in diesen bunten Vogel verguckt, so dass ich über ein altersgemäßes Spielzeug gar nicht nachgedacht habe.” „Ja, ja,” lachte er Sophia ins Gesicht, „so ist das mit den bunten Vögeln.”

Paul und Sophia verspürten wie viele Bürger ein beklemmendes Unbehagen, als im Sommer 1939 immer häufiger das Wort „Krieg” in den Zeitungen zu lesen oder bei offiziellen Reden aus dem Volksempfänger, dem preiswerten Rundfunkgerät für alle Volksschichten, zu hören war. Aber diese Signale, die zu kurzen Augenblicken der Besinnung und des Nachdenkens führten, überwanden sie, wie die Mehrzahl aller Deutschen, mit der beruhigenden Feststellung: „Der Führer wird es schon wissen. Der Führer wird es schon richtig machen.”

In der Tat blendete der Führer mit der Schaffung des „Großdeutschen Reiches,” dem Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes an Deutschland, der Zerschlagung der Tschechoslowakei, dem Abschluss des „Nichtangriffspaktes” mit Russlands Diktator Joseph Stalin am 23. August 1939, der auf hoher Staatsverschuldung aufbauenden Ankurbelung der Wirtschaft und der Beseitigung der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitiger Militarisierung der Gesellschaft die Weltöffentlichkeit und das unkritische Bürgertum im eigenen Land. Bei der Wahl mitzumachen oder ein Feind des „Völkischen Aufbruchs” zu werden, entschied sich die große Masse des deutschen Volkes für das Mitmachen im Sinne des Nationalsozialismus.

Dennoch war das Erschrecken groß, als am 1. September 1939 deutsche Soldaten in Polen einmarschierten und in der Folge dessen der zweite Weltkrieg entfesselt wurde. Obwohl durch die offiziellen Verlautbarungen und durch die vom Ministerium für „Volksaufklärung und Propaganda” gleichgeschalteten Medien tagtäglich fast systematisch ein Krieg herbeigeredet wurde, wollte die Mehrheit des Volkes keinen Krieg. Die Leiden des I. Weltkrieges und der ihm nachfolgenden Jahre waren bei vielen Menschen noch in zu guter Erinnerung. So hatte man sich allgemein über den Nichtangriffspakt mit Russland gefreut. Doch es war auch bekannt, dass England und Frankreich für Polen Sicherheitsgarantien übernommen hatten und bei einem Krieg Deutschlands mit Polen den Bündnisfall für gekommen ansehen würden. Die Meldung vom Einmarsch deutscher Truppen in Polen warf also sofort die Frage nach dem weiteren Verhalten der politischen Führung in England und Frankreich auf.

Paul und Sophia waren an diesem Tag wie gewohnt aufgestanden. Sobald sie die geräumige Küche betreten hatten, wurde gewohnheitsmäßig der Volksempfänger so laut angestellt, dass sie die Nachrichten und insbesondere die Ansage der Uhrzeit hören konnten, die in unregelmäßigen Abständen durchgegeben wurde. So waren sie morgens schon auf dem aktuellen Stand der Nachrichten und wussten gleichzeitig, wie die Uhrzeit fortschritt, was für das pünktliche Erscheinen Pauls am Arbeitsplatz notwendig war.

Während sich Paul rasierte und für die Arbeit fertig machte, bereitete Sophia, die in ihrem dünnen, fast durchsichtigen Nachthemd eine gute Figur zeigte, die Frühstücksbrote und den Kaffee. Paul aß meistens im Stehen eine Schnitte Brot, trank eine Tasse Kaffee und machte sich dann eilends, nachdem er Sophia einen flüchtigen Kuss auf die Wange gegeben hatte, auf den Weg zur Arbeit. Danach blieb Sophia Zeit genug in aller Ruhe zu frühstücken, ihren geliebten Bohnenkaffee zu trinken, die Tageszeitung durchzusehen und zum Abschluss eine Zigarette zu rauchen, bevor die Kinder geweckt und für den Tag fertig gemacht werden mussten.

Heute, an diesem 1. September 1939, war jedoch alles ganz anders. „Seit 5:45 Uhr wird zurück geschossen,” tönte es aus dem Radio. „Deutschland hat Polen den Krieg erklärt!” Paul und Sophia blieben wie angewurzelt in der Küche stehen und schauten gespannt und erwartungsvoll auf das Radio. „Der Vormarsch unserer Wehrmacht verläuft planmäßig. Es gibt keinen nennenswerten Widerstand der polnischen Truppen. Wir werden Sie laufend über die weitere Entwicklung informieren,” beendete der Sprecher seine Ansage und der Sender setzte mit dem Horst-Wessel-Lied sein Programm fort.

 „Was bedeutet das? Der Führer wollte doch Frieden halten?” fragte Sophia aufgeschreckt. „Wollte er das wirklich?” fragte Paul mit gesenkter Stimme zurück. Ohne eine Antwort abzuwarten sagte er dann weiter: „Du brauchst jetzt keine Angst zu haben. Wir werden in den nächsten Stunden mehr darüber erfahren, welche Konsequenzen dieser Einmarsch hat und welche Gründe für diesen Schritt der Anlass waren.”

An diesem Morgen konnte er keinen Bissen Brot essen. Hastig trank er eine Tasse Kaffee halb leer, gab Sophia flüchtig einen Abschiedskuss und verließ schnellen Schrittes die Wohnung, um zur Arbeit zu hasten. Innerlich war er wie elektrisiert. Alle möglichen Gedanken zum Einmarsch in Polen gingen ihm durch den Kopf: „Soldaten marschieren und schießen. Menschen sterben, Häuser brennen! Was machen die anderen Länder? Wie werden sich England und Frankreich verhalten?” Bilder über Bilder – Fragen über Fragen – Gedankenblitze. Endlich erreichte er das Verwaltungsgebäude der GHH.

Jetzt wird es ernst,” rief der Pförtner, als Paul an ihm vorbeihastete. Überall auf den Fluren standen kleine Gruppen der Mitarbeiter und diskutierten die neue Situation, die neue politische Lage. Als Paul sein Büro erreichte, erwartete ihn Eleonore L.; auch sein Kollege Rüther war schon anwesend. „Mensch Paul,” sagte Eleonore, gab ihm die Hand, berührte mit ihrer Wange leicht sein Gesicht, schaute ihn mit großen, blauen Augen an und fragte: „Was hältst du denn von dieser Situation? Mein Mann ist in Berlin als Mitarbeiter von Heydrich. Er müsste es eigentlich wissen, doch er hat sich nicht gemeldet. Ich bin ganz aufgeregt.”

Beide Männer im Büro spürten, dass diese Erregtheit echt war. Eleonore strich fahrig über ihr Kostüm, das tadellos ihren Körper umhüllte. Der Saum des Rockes endete kurz unter den Knien und gab ihre schönen, schlanken Beine frei, die mit den hochhackigen Schuhen für Männeraugen „unendlich” lang wirkten. Durch das kurze, erregte Atmen hob sich ihre wohlgeformte Brust stoßweise hoch und ein wenig unkontrolliert schüttelte sie ihren Kopf. Paul, der immer noch neben ihr stand, nahm ihre beiden Hände, führte sie zum Stuhl und bat sie Platz zu nehmen. „Nein,” sagte sie, „ich kann jetzt nicht sitzen. Sagt mir,” und dabei schaute sie Paul und danach Rüther an, „was hat dieser Einmarsch in Polen zu bedeuten?”

Inzwischen hatte Paul ihre Hände wieder frei gegeben. Kollege Rüther war von seinem Stuhl aufgestanden und sie standen sich alle drei einen Moment wortlos gegenüber. Als Paul gerade zu einer Antwort ansetzen wollte, sprudelte es aus dem sonst wortkargen und ein wenig unbeholfen wirkenden Rüther hervor: „Genossin Eleonore, deine Erregtheit ist unbegründet. Der Führer weiß was er tut. Er musste den polnischen Übergriffen an der Grenze ein Ende setzen.” Genau diese Begründung war auch durch die staatlichen Rundfunksender verbreitet worden. Eleonore zuckte ein wenig zusammen und hob skeptisch ihre Augenbrauen. Sie wusste, dieses hatte ihr Mann Wolfgang in manchen Gesprächen zuhause deutlich gemacht, die nationalsozialistischen Führer fanden für schwerwiegende politische Vorgänge oft sehr einfache und dem Volk einsichtige Begründungen. Doch in Wirklichkeit setzten sie bei bestimmten Anlässen oder durch bewusst provozierte Vorgänge machtpolitische Prozesse in Gang, die weit reichende Folgen mit sich brachten.

Paul hatte das Hochziehen der Augenbrauen bei Eleonore L. gesehen. Nachdem Willi Rüther geendet hatte, fasste Paul erneut ihre Hand und sagte nachdenklich: „Ich glaube, wir können alle zu diesem Zeitpunkt noch nicht voraussehen, welche Folgen der Einmarsch unserer Wehrmacht in Polen haben wird. Wegen kleiner Scharmützel an der Grenze beginnt man keinen Krieg. Der Nichtangriffspakt mit Russland vor wenigen Tagen macht deutlich, dass mit Bezug auf Polen andere Gründe eine Rolle gespielt haben müssen. Eleonore, du musst jetzt aber keine Angst haben. Ich bin sicher, dein Mann wird dir bessere Erklärungen geben können, wenn er die Zeit findet, mit dir zu telefonieren.” Er streichelte ihre Hand, schaute mit tiefem Blick in ihre Augen und fügte hinzu: „Vielleicht kannst du heute Abend auf eine Stunde zu uns herüberkommen, dann können wir, meine Frau Sophia, du und ich, dieses Gespräch vertiefen?”

Eleonore zog langsam ihre Hand zurück, erwiderte seinen Blick und verließ mit den Worten das Büro: „Ich werde sehen, ob ich heute noch zu euch kommen kann. Danke für eure beruhigenden Worte. Dann wollen wir mal schauen, was der Tag noch alles bringt und wie es insgesamt weiter geht.” Paul und Willi schauten ihr nach und setzten sich, nachdem die Bürotür geschlossen war, an ihre Arbeitsplätze. Doch noch lange Zeit überdachten sie die vorausgegangene Situation und fanden dabei nur schlecht in den vorgegebenen Arbeitsablauf.

Als Paul am frühen Nachmittag von Sophia mit allen drei Kinder vom Werkstor 3 auf der Dorstener Straße. abgeholt wurde, brachte sie zugleich die neuesten Nachrichten mit. „Unsere Truppen dringen immer weiter in Polen ein. Besonderen Widerstand soll es bisher nicht geben. Die polnischen Truppen seien schlecht ausgerüstet und könnten der Stärke sowie der Durchschlagskraft unserer Wehrmacht nichts entgegensetzen,” wusste sie aus den Nachrichten zu berichten.

„Ob dein Bruder Franz bei der Luftwaffe auch schon im Einsatz ist?” fragte Paul nachdenklich, obwohl ihm eigentlich klar war, dass sie noch gar keine Nachricht haben konnten. Er nahm Theo an die linke und Franz-Josef an die rechte Hand, während Sophia die kleine Maria im Kindersportwagen vor sich her schob. Äußerlich fröhlich, wie eine glückliche Familie, gingen sie nach Hause.

Beim verspäteten Mittagessen fragte Sophia nach, wie denn die Stimmung auf der Arbeit gewesen sei und was die Kollegen zur morgendlichen Eilmeldung gesagt hätten: „Sag doch einmal bitte, was die anderen Kollegen auf der Arbeit gesagt haben! Ich bin den ganzen Tag über sehr nervös gewesen. Krieg hatte ich nicht erwartet.” Paul berichtete über seine Eindrücke und Gespräche: „Alle sind nervös, doch auf das Warum und die wirklichen Hintergründe weiß niemand eine überzeugende Antwort. Wir alle kennen nur den Sachstand aus den Nachrichten!”

In diesem Zusammenhang sah er nun auch die Gelegenheit für gekommen, Sophia von seiner Einladung an Eleonore L. zu unterrichten: „Es ist noch nicht klar, ob sie nachher herüberkommen wird. Doch wir sollten darauf vorbereitet sein,” merkte er beiläufig an. Sophia wusste, dass Paul Eleonore L. seit dem Parteibeitritt –insbesondere aber auch wegen der Unterstützung mit Bezug zu den Vorgängen am 9. November – duzte. Obwohl Nachbarinnen, waren sie bisher bei dem „Sie” in der Anrede geblieben.

„Ich kann gut verstehen, dass deine Kollegin Eleonore gerne einmal mit dir bzw. mit uns reden will, denn ihr Mann ist ja in Berlin und soll beim SS-Führer Heydrich eine herausgehobene Stellung haben,” führte Sophia das Gespräch weiter. Paul registrierte sehr wohl, dass in Sophias Worten keine Spur von Argwohn oder Distanzierung gegenüber Eleonore L. zu erkennen war. Sophia begegnete allen Menschen, insbesondere Nachbarn, mit denen sie freundlichen Umgang pflegte, sehr offen. Sie war eine sehr attraktive und gut aussehende Frau. Ihr wohl geformter Körper, schöne lange Beine, ein gut ausgebildeter Busen, blaue Augen, blondes, leicht gewelltes langes Haar, das sie zuweilen zu einem kleinen Knoten im Nacken zusammenband und ihre Körpergröße von 1,69 m machten sie zu einem Blickfang, zu dem sich so mancher Mann umdrehte. Niemand sah ihr an, dass sie in den vergangenen sechs Jahren seit der Hochzeit drei Kindern das Leben geschenkt hatte. Paul war ihr erster und viel geliebter Mann und ihr gemeinsames Glück war bisher ungetrübt.

Paul hatte das Liebesgeständnis von Eleonore Lorenbeck für sich behalten, doch jetzt ertappte er sich dabei, wie er gedanklich Sophia und Eleonore zu vergleichen begann. Liebesgedichte hatte er bisher nur für seine Phia geschrieben, wie er sie manchmal zärtlich nannte. Der unverblümten Aufforderung Eleonores, ihr ein Gedicht zu widmen, war er zwar nachgekommen, hatte es allerdings nicht an sie weitergegeben. Er freute sich auch über Eleonores Zuneigung und verspürte auch in ihrer Nähe ihre erotische Ausstrahlung, doch zu weiteren Heimlichkeiten – wenn man davon bisher überhaupt sprechen konnte – wollte er es nicht kommen lassen.

Am späten Nachmittag kam Eleonore L. wie erwartet zu einem Gedankenaustausch in ihre Wohnung. Paul und Sophia hatten sie schon über den Hof kommen sehen. Nach der Begrüßung nahm man gemeinsam in der Küche am großen Küchentisch Platz. Theo und Franz-Josef spielten in einer Ecke der Küche, während die Jüngste, Maria, die sonst den ganzen Tag über quicklebendig ihr Temperament zeigte, auf dem Chaiselongue eingeschlafen war.

Eleonore saß aufrecht mit gefalteten Händen am Tisch und wünschte sich auf Sophias Nachfrage ein Glas Mineralwasser. Paul und Sophia setzten sich ihr gegenüber und tranken lieber jeder eine Tasse Kaffee.

„Was gibt es Neues?” eröffnete Paul fragend das Gespräch. „Hat dich dein Mann inzwischen angerufen und Hintergründiges berichtet?” fragte er sehr gerade heraus. Eleonore sah sich wie eingeschüchtert ein wenig im Raum um, ihr Blick ging dann zu Sophia und Paul und sie antwortete: „Mein Mann Wolfgang hat mich vor einer Stunde aus Berlin angerufen. Nach seiner Aussage überschlagen sich in der Hauptstadt die Meldungen und politischen Einschätzungen. Heydrich habe in allen Belangen strengste Geheimhaltung befohlen. Er selbst, also mein Mann, geht davon aus, dass der Krieg nur von kurzer Dauer sein wird. Die Polen hätten uns nichts entgegenzusetzen und mit Russland sei man sich ja einig. Was immer das bedeuten mag.” Noch bevor Sophia oder Paul etwas sagen konnten, fügte sie hinzu: „In den nächsten Tagen soll ich für eine Woche nach Berlin kommen. Wolfgang ist unabkömmlich. Heydrich brauche ihn.”

„Dann hatte ich doch heute in der Frühe Recht, als ich dir sagte, du brauchtest dir keine Angst und Sorgen zu machen,” nahm jetzt Paul das Wort. „In Berlin erhältst du dann ganz bestimmt mehr und bessere Informationen, denn wir erfahren ja offiziell nur das, was wir auch wissen sollen,” ergänzte er. „Ich bin sehr gespannt darauf, wie sich Frankreich und England in den nächsten Tagen verhalten werden.”

Eleonore zog ihre Augenbrauen hoch und meinte dann: „Das habe ich eben vergessen zu sagen. Wolfgang ist der Meinung, die auch der Führer immer vertritt, dass die „feigen” Demokraten in England und Frankreich ihre Sicherheitsgarantien gegenüber Polen nicht einhalten werden. Ich bin gespannt, ob das alles so zutreffen wird.”

Danach brachte Sophia das Gespräch auf die alltäglichen Dinge. Sie erzählte von ihren kleinen Sorgen, den Anstrengungen bei der Versorgung und Erziehung der Kinder. Eleonore L. konnte dabei gut mitreden, denn auch sie hatte drei Kinder, die allerdings tagsüber von der Schwiegermutter versorgt wurden. Ihre Arbeit im Sekretariat des Ortsgruppenführers Nause, die ihr von diesem, nach Intervention durch ihren Mann beim Parteifreund, angedient worden war, ließ für die Familie nur nachmittags und abends Zeit, wenn nicht Parteitermine ihre Anwesenheit im Büro oder bei Veranstaltungen notwendig machten.

„Nachdem ich schon Ihren Mann duze,” wandte sich Eleonore L. an Sophia, „sollten wir doch auch zum vertrauteren „Du” übergehen, damit niemand auf dumme Gedanken kommt. Oder sind Sie anderer Meinung?”

„Nein, nein! Ich freue mich, wenn wir unsere Nachbarschaft und unsere Bekanntschaft jetzt mit dem Du besiegeln können,” antwortete Sophia. „Nun kennen wir uns doch schon eine geraume Zeit.” Sie holte drei kleine Schnapsgläschen, füllte sie mit einem Münsterländer Korn, und mit einem fröhlichen Prosit unter Anstoßen der Gläser war man dann beim gemeinsamen Du.

Wer Paul kannte, der wusste, dass er sich geschmeichelt fühlte, wenn seine Familie Anerkennung fand. Aus kleinen Verhältnissen kommend hatte er sich durch Fleiß und Zuverlässigkeit, durch seine schnelle Auffassungsgabe und nicht zuletzt durch seine Gedichte und Erzählungen in Oberhausen einen Namen gemacht. In der deutschen Sprache sicher und ausdrucksstark, obwohl er in der Zeit des I. Weltkrieges nur sechs Jahre die Volksschule besucht hatte, konnte er inzwischen auch in so genannten besseren, bürgerlichen Kreisen ohne Minderwertigkeitskomplexe auftreten. In der eigenen Familie, die Vielzahl seiner verheirateten Schwestern und deren Ehemänner einbezogen, gab man viel auf sein Wort und Urteilsvermögen. Während die Schwäger diese Stellung in der Familie ein wenig neidvoll anerkennen mussten, schwärmten seine Schwestern von ihm und „himmelten” ihn an.

Auch Sophia war sehr darauf bedacht, seinen Habitus in jeder Weise zu stärken. Paul überließ ihr die Kindererziehung und die Gestaltung des häuslichen Umfeldes, doch Sophia verstand es geschickt, ihn auch bei kleineren Entscheidungen mit einzubeziehen. Wenn er oft spät von der Chorprobe des „Sängerbundes der GHH” oder von Veranstaltungen des Gesellenvereins nach Hause kam, war sie immer noch auf und erzählte ihm was am Tage geschehen war. Dass Paul gerade zu Frauen sehr schnell guten Kontakt bekam, das war ihr nicht verborgen geblieben, doch zu einem eifersüchtigen Verhalten hatte es bisher keinen Anlass gegeben.

Als Eleonore L. sich nach gut zwei Stunden von Paul und Sophia verabschiedete, hatten sie alle drei das Gefühl, sich in freundschaftlicher Weise einander näher gekommen zu sein. Eleonore hatte ihnen noch zu verstehen gegeben, dass sie in zwei Tagen zu ihrem Mann nach Berlin fahren wolle und war dann, so wie sie über den Hof gekommen war auch über den jetzt schon dunklen Hof zurück in das Nachbarhaus gegangen. Paul hatte einen Moment überlegt, ob er sie bis zu ihrer Haustür begleiten solle, denn die dunkle Toreinfahrt im Anschluss an den Hof war für Frauen ein wenig unheimlich. Doch Eleonore kam ihm zuvor als sie im Herausgehen sagte : „Du brauchst dich nicht zu bemühen. Das schaffe ich schon alleine! Macht es gut, bis demnächst einmal.”

Die nächsten Tage brachten dann eine Fülle von Neuigkeiten. England und Frankreich erklärten Deutschland den Krieg. Die deutschen Truppen drangen immer weiter in Polen ein und es verstärkte sich der Eindruck, dass dieser Polenfeldzug nur von kurzer Dauer sein sollte.

Sophia und Paul erhielten aus Berlin eine Postkarte, auf der ihr Bruder und Schwager Franz mitteilte, dass er seine ersten Lufteinsätze über Polen unbeschadet überstanden habe.

Eleonore Lorenbeck war nach Berlin zu ihrem Mann gereist, doch der hatte kaum Zeit für sie. Nachdem sie ihn innerhalb einer Woche nur zweimal hatte sehen und sprechen können und die Zeit gerade für ein gemeinsames Abendessen gereicht hatte, war sie ziemlich entnervt zum Ende der Woche wieder abgereist. Wie viel das Versprechen ihres Mannes Wert war, sobald es möglich sei nach Oberhausen zu kommen, konnte sie nur erahnen.

Sophia und Paul erlebten diese Tage in verhaltener Anspannung. Das Leben ging trotz des Krieges in geregelten Bahnen weiter. Auch auf der GHH hatte die Arbeit ihren vorrangigen Stellenwert. Nur ab und zu bildeten sich kleine Gesprächsgruppen, die über die jeweils neue Lage diskutierten. In so genannten Betriebsversammlungen informierten die Parteigrößen über das Kriegsgeschehen. Diese Informationen unterschieden sich aber kaum von dem, was täglich im Rundfunk zu hören war. In 18 Tagen wurde die polnische Armee besiegt und Polen unter Russland und Deutschland aufgeteilt. Die Russen besetzten Ostpolen, während die Provinzen Posen und Westpreußen an Deutschland fielen und der Rest einem nationalsozialistischen„Generalgouverneur “unterstellt wurde. Von der erbarmungslosen Vertreibung der polnischen Bevölkerung und der mit allem Nachdruck einsetzenden Verfolgung der Juden erfuhr der normale Staatsbürger nur wenig, denn die offiziellen Nachrichten waren Erfolgsmeldungen der Wehrmacht und propagandistische Verlautbarungen des Reichs- und Propagandaministers Joseph Goebbels.

Im April 1940 besetzten deutsche Truppen überraschend Dänemark und Norwegen, um der Absicht der Engländer zuvor zu kommen, Deutschland von den Erzvorkommen des Nordens abzuschneiden. Die neutralen Staaten Holland und Belgien wurden im Mai 1940 in einem Überfall eingenommen, um den Krieg gegen Frankreich aus Norden kommend voran zu treiben. Am 22. Juni 1940 schlossen Deutschland und Frankreich einen Waffenstillstand, nachdem deutsche Soldaten in Paris die Siegesfahne gehisst hatten. Doch der vermeintlich kurze Krieg sollte noch lange nicht zu Ende sein.

Ganz Deutschland wurde von einem Siegestaumel ergriffen, dem sich auch Sophia und Paul nicht entziehen konnten. Das Ansehen des Führers und das siegestrunkene Auftreten der Nationalsozialistischen Parteigrößen erreichte eine Zustimmung in der Bevölkerung, die zwischen Heldenverehrung und Götzendienst anzusiedeln war. Die mit jedem Kriegstag steigende Zahl der toten Soldaten und Zivilisten, die steigende Zahl der Verwundeten und Kriegskrüppel, wie auch die Verfolgung der Juden und Andersdenkenden in den besiegten Staaten war aus der Wahrnehmung der Bevölkerung beinahe ausgeschlossen.

Im Hause Rundholz kam jedoch Ende 1940 eine andere Sorge auf. Der fast sechs Jahre alte Sohn Franz-Josef, ein aufgeschlossener und aufgeweckter Junge, erkrankte an einem Herz- und Nierenleiden. Er klagte über Rücken- und Brustschmerzen und bekam immer wieder auch Atemnot und Fieberschübe. Der Hausarzt, Dr. Stein, behandelte ihn mit den damals möglichen Therapien. Sophia musste Franz-Josef wenigstens zweimal in der Woche bei ihm in der Praxis vorstellen, doch eine grundlegende Besserung des Krankheitsbildes wollte einfach nicht eintreten.

Als das Weihnachtsfest bevorstand, trafen Sophia und Paul alle Vorbereitungen, um es zu einem erlebnisvollen Familienfest werden zu lassen. In der Wohnung roch es während der ganzen Adventszeit nach Plätzchen und Kuchen. Wenn es dunkel wurde, steckte Sophia die Kerzen am Adventkranz und verschiedenen anderen Leuchtern an, so dass immer ein vorweihnachtlicher Zauber die Wohnung erhellte. Die Kinder halfen ihr beim Backen der Zimtsterne und Bratäpfel oder malten und schrieben ihre Wunschzettel. Wenn Paul oder Sophia ihnen dann noch Advent- und Weihnachtsgeschichten vorlasen, die sie mit leuchtenden Augen in erwartungsvoller Spannung miterlebten, dann empfanden alle im Voraus den Zauber der zu erwartenden Weihnacht. Selbst Franz-Josef vergaß in solchen Stunden seine Schmerzen und war ein fröhliches Kind.

Eleonore L. traf Paul mehrere Male auf der Arbeit. Einmal erzählte sie Paul vom Besuch ihres Mannes zuhause und sagte: „Wolfgang wirkt immer wie gehetzt. Ständig, so behauptet er, müsse er für Heydrich Transporte organisieren oder vor Ort die Umsetzung bestimmter Befehle überprüfen. Was das genau ist, das wollte er mir nicht sagen. Er meinte nur: Wir tun das alles nur für eine saubere Volksgemeinschaft. Ich habe aber den Eindruck, dass Wolfgang für Dinge eingesetzt wird oder auch zuständig ist, die ihn sehr belasten. Er findet gar nicht zur Ruhe, ist gereizt und nervös und ist auch mir gegenüber verschlossen und wenig vertrauensvoll. Für die Kinder hatte er nur wenig Zeit übrig und ist dann auch schon bald wieder abgereist.”

Paul hatte ihr aufmerksam zugehört und meinte dann: „Das tut mir aber für dich leid, wo du ohnehin so viel alleine bist. Vielleicht hat dein Mann diese schwere Zeit ja bald überwunden. Besuch uns doch bald einmal wieder. Deine beiden Söhne kannst du gerne mitbringen. Die Kinder werden bestimmt gut zusammen spielen.” Danach schauten sie sich einen langen Augenblick tief in die Augen und gaben sich die Hand. Eleonore drückte sich leicht an ihn und lächelte ihn viel sagend an. Bevor sie ihrer Wege gingen, bemerkte Eleonore leise: „Ich warte immer noch auf dein Gedicht, ich habe es nicht vergessen.”

Paul erzählte Sophia von dem Gespräch mit Eleonore L. und von seiner erneuten Einladung an sie unter Einbeziehung ihrer Kinder. Dass Eleonore L. ihn liebte und ein Gedicht von ihm wünschte, das behielt er weiterhin für sich. Sophia machte keine Einwände gegen einen Besuch Eleonores mit ihren Kindern und meinte lediglich: „Es wäre nur schön, wenn sie sich kurz vorher anmeldeten, damit ich ein bisschen vorbereiten kann.”

Am Samstag vor dem vierten Adventsonntag schickte Eleonore L. nachmittags ihren ältesten Sohn Bernd mit einem kleinen Briefchen herüber in dem sie ankündigte, dass sie gern gegen 17:00 Uhr mit ihren Söhnen einen Besuch machen würde. Ihr fiele die Decke auf den Kopf und sie bringe auch einen kleinen Kuchen mit.

Der gemeinsame Nachmittag und frühe Abend wurde für die Kinder und auch für die Erwachsenen ein schönes Erlebnis. Die Kinder spielten ohne Schwierigkeiten miteinander, während sich Sophia, Eleonore und Paul über alle möglichen Themen austauschten. Am Abend sangen sie alle gemeinsam Volks- und Adventslieder, die Paul auf seiner Laute begleitete. Zum Ausklang, sozusagen als gute Nachtgeschichte, las Paul das Märchen von „Schneeweißchen und Rosenrot” vor. Die Kinder hatten inzwischen hochrote Köpfe bekommen und man sah ihnen an, dass sie müde fürs Bett waren.

Eleonore empfand Freude und Dankbarkeit, denn Familie dieser Art hatte sie schon lange nicht mehr erlebt. Sie bedankte sich herzlich, nahm Sophia und Paul zum Abschied kurz in ihre Arme und ging mit ihren Söhnen Bernd und Wolfgang beglückt nach Hause.

Kurz vor Weihnachten schrieb Sophias Vater, Franz Epke, aus Bruchhausen im Weserbergland: „Liebe Sophia, lieber Paul! Ich hoffe, dass es Euch und Euren Kindern gut geht. In diesen Zeiten kann man nur froh darüber sein. Leider lässt die Sehkraft von Mathildes Augen immer mehr nach, doch sonst sind wir gesundheitlich zufrieden. Die wichtigste Neuigkeit möchte ich Euch aber nicht vorenthalten: Heinz und Emil sind aus dem Kloster zu den Waffen gerufen worden. Sie waren nur wenige Tage hier in Bruchhausen und mussten dann sofort zu ihren Einheiten. Für Mutter Mathilde ist eine Welt zusammengebrochen. Ich denke, Heinz und Emil werden sich bald bei Euch melden. – Alles Gute! Euer Vater Franz.”

Paul und Sophia hatten eine derartige Nachricht schon länger erwartet, denn durch die Ausweitung des Krieges wurden immer mehr Männer zu den Waffen gerufen, die in der Wirtschaft oder in anderen Bereichen der Gesellschaft abkömmlich waren. „Hoffentlich musst du nicht auch noch zum Militär,” sagte sie fragend zu Paul. „Nein,” antwortete dieser, „zuerst werden die militärisch ausgebildeten jüngeren Jahrgänge eingezogen.” Schelmisch fügte er hinzu: „Ich habe ja keine militärische Ausbildung und bin auch schon viel zu alt. Du musst mich noch länger ertragen.” Sophia lachte und gab ihm im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange.

 

Im März 1941 verschlechterte sich der Gesundheitszustand ihres Sohnes Franz-Josef dramatisch. Zu seinen Nieren und Herzschmerzen bekam er eine schwere Lungenentzündung. Als das Fieber überhaupt nicht zurückgehen wollte und Sophia und Paul mit dem Hausarzt gemeinsam ratlos am Krankenbett standen, entschlossen sie sich nach Beratung durch Dr. Stein, einer Überweisung ins Krankenhaus zuzustimmen.

Am Abend des 21. März wurden sie aus dem Krankenhaus heraus zum Bett ihres Sohnes gerufen, der sie, heftig vom Fieber geschüttelt, kaum noch wahrnahm. Die ganze Nacht verbrachten sie an seinem Krankenbett, erneuerten so oft es ging die Wadenwickel, um das Fieber herabzusenken, doch gegen 5:30 Uhr machte das geschwächte Herz nicht mehr mit. Ganz plötzlich hörte es auf zu schlagen. Franz-Josef hatte sein junges Leben beendet. In die Todesurkunde schrieb der behandelnde Kinderarzt: „Tod durch akute Herzschwäche.”

Mit diesem Erlebnis konnten Sophia und Paul nur schwer umgehen. Sie waren tief erschüttert und vor allem Sophia und die Kinder weinten viele Tage lang. Der Leichnam des kleinen Franz-Josef wurde nach einer Totenmesse in der St. Clemens-Kirche in Sterkrade in einem weißen Sarg auf dem zur Pfarre gehörenden Friedhof an der Wittestraße beigesetzt.

Sophia und Paul waren mit ihren zwei kleinen Kindern dem Sarg auf dem Weg zum Friedhof gefolgt, und das Abschiednehmen am offenen Grab war eine herzergreifende und tränenreiche Handlung. Teilnehmer der Beerdigung waren neben den Eltern Sophias aus Bruchhausen, Pauls 67 jährige Mutter, die verwitwet in einem kleinen „Kotten” in Herbern in Westfalen lebte, weitere Geschwister mit ihren Kindern, Emma und Wilhelm von Kamp aus dem Haus und aus der Nachbarschaft Eleonore L. mit ihren beiden Söhnen, Frau Köster mit ihrer behinderten Tochter und aus jeder anderen nachbarschaftlichen Familie wenigstens ein Vertreter oder eine Vertreterin.

Unübersehbar im Trauerzug war Sophias Bruder Franz, der in der Uniform eines Oberfeldwebels der Luftwaffe teilnahm. Die Brüder Heinz und Emil hatten geschrieben und ihr Bedauern mitgeteilt, dass sie zur Beerdigung nicht kommen könnten, weil sich ihre Einheiten auf einen Fronteinsatz vorbereiteten. Grete Stein, Pauls älteste Schwester, war in Begleitung ihres jüngsten Sohnes Theo erschienen, der die Uniform der Waffen-SS Leibstandarte Adolf Hitlers trug. Seine Schwester Maria war mit ihren Kindern Anne, Bernd und Vera gekommen; ihr Mann Hans war wegen der Begleitung eines Sonderzuges unabkömmlich. Angela Sandberg und Ellen Toplinski, Pauls verheiratete jüngste Schwestern, nahmen ebenfalls an der Beerdigung ohne ihre Ehepartner teil, weil diese beruflich verhindert waren.

Nach der Beerdigung trafen sich die Großeltern, Geschwister und Verwandten in der Wohnung auf der Steinbrinkstraße134. Fleißige Helferinnen aus der Nachbarschaft hatten Kaffee, belegte Brötchen und Streuselkuchen vorbereitet, die Tische so gestellt und eingedeckt, dass alle – nachdem man noch Stühle aus der Nachbarschaft geholt und ergänzt hatte –in der Küche und im Wohnzimmer Platz fanden.

Nachdem sich alle ein wenig abreagiert und durch Kaffee, Kuchen oder Brötchen gestärkt hatten, begannen nach geraumer Zeit einige lebhafte Gespräche. Während sich Sophia und Paul anfangs mit ihren Eltern über das familiäre Miteinander und die Trauerbewältigung mit ihren Kindern unterhielten, rückte am Nachbartisch unter den Geschwistern und Schwägern die politische Situation und das Kriegsgeschehen immer mehr in den Mittelpunkt der Unterhaltung.

„Hast du schon einige Feindeinsätze an der Westfront hinter dir,” fragte Angela ihren Schwager Franz. „Nein,” erwiderte dieser, „nach den Aufklärungsflügen über Polen zu Beginn des Krieges habe ich viele Inlandflüge oder auch Flüge nach Italien absolviert. Zurzeit bin ich auf einem Blindfluglehrgang, der uns für besondere Einsätze fit machen soll.”

„Blindflug, d. h. man fliegt nur nach den Bordgeräten?” fragte Angela nach. „Das ist richtig,” war seine knappe Antwort. „Die richtigen Soldaten, die sind wir,” meldete sich der 19 jährige Theo Stein zu Wort. Mit 17 Jahren hatte er sich freiwillig zur SS gemeldet und eine harte Ausbildung und Erziehung zum unbedingten Gehorsam und zur blinden Gefolgschaft, zur Aufopferungsbereitschaft für den Führer Adolf Hitler durchlaufen. Jetzt wartete er nach seinem ersten Fronteinsatz in Frankreich auf eine weitere Verwendung.

„Man munkelt, dass es nach den Einsätzen in Nordafrika bald gegen die Sowjetunion losgehen soll. Die Russen werden staunen, wozu wir Deutschen fähig sind,” setze er seine Rede fort. „Mal nicht so voreilig und siegessicher,” warf Ellen Toplinski ein. „Die Franzosen und Russen haben im I. Weltkrieg gezeigt, dass sie gute Soldaten sind, wenn die politische und militärische Führung ebenfalls stimmen. Jetzt ist Frankreich zwar besetzt, doch warum glaubst du, Theo, dass wir Deutschen unbesiegbar sind? sagte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

Alle am Tisch hörten jetzt den beiden zu. „Weißt du, Ellen, wir sind heute in einer anderen Situation. Wir sind jetzt in einer Volksgemeinschaft, wo der eine für den anderen einsteht. Der Führer hat uns wieder stark gemacht als Volk. Wir gelten wieder etwas in der Welt. Wer sich uns entgegenstellt, der wird ausgemerzt. Europa wird sich durch den Nationalsozialismus und Faschismus unter unserer Führung verändern,” sagte Theo mit schneidender Stimme. Die Lautstärke der Stimme, aber auch die apodiktische Art und Weise der Einlassung verdutzte alle am Tisch. Als Erste hatte sich Ellen wieder gefangen und sie fragte Theo ganz unvermittelt: „Sag einmal, Theo, ist es richtig, dass ihr als SS Leute keiner Kirche mehr angehören dürft? Ich habe so etwas gehört und auch der Führer spricht ja oft davon, dass die Vorsehung ihn leite.”

Jetzt war es Theo, der ein wenig die Gesichtsfarbe wechselte und hintergründig lächelnd antwortete: „Es wird von unseren Führern erwartet, dass wir uns ganz unserer Sache hingeben und uns nicht durch religiös-kirchliche Phrasen ablenken lassen. In meinem Pass steht, dass ich gottgläubig bin,” dabei schaute er zu seiner Mutter herüber, die am anderen Tisch Platz genommen hatte.

In der Zwischenzeit hatten auch Paul und Sophia mitbekommen, dass am anderen Tisch eine heftige Debatte ihren Anfang nahm. Dieses schien ihnen am heutigen Tag gar nicht angebracht. Paul ging herüber zum Tisch und sagte: „Lasst heute mal die große Politik außen vor und unterhaltet euch über freundlichere Dinge. Der Anlass unserer Zusammenkunft ist schon traurig genug.” Franz, der in den letzten Minuten nur zugehört hatte, stimmte mit einem Kopfnicken zu und auch alle anderen am Tisch zeigten dann ihre Zustimmung.

Erwähnenswert von diesem für die Familie Rundholz denkwürdigen Tag bleibt eine Aussage, die Mutter Maria bei der Verabschiedung zur Heimfahrt machte: „Sophia und Paul, ihr habt in diesen Tagen schweres Leid erfahren. Niemand außer Gott weiß, warum es so geschehen musste. Ich werde für euch beten, denn das hat mir immer geholfen, wenn ich in ähnlichen Schwierigkeiten war. Haltet zusammen, dann werdet ihr es gemeinsam schaffen über euren Schmerz hinwegzukommen.”

Am Abend desselben Tages, als alle wieder abgereist waren und die Kinder ruhig schliefen, nahm Sophia ihren Paul in die Arme und sagte: „Es waren schwere Tage, die uns beide innerlich sehr wehgetan haben. Doch Freude und Leid liegen oft nahe beieinander. Paul, seit heute weiß ich es ganz genau, ich bin wieder schwanger.” Paul konnte im Moment gar nichts sagen. Er drückte sie ganz fest an seinen Körper, streichelte ihr den Nacken und die Haare, um dann mit gerührter Stimme zu sagen: „Das ist wunderschön. Gerade jetzt! Ich freue mich mit dir. Ich liebe dich! Es wird alles wieder gut werden.”

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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