Jesse: Von Möpsen und anderen Menschen

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Hintergründiger Humor, herzzerreißend und charmant: Der rote Faden, der die fünf Erzählungen verknüpft, ist das sich über ein halbes Leben hinziehende Bestreben, sich in den Besitz eines Mopses zu bringen. Der Erfolg dieses hartnäckig verfolgten Vorsatzes wird jedoch durch widrige Umstände und beklagenswerte Versuchungen vereitelt, mit anderen Hunderassen zu kokettieren. Erst in der letzten Erzählung ist diesem Vorsatz der lang ersehnte Erfolg beschieden. Erlebnisse in einer skurrilen Menagerie, in der – neben unterhaltsamen Tierchen unterschiedlicher Arten – Möpsen ›die‹ tragende Rolle zugewiesen wird, in der aber auch einige absonderliche Vertreter einer Spezies, die sich das Epitheton ›homo sapiens‹ zugelegt hat, ihre Nebenrollen zugewiesen bekommen, soweit diese in das Geschehen einbezogen sind und dem Bestreben des Autors entgegenkommen, sein eigenes, unverkennbares Gefallen an den Karikaturen auszuleben und des Lesers vermutetes Interesse an derlei bemerkenswerten Exemplaren dieser Spezies zu befriedigen.

 

Dr. med. Reiner Jesse, geb. 1941, hat sich neben seiner beruflichen Tätigkeit als niedergelassener Kardiologe stets für Malerei und Kunstgeschichte interessiert. In Ausstellungen zeigte sich desgleichen seine eigene malerische und grafische Begabung. Seit 2012 ist er nun auch als Autor hervorgetreten. In ›Von Möpsen und anderen Menschen‹ gewährt er dem Leser einige intime autobiografische Einblicke, in denen die Liebe des Autors zu Hunden, – vornehmlich zu Möpsen! – sein Gefallen an skurrilen Typen und nostalgische Sehnsüchte nach einer Jugendliebe auf dem englischen Eiland einfühlsam und humorvoll geschildert werden.

 

Reiner Jesse: Von Möpsen und anderen Menschen, 143 Seiten, Broschur, € 12.98 ISBN 978-3-86992-056-6

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Leseprobe:

Rudolf II. von Scherenberg

 

In einer engen, der Zerstörung durch Bomben und Feuersbrunst im Frühjahr 1945 weitgehend entgangenen Gasse des alten Würzburgs fand sich ein denkwürdiges Zoogeschäft. Es hatte zwei große Schaufenster, in denen allerlei Bedarf zur Haustierhaltung ausgestellt war. Halsbänder, Flohbänder, Zeckenbänder oder Kauknochen für Hunde und Trockenfutter für Zierfische, aber auch Kämme aus Metall und aus echtem Schildpatt, Bürsten aus Draht- und Naturborsten, Katzenkörbchen, Fressnäpfe sowie ein spezielles Körnerfutter für Sittiche zur Vorbeugung gegen den Kropf der Schilddrüse, denen diese Vögel offenbar hin und wieder anheimzufallen drohten. All dies wurde den lernbegierigen Passanten und potentiellen Käufern auf schmucklose Weise, auf eine geradezu nüchterne, auf eine jeder romantischen Verbrämung ermangelnde Weise dargeboten. Ein Sammelsurium an sowohl erfreulich-nutzvollen wie auch an lächerlich-unnötigen Dingen war da zu bestaunen, und zwar ohne jedes erkennbare, ordnende Prinzip. Gerade aber die wahllose Vielfalt und die kuriose Abwechslung machten das Studium der Auslagen so ungemein unterhaltsam; vorausgesetzt natürlich, man war Privatier und verfügte über genügend müßige Zeit, sich solcher Langeweile und sich einem solchen in gewisser Weise sinnlosen Tun hinzugeben. Zwei Schaufenster rechts und links neben der Türe also hatte dieses denkwürdige Zoofachgeschäft, in denen die bereits aufgezählten nützlichen und unnützen Dinge und dergleichen mehr den gelegentlich Vorbeieilenden zur gefälligen Anschauung dargebracht wurden; dargebracht wurden ohne jeden Zweifel mit dem Vorsatz und in der Hoffnung, dass vielleicht der eine oder der andere der Passanten sich gelegentlich versucht fühlen möge, zu verweilen und – im günstigsten Falle! – sich zu einem Kauf bequemen möge. Darüber hinaus waren die Exponate zur Belehrung des geneigten Tierhalters mit außerordentlich lehrreichen Hinweisschildern – mit in der Tat außerordentlich beachtenswerten Hinweisschildern! – und mit höchst aufschlussreichen Erklärungen überaus reichlich versehen. Die Beschriftung der Schildchen war allerdings, bedauerlicherweise in unschöner Manier vom Sonnenlicht gebleicht, oft bis an die Grenze zur Unleserlichkeit verblasst; ein wirklich beklagenswerter, ein in der Tat äußerst bedenklicher Zustand, der von gar manchem der potentiellen wissbegierigen Kunden zutiefst bedauert wurde. Angesichts derartig fesselnder Details mochte der Betrachter, der sich die Zeit nahm vor den Schaufenstern ein wenig zu verweilen – sei es zur Erholung von Pressthaftigkeit und Atmnot infolge einer altersbedingten Herzschwäche, sei es aus tatsächlichem Interesse an Tierhaltung – ein solcher Betrachter also mochte durchaus die Fliegen von der Spezies ›Stubenfliege‹ übersehen; jene Kadaver von der Spezies ›Musca domestica‹, will sagen von der Art der ›gemeinen Stubenfliege‹, die leblos auf den untersten Borden hinter den Schaufensterscheiben lagen, da sie bereits vor längerer Zeit ihr ohnehin bescheidenes und klägliches  Leben ausgehaucht hatten. Ein heißes, trockenes Klima hinter den sonnenerwärmten Glasscheiben im Inneren der Schaufenstergehäuse – gewissermaßen ein äußerst trockenes, heißes und dem Leben unzuträgliches Wüstenklima in diesen abgesonderten, vernach-lässigten Biotopen – war leider unbedingt geeignet, besagte Fliegen einer raschen Vergänglichkeit und Mumifizierung zu überantworten.

Über der Ladentüre ragte ein kleines Schild aus buntem Glas in die Gasse hinaus. Es lud die Fußgänger zum Eintreten in das Zoogeschäft ein, die allerdings nicht allzu oft ihren Weg über das unbequeme Kopfsteinpflaster des betagten Gässchens nahmen. Das Schild fiel eigentlich kaum auf und dürfte an hellen Tagen nur unzulänglich seinem Werbezweck genügt haben. Unübersehbar aber wurde der von innen beleuchtete Glaskasten, wenn schlechtes Wetter die Gasse verdunkelte, wenn winters die Dämmerung frühzeitig hereinbrach oder die Nacht über Giebel und Türme der altehrwürdigen Barockstadt am Main herniedersank. Dann nämlich kam die elektrische Beleuchtung des kleinen Lichtkastens voll zur Geltung und führte diesen mehr als zur Zufriedenheit der Geschäftseigentümer seiner eigentlichen Bestimmung zu. Ein Nymphensittich mit roten Bäckchen, mit gelbem Körper wie Eidotter und mit grasgrünen, langen Schwanzfedern erstrahlte dann von dem in seinen Eingeweiden erleuchteten Lichtkasten das Gässchen hinauf und hinab. Unter dem farbenprächtigen Vogel las man – ebenfalls in Lettern von golden strahlendem Dottergelb! – die barocken Schriftzüge ›Vogel Peter‹. Ohne Zweifel waren wohl Vögel die bevorzugten Lieblinge und deren Bedürfnisse die Einnahmequellen, die das Unternehmen zu tragen vermochten. Als allen Würzburgern bestens bekannte Seele und als Seniorchef des Geschäftes firmierte der bereits in die Jahre gekommene Zoofachhändler Peter Rohrdommel, assistiert von Gattin und Sohn, die beide den Gang des Geschäftes nach Kräften zu unterstützten suchten.

Zwar hielt man im hinteren Teil eines vom eigentlichen Ladengeschäft abgetrennten, jedoch durchaus zugänglichen, größeren Raumes in einem Verschlag – der in der Tat an nebeneinander und übereinander gesetzte Hasenställe erinnern mochte – zwar hielt man in diesem Verschlag tatsächlich Kaninchen, vergesellschaftet mit Meerschweinchen zu deren Gesunderhaltung, und hin und wieder auch ein oder mehrere Kätzchen oder Hündchen. Jedoch war dieses bescheidene Domizil der Säugetiere nichts im Vergleich mit den benachbarten, überaus komfortablen und prächtigen Käfigen und Volieren, in denen Papageien vom Schlag der ›Amazonen‹ mit blauen oder gelben Stirnen ihre Mark und Bein erschütternden Urwaldschreie krächzten und absolut nicht sprechen wollten, ganz im Gegensatz zu den Graupapageien, die allerlei Stimmen und Geräusche – sogar das Klingeln der Türe und das Rasseln der Ladenkasse! – auf das Erstaunlichste zu imitieren gelernt hatten. Andere, wenngleich bescheidenere Volieren waren dazu ausersehen, ganze Völkerschaften von unentwegt plappernden, piepsenden und ihre Schnäbel an den hölzernen Sitzstangen und an den metallenen Käfigstäben wetzenden Wellensittichen und Nymphensittichen zu beherbergen. Diese Vögel bezauberten die Besucher durch ihr Federkleid, das in allen nur erdenklichen blauen, gelben und grünen Farbtönen schillerte, und durch ihre weißen, schwarz gepunkteten Kröpfe. Diese Kehlsäcke vermochten die Tierchen unablässig und ohne erkennbare Veranlassung in ihrer Größe zu verändern. Es war lustig anzusehen, wie sich beim Aufblasen der Kehlsäcke die kleinen Federn wie Schuppen abspreizten, und wie sie sich beim Abschwellen wieder wie die Ziegel eines Daches den Kröpfen glatt anlegten. In zierlichen, kleinen Käfigen erglühten im roten Licht wärmender Lampen, abgeschirmt von einer ihnen unbekömmlichen Zugluft, exotische Prachtfinken und Gouldamadinen in den abwegigsten Farben aller nur vorstellbarer Edelsteine.

Der konkurrenzlose Star dieser Vogelwelt war ein alter, ausgemusterter Kakadu mit immer noch prächtigem, schneeweißem Gefieder. Gerade diese Sehenswürdigkeit füllte die Räume der Zoohandlung ›Vogel Peter‹ stets mit nicht unbedingt zum Kaufe aufgelegten Schaulustigen, darunter so manchem gelangweilten Rentier, der eben einmal so zum Zeitvertreib durch die Gasse spazierte und diese erbauliche Promenade zum Anlass nahm, bei dem durchaus liebenswerten Herrn Rohrdommel senior – eben beim ›Vogel Peter‹ – eine kurze, unterhaltsame, belustigende Rast einzulegen und ein erbauliches Schwätzchen zu halten.

Dieser gewitzte Kakadu nämlich verfügte über die unglaubliche Fähigkeit, aus seinem Scheitel einen zitronengelben Federwisch zu aller Welt Erstaunen unerwartet und ruckartig keck empor zu spreizen. Nicht selten begleitete der Vogel dieses Schauspiel mit leisen, gurrenden oder knurrenden Lauten von jener Art, wie sie Hühner gerne von sich zu geben, wenn sie sich schläfrig einem warmen Sandbad im Sonnenschein überlassen. Allerdings konnte man dieses Kunststückes, das schier an Zauberei grenzen mochte, nur dann ansichtig werden, wenn sich der seltsame Vogel durch eine nicht näher zu bestimmende Laune oder auch durch eine meist von den ihn bestaunenden Besuchern nicht nachvollziehbare Gemütserregung verführt sah, seinem Aberwitz auf diese charmante Weise Ausdruck zu verleihen.

Mehr noch als durch dieses Kunststück aber fühlten sich die Besucher durch des Kakadus geradezu erstaunliches Repertoire an verunglimpfenden und übelwollenden Sprüchen angezogen; Sprüche, wie sie einem wohlerzogenen Vogel eigentlich nicht hätten zugestanden werden dürfen, vornehmlich dann nicht, wenn dieser Vogel sich als ein gesellschaftsfähiges, gut erzogenes Haustier erweisen wollte und die Vorteile in Anspruch zu nehmen gedachte, die mit einem solchen Status einhergingen.

So war dem Kakadu, ungeachtet seiner genialen Lernfähigkeit und seines exzellenten Gedächtnisses, sein zum Bösen, zur Häme und zur Schadenfreude neigender Charakter zum Verhängnis geworden. Infolge dieser genialen, wenngleich abartigen Veranlagung des Vogels, die in der Tat geeignet war allgemeines Ärgernis zu erregen, hatte man sich in ›höheren Kreisen‹ zum Schutze der eigenen, durchaus berechtigten Belange gehalten gesehen, die ungewöhnliche Karriere des Sprachartisten auf öffentlicher Bühne gewaltsam zu beenden. Folgerichtig also hatte man sich entschieden, den Kakadu beim ›Vogel Peter‹ in Gewahrsam nehmen zu lassen; etwa so, als hätte man den zur unerträglichen Last gewordenen Vogel in eine Pfandleihe gegeben. Hoffte man doch, dass eine mitleidige, allerdings mit einem durchaus strapazierfähigen Nervensystem ausgestattete Menschenseele vielleicht über kurz oder lang sich des Kakadus zu erbarmen wüsste und sich herbeilassen würde, den Bedauernswerten, in fatal-vorbestimmter Weise von seinem selbst verschuldeten Schicksal Geschlagenen und sodann von seinen Opfern schwer Gedemütigten auszulösen.  

Als jene ›höheren Kreise‹, die man eines solch beklagenswerten, wenngleich nachvollziehbaren Vorgehens bezichtigen durfte, wie solches hinsichtlich des weiteren Schicksals des Kakadus beschlossen ward und diesen schließlich hart getroffen hatte, war ein Doktor der Veterinärmedizin auszumachen. Und als jene ›öffentliche Bühne‹, auf der sich unliebsam zu produzieren dem Vogel ein für alle Mal ein Riegel vorgeschoben werden musste, war das Wartezimmer der Kleintierpraxis jenes besagten Tierarztes im Zentrum der Innenstadt auszumachen, die von allerlei Getier nebst dessen Haltern reichlich frequentiert wurde. Und der Grund, die Karriere  dieses Vogels

– die sich übrigens zunächst als ungewöhnlich erfreulich und attraktiv angelassen hatte – der Grund also, diese Karriere des Kakadus seitens des Doktors der Veterinärmedizin als beendet anzusehen, war schließlich ein Schwund an tierischen Hilfesuchenden und deren menschlichen Begleitern gewesen, der außerordentlich rasch um sich zu greifen und das weitere Gedeihen der Praxis zu gefährden drohte. Wohl weniger die Heilungssuchenden selbst, wohl aber deren Halter und Begleiter nämlich fühlten sich durch die wirklich unangebrachten und jedermann verletzenden verbalen Ausfälligkeiten des Kakadus zutiefst verletzt und verhöhnt; Ausfälligkeiten, wie sie dem Vogel böswillige Menschen gelehrt hatten oder wie er sie – gelehrig wie ein Kakadu nun eben einmal zu sein hat! – gesprächsweise im Wartezimmer oder, zu Anfang seiner Karriere, im Behandlungszimmer, wohl aber auch im Kreise der Familie des Tierarztes so ›en passant‹ aufzuschnappen vermocht hatte. Kurz, der Stein des Anstoßes waren Sprüche wie: »edzed kümmd die Verrückde scho widder mid den aale Klebber …«, oder etwa: »der had eh feddich, den könne mer bloß noch eischläffern … feddich … eischläffern, eischläffern, eischläffern …« – schließlich verstand sich der Vogel zu jedermanns Erstaunen und zum allgemeinen Gaudium in der Tat auf derlei Äußerungen sogar im Würzburger Dialekt! – Wenn der Kakadu aber besonders bösartig aufgelegt war, dann schrie er auch schon einmal in der unverkennbaren Stimmfärbung seines ehemaligen, damals schwer genervten Arbeitgebers oder seines derzeitigen Pensionsvaters: »ich wääs goa ned … feddich … wie ofd soll ichs ihne dänn noch sooch … ich ned … ofd … gähe se endlich hemm un lassendse doch ihre aale Katz ... feddich ... endlich in Friede starb …«, oder, wenn es ganz schlimm kam: »wann ich die scho mid dan räuidiche Voachel säh …«, oder auch: »Herr God nochemol, ... feddich ... edzed halle se doch endlich dan Sauhund fesd ... edzed … feddich … oder ich leech beide von euch üm … edzed … feddich …«

 

In Anbetracht solcher, die Frequentation und die Existenz einer Kleintierpraxis durchaus gefährdender Ausfälligkeiten war dem Tierarzt letztendlich kaum eine andere Wahl geblieben, als sich von dem Stifter solchen Ärgernisses zu trennen. So hatte man sich entschieden, die Freuden und den Spaß, den ein solch gelehriges Tier vor anderem, geeigneterem Publikum und an einem anderen, weniger sensiblen Ort durchaus zu bereiten wusste, einem privaten Tierliebhaber zukommen zu lassen und die Vermittlung solcher Unterkunft der Zoohandlung des mit Vögeln aller Art äußerst erfahrenen Herrn Rohrdommel senior zu überlassen. Beim ›Vogel Peter‹ jedenfalls hatte jedermann seine Freude an dem einzigartigen Repertoire des bildschönen Kakadus; zudem der geduldige und tierverständige Herr Rohrdommel senior sich gelegentlich veranlasst fühlte, den Übermut des jauchzenden Publikums zu dämpfen und die oft jeder biologischen Kenntnis widersprechenden Mutmaßungen über den intellektuellen Zusammenhang der vom Vogel geäußerten Unflätigkeiten zu korrigieren: »… liewe Leud, dar wäß doch ned, was dar schmarrd …«, gab der Zoofachhändler dann zu bedenken, gelegentlich aber auch, und sogar hin und wieder völlig zu Recht: » … dar is schlauer aals Euereins … un aach schlauer aals Unnereins … des willsd mer glebb! … Wolle se wiss, was dar gäsdern erschd zu meiner Fraa gsochd hod?: ›mid derre koasde kei Ehr mehr eigelääch un kää Staad mehr gemoch, bei dan schüddere Fell, das die Fraa hod …‹, stelle sie sich des doch ämol vor. Aals mänd mer doch, dar wäs doch zu gedenk … dar Voachel …«, gab Herr Rohrdommel senior dann verhalten sein Urteil ab; nicht aber ohne sich vorher über den aktuellen Standort seiner Gattin orientiert zu haben. In der Regel sah diese sich während der ornithologischen Erklärungen ihres Gatten genötigt – zum vernünftigen Fortgang der Geschäfte, versteht sich! – am Ladentisch sich angelegentlich mit einem Geflügelhalter belehrend und animierend zu unterhalten. Zum Beispiel über Gipseier zur Anregung der Eiabgabe bei unwilligen Legehennen vom Schlage der ›Rodeländer‹ oder der ›Weißen Leghorn‹, oder auch über eine neue, vorteilhafte Streumischung für ein hygienisch vorbildlich eingerichtetes Katzenklo, oder über eine zuverlässige Vorbeugung vor Zeckenbefall, oder über eine biologische Kur zur Entwurmung von Hundewelpen.  

Von gar manchem Besucher wurde im Nachhinein allerdings aufs Bestimmteste bestritten, dass der Vogel jemals besagte Unverschämtheit bezüglich des Fellzustandes der Seniorchefin geäußert habe. –

Im vorderen Ladenraum herrschte eine wohltuende Stille, gemessen an dem schrillen Urwaldkreischen, dem Geschnattere, dem Gepiepse und dem Plappern der Papageienvögel im hinteren Gelass des Geschäftes. Diese Stille rührte im Wesentlichen daher, dass der von der Türe aus rechts liegende Teil des Geschäftes der Aquaristik gewidmet war. Fische sind in der Regel nun eben einmal stumm, sieht man von den sogenannten ›knurrenden‹ Guramis ab.

Für diese Abteilung der Zoohandlung zeichnete der Sohn des Ehepaares Rohrdommel verantwortlich. Dieser war einer modernen Technologie eher zugeneigt als der Seniorchef, welcher es in der Vogelhaltung bei seiner langjährigen Erfahrung und einigen hausbackenen Vorkehrungen durchaus bewendet sein ließ. Zur erfolgreichen Pflege hochempfindlicher Zierfische und dekorativer Pflanzen in den Schauaquarien allerdings, die als nachahmenswerte Beispiele exotisch-üppiger Naturjuwele der Tropen die Kauflust zum Erwerb derartig exquisiter Einrichtungen anreizen sollten, war mit derlei simplen Hilfsmitteln, wie solche dem Seniorchef bei der Pflege seiner Vögel genügen mochten,  kein zufriedenstellender und dauerhafter Erfolg einzufahren. In solch ungemein störanfälligen Biotopen – nicht zu vergleichen mit einem simplen Vogelkäfig, versteht sich! – in solch ungemein störanfälligen Biotopen also konnte auf minutiös regulierte Bodenheizung, auf Filterung, auf Kohlendioxidzugabe, auf genaue Einhaltung der Wasserhärte, auf Kontrolle des Säurebasengleichgewichtes, auf Bestimmung des Nitrit- und Nitratgehaltes im Wasser, auf das rechte Beleuchtungsspektrum und auf Kohlendioxid-Düngung für üppigen und bekömmlichen Wasserpflanzenwuchs, auf die genaueste Regulierung der Wassertemperatur und auf eine das im Wasser gelöste Bikarbonat keinesfalls austreibende, milde Durchströmung mittels einer Turbelle unter keinen denkbaren Umständen verzichtet werden.

Anders natürlich stand es um die kleinen Sammelbecken der zum Verkauf bestimmten Fischlein an der Wand gegenüber der Eingangstüre, die sich allerdings demgemäß auch nicht durch eine Üppigkeit an beneidenswert tropischem Pflanzenwuchs auszeichneten, der jenem in den technisch hochgerüsteten Schauaquarien auch nur in etwa vergleichbar gewesen wäre. Das waren die kahlen, geschäftsmäßigen und zum Käscherfang höchst geeigneten Hälterungsbehältnisse der roten Platys und der schwarzen Mollys, der Guppys, der Schwertträger, der echten und unechten Neonsalmler, der Trauermantelsalmer, der Blutsalmler, der Keilfleckbarben, der stillen blauschillernden Mondfadenfische, der Segelflosser und allerlei anderer Massenware. Hier mussten einfache, zugleich mit den Luftpumpen betriebene Filter mit Schaumstoffpatronen an den Ansaugrohren und simple Stabheizungen den bescheidenen Ansprüchen genügen. Die sich in den Schauaquarien tummelnden Rotkopfsalmler und Kongosalmler, vornehmlich aber die türkisblauen und roten, wie Bierdeckel geformten Diskusbuntbarsche hätten einen solchen, mit durchaus hausbackenen Mitteln unzureichend und instabil kontrollierten Lebensraum unweigerlich mit ihrem baldigen Ableben quittiert, vergleichbar den ›muscae domesticae‹ im heißen, trockenen, lebensfeindlichen Wüstenklima der Schaufenstergehäuse.  

In der Nähe des Durchganges vom Reich der hochentwickelten Aquaristik in den technisch zu vernachlässigenden Raum der Volieren stand – einer unüberwindlichen Barriere gleich – ein mit widerstandsfähigem Linoleum belegter Ladentisch. Solcher Belag war unabdingbar, da keinesfalls abzusehen war, ob etwa ein Häslein, ein Hündlein oder auch ein Vöglein nicht würde umhin können, bei dem unvermeidbaren und für das Tierchen stets mit einem erheblichen Stress behafteten Wechsel des Besitzers ein unliebsames Souvenir in fester oder auch in flüssiger Konsistenz zurückzulassen. –

»… des moch mer gleich wäch! …«, kommentierte Herr Rohrdommel senior dann in der Regel einen solch leidigen, wenn auch unvermeidbaren Zwischenfall.  

Dieser Ladentisch nun konnte als das Zentrum des gesamten Unternehmens gelten, zumal an seinem linken Ende – betrachtete man die Szenerie von Seiten des Käufers aus – eine gewaltige und hoch aufragende Ladenkasse aufgebaut war, die ohne jeden Zweifel aus der ›Gründerzeit‹ stammen musste. Dies konnte mit hinlänglicher Sicherheit gefolgert werden, wenn man des reichlichen, bronzenen Zierrates ansichtig wurde; eines Zierrates mit allerlei floralen Girlanden, mit fantasievollen Arabesken und mit einer halbnackten, geharnischten Frauenfigur nach dem Vorbild einer ›Germania‹ als Krönung des gesamten, zum Behufe einer Registrierkasse zweckentfremdeten Kunstwerkes.

Hinter dieser kulturellen Sehenswürdigkeit hatte Frau Rohrdommel senior ihren Wirkungskreis, den sie autark verwaltete und den sie gegen unangebrachte Störungen nachhaltig zu verteidigen wusste, wie sich solche hin und wieder aus den tierpflegerischen Tätigkeiten ihres Gatten oder aus den feuchtglitschigen Eingriffen ihres Sohnes ergaben. Abgrundtief verhasst zum Beispiel war Frau Rohrdommel, wenn Herr Rohrdommel junior einen noch tropfenden Plastikbeutel neben ihrer hochkünstlerisch ausgestalteten, antiken Registrierkasse deponierte, da solch Beutel mit seinem Inhalt an allerlei Fischlein, Mulch und Pflanzenresten nicht nur äußerst unappetitlich anzusehen war, sondern mit den Kieselsteinchen, die seiner feuchten Außenhaut noch anhafteten, auf dem Ladentisch – vornehmlich in engster Nachbarschaft zu einer dermaßen hochkünstlerisch konzipierten und realisierten antiken Registrierkasse – in der Tat als störender Fremdkörper betrachtet werden durfte. Herr Rohrdommel junior deponierte derartige Beutel allerdings nur dann zu Seiten der Registrierkasse auf dem Ladentisch, wenn er diese Beutel – übrigens zum Fischtransport höchst geeigneten Behältnisse – mit Atemluft aus seinem Mund prall aufzublasen und sodann unter Zuhilfenahme eines Kuponrings aus Gummi beneidenswert geschickt zu verschließen gewusst hatte. Frau Rohrdommel senior konnte solchen Falles allerdings nie umhin voller Sorge zu bemerken: »Ich sehe noch mal kommen, dass du den Typhus oder die Ruhr bekommst … du wirst schon noch sehen …« Im Gegensatz zu ihrem Gatten und zu ihrem Sohn befleißigte sich die Seniorchefin einer durchaus tadellosen und hochdeutschen Diktion. Sie vermied sorgsam in den an sich liebenswerteren und kundenfreundlicheren Würzburger Dialekt zu verfallen. Überhaupt stach Frau Rohrdommel senior wohlgefällig vom Exterieur der anderen im Geschäft tätigen Familienmitglieder ab. War sie doch stets exquisit gekleidet und bevorzugte pastellfarbene Cardigans, dekoriert mit einer um ihren etwas fülligen Hals doppelt geschlungenen Zuchtperlenkette. Auch war sie stets aufs Sorgsamste frisiert, wobei ihre kastanienbraun gefärbte Haarpracht in einem über den kleinen Ohren gewaltig ausladenden Kranz nach oben gerafft war, um sich in einem großen, runden, nestartigen Dutt auf der Mitte ihres Scheitels zu versammeln. In Anbetracht des Alters der Seniorchefin allerdings durfte durchaus strittig bleiben, ob dieses Haargebilde als ein der Trägerin wirklich zugehöriger Körperteil oder aber als ein prothesenartiger Fremdkörper eingestuft werden musste; als ein Prothesenteil, das zum Beispiel vom natürlichen Kopfschmuck einer fernöstlichen Schönheit gewonnen worden war. Sei es wie es wolle: kein Zweifel konnte an der offensichtlichen Tatsache angemeldet werden, dass eine derartige Frisur – die in der Tat an ein Storchennest zu erinnern vermochte – für die Seniorchefin eines Zoofachgeschäftes mehr als angemessen war; insbesondere für die Seniorchefin eines alteingesessenen Zoofachgeschäftes, das sich befleißigt sah unter dem Logon ›Vogel Peter‹ zu firmieren. –

Herr Rohrdommel senior allerdings war tagein und tagaus nur in einem grauen Arbeitskittel wahrzunehmen. Er hatte einen im Vergleich zu seiner eher kleinen Statur ungewöhnlich großen, runden Kopf mit einem spärlichen Kranz grauer Haare. Sein Gesicht war außerordentlich fleischig und von einer auffallend gesunden, roten Färbung. Böse Zungen wussten zu behaupten, dieser rötliche Teint habe seine Ursache nicht etwa in den von Ammoniak gesättigten Ausdünstungen der Vogelexkremente, sondern sei dem Genuss edler Tropfen wie etwa dem ›Würzburger Stein‹, dem ›Würzburger Leisten‹ oder vielleicht auch dem ›Randersackerer Teufelskeller‹ anzulasten. Sei dem wie es wolle: Herrn Rohrdommels Antlitz war jedenfalls – ungeachtet der Rötung – ob der Wahrnehmung seiner verantwortungsvollen Aufgabe und seines unablässigen Einsatzes zum Erhalt der ihm überantworteten Vögel stets mit einem feinperligen Schweiße bedeckt, der sich auch auf den runden Gläsern seiner Nickelbrille als feuchter Belag niederschlug.

Der Sohn des Ehepaares Rohrdommel hingegen entbehrte jeglicher Eigenheit, die sich als beschreibenswert hätte erkennen lassen; es sei denn, man fühlte die ungehörige Versuchung, sich über eine geradezu unglaubliche, in seinem noch jugendlichem Alter bereits abzeichnende, lächerliche Ähnlichkeit mit seinem Vater lustig zu machen. –

In diesem besagten Zoofachgeschäft ›Vogel Peter‹ nun waren neben jenem berüchtigten Kakadu allerdings noch zwei weitere Attraktionen zu bestaunen, allerdings nur während der Öffnungszeiten des Geschäftes; und selbst dann nicht immer, sondern nur, wenn eine unabdingbare Vorrausetzung für die Zurschaustellung dieser bei Jung und Alt außerordentlich beliebten und ungeheurer possierlichen Tierchen gegeben war.

Diese Voraussetzung war, dass die Seniorchefin nicht etwa nur ›in effigie‹, sondern tatsächlich ›in corpore‹ im Geschäft zugegen war und sich in die Lage versetzt sah, ihres für den ungestörten Gang der Geschäfte unverzichtbaren Amtes an der kolossalen Registrierkasse hinter dem Ladentisch zu walten. Eine Voraussetzung also, die gottlob täglich gegeben war, sah man von den an den Fingern einer Hand abzuzählenden Tagen im Jahreskreis ab, an denen Frau Rohrdommel senior sich verhindert sah, das Geschäft mit ihrer Anwesenheit zu bereichern. Eine derlei wirklich nur außerordentlich selten eintretende Gegebenheit war zum Beispiel, wenn ein Termin bei ihrer ›coiffeuse‹ zur Ausbesserung der storchennestähnlichen, kunstvollen Frisur wahrgenommen werden musste; eine Notwendigkeit, die allerdings als nicht durchaus privates Vergnügen angesehen werden durfte, war doch die untadelige Haartracht der Seniorchefin aufs Engste mit dem guten Ruf des Unternehmens verknüpft! Ein solcher Tag der Abwesenheit von Frau Rohrdommel senior aber galt bei der Stammkundschaft des Zoofachgeschäftes als ›schwarzer Tag‹, da dieser Ausnahmezustand die Abwesenheit von ›Cercie‹ und von ›Rudolf II.‹ zwingend zur Folge hatte. –

›Cercie‹ war der Kosename eines Äffchens, das dem Stamme der ›Blaumaulmeerkatzen‹ angehörte. Der Kosename ›Cercie‹ leitete sich von der lateinischen Bezeichnung ›Cercopitecus cephus‹ dieser Spezies her. Blaumaulmeerkatzen zählen zu den sogenannten ›Schöngesichtigen Meerkatzen‹; und tatsächlich hatte Cercie ein außerordentlich interessantes, wenn auch nach menschlichen Maßstäben nicht unbedingt schönes Antlitz. Um die kleinen, runden Äuglein und auf der breiten Nase war die haarlose Haut von einer eigenartig hellblauen Färbung, während Stirne und Mundpartie von einem schwarzen, die Wangen aber von einem weißen und zitronengelben Fell bekleidet waren. Auch der Schnurrbart, der Hals und die Bauchpartie des kleinen Äffchens waren weiß. Ansonsten war das Fell des Tierchens von einer rotbraunen Färbung, bis auf den Rücken und die Gliedmaßen. Rücken und Gliedmaßen machten einen recht unansehnlichen Eindruck, da deren Behaarung von einem schmutzigen Grau, wohingegen der rumpfnahe Teil des erstaunlich langen und dünnen Schwanzes von einer ungemein attraktiven roten Färbung war.  

Auf Nachfragen interessierter Kunden oder auch nur neugieriger Passanten wusste Frau Rohrdommel senior zu berichten, Cercie gehöre zu den ›Primaten‹, also zu den ›Menschenaffen‹. Zudem sei sie ungemein glücklich darüber, dass Cercie eine Affendame und kein Affenmann sei. Dass Cercie weiblichen Geschlechtes sei könne man leicht und zuverlässig daran erkennen, dass das Tierchen gottlob nicht von den perversen und abstoßenden, wenngleich höchst interessanten Attributen der männlichen Tiere mancher dieser Arten verunstaltet würde: nämlich von »jenen leuchtend blauen Hoden und von jenem abartig roten Penis«. – Attribute, die ihr, Frau Rohrdommel, schon nimmer den Eindruck einer abartigen, einer förmlich krankhaften Veranlagung dieser männlichen Tiere vermittelt hätten – eine Annahme, die natürlich nicht für jedermann verpflichtend sei, versteht sich! – Weiterhin wusste die beneidenswerte Halterin der Affendame zu berichten, dass Cercie außerordentlich lebhaft und – wie übrigens alle ihre Artgenossen – geradezu von einer unglaublichen, fast von einer menschlichen Neugierde sei, ansonsten aber als äußerst umgänglich und anspruchslos bezeichnet werden dürfe. Diese Neugierde sei auch der Grund dafür – so fühlte Frau Rohrdommel senior zu bekennen sich verpflichtet – dass Cercie, die in der Regel zur Linken der Seniorchefin am Rande des Ladentisches hockte, mit einem zierlichen Halsband und mit einem zartgliedrigen Kettchen an ihren angestammten Standort angebunden bleiben müsse. Sie verschaffe sich aber als Ausgleich für diese bedauernswerte Einschränkung ihrer Freiheit ausreichend Bewegung mit ihrem Schwanz, wie man sehen könne. Und tatsächlich vermochte das Äffchen mit dem Ende dieses Körperteils in unablässiger Folge die seltsamsten Haken und Kringel zu formen, ja sogar mit ihrem Schwanz nach diesem oder jenem Gegenstand und sogar nach Kleidung und Taschen der Besucher zu greifen. Mit nach Hause nehmen allerdings könne sie Cercie nicht – sah sich Frau Rohrdommel senior zuzugeben gehalten – das sei völlig ausgeschlossen, schließlich seien doch Meerkatzen nicht ›stubenrein‹ zu erziehen. – Nein, wenn sie selbst nicht im Geschäft sein und hinter dem Ladentisch stehen könne – und auch nachts – dann müsse Cercie mit ihrem geräumigen und wirklich bequem eingerichteten Käfig vorlieb nehmen, hinten, wo es warm sei – bei den Vögeln – und bei ihrem Gatten. –

Nicht nur die schöngesichtige Blaumaulmeerkatzenäffin Cercie – »… nein, gewiss nicht! …« – auch ›Rudolf II.‹ – so wusste Frau Rohrdommel senior stolz der interessierten Kundschaft zu berichten – auch ihr privater Mops, jener gewisse ›Rudolf II.‹ eben – sei nicht etwa ein ›gewöhnlicher‹ Mops. Nein, keinesfalls: Rudolf II. sei ein ›steingrauer, altdeutscher‹ Mops! Ein heutzutage leider nur noch äußerst selten anzutreffender Mopsschlag, wie sein Frauchen – allein von der Bezeichnung ›steingrauer, altdeutscher Mops‹ schon außerordentlich angetan – zu erklären wusste. Rudolf II. habe den typischen, unverzichtbaren ›Aalstreifen‹ auf seinem Rücken, habe den ›Posthorn-Ringelschwanz‹, habe desgleichen die ansonsten in Übereinstimmung mit dem Rassestandard zu fordernden Abzeichen, wie etwa die schwarzen Wärzchen auf beiden Wangen, wie etwa die kleinen, von einem schwarzen, seidigen Fell gezierten Hängeöhrchen, die jedoch keinesfalls wie die als ›Rosenohren‹ zu bezeichnenden Ohren der Englischen Bulldogge geformt sein dürften, und vor allem habe Rudolf II. einen gedrungen, wenngleich muskelkräftigen Rumpf mit breiter Brust und mit unverzichtbar geraden Vorderläufen. –

Rudolf des Zweiten Stammplatz war auf dem Ladentisch neben dem barocken Prachtstück der Registrierkasse. Dort saß Rudolf II. unbewegt wie eine Statue in der unverwechselbaren Haltung aller ›steingrauen, altdeutschen Möpse‹ – übrigens in der Haltung aller Möpse, auch ganz ›gewöhnlicher‹ Möpse, darf bemerkt werden: nämlich mit lässig und nach Art von Trommelschlegeln zur Seite nebeneinander gelegten Hinterbeinen, auf deren einem Schenkel – mit einer seiner wohlgerundeten Pobacken sitzend – er sich durchaus bequem einzurichten wusste, während er seinen Oberkörper mit einer breiten, dennoch aber kielförmig anmutenden Brust kerzengerade aufgerichtet hielt und mit seinen geradezu unglaublich dünnen, staksigen und in der Tat – wie von der kundigen Seniorchefin des Zoogeschäftes gefordert – unglaublich geraden Vorderbeinchen abstützte.

Einen erschütternden Gegensatz zu dieser höchst lächerlichen Figur bildete das Gesicht des Hündchens. Rudolf II. hatte, im Gegensatz zu seinem steingrauen Fell, ein Gesicht wie aus schwarzem Samt. In seine flache Stirne waren tiefe Querfalten nebst einigen unregelmäßig verlaufenden Runzeln eingegraben. Die Falten und die offenbar schwermütige Miene waren geeignet den unabweisbaren Eindruck hervorzurufen, der arme Hund könne nicht umhin, die Kümmernisse und die Sorgen der ganzen Welt mit sich herumzutragen und sich dieser schweren Last und hohen moralischen Verantwortung durchaus bewusst zu sein. Die Nase von Rudolf dem Zweiten war lackschwarz, mit nach vorne gerichteten Nasenlöchern, und klein und platt; dennoch war dieses Näschen durchaus bemerkenswert ausgebildet, wie sich eine solche Nase, sollte diese ihrer Aufgabe als brauchbarer Teil gesunder Atemwege gerecht werden können, für einen ›altdeutschen‹ Mops gehörte. Neben seinem ›steingrauen‹ Fell mache also die Nase Rudolf II. eben zu einem ›altdeutschen‹ Mops; zu einem in der Tat ›frei atmenden‹ Mops, wie Frau Rohrdommel senior nicht müde wurde hervorzuheben. Eine eigentliche Schnauze, wie sie einem Hund normalerweise gut anstehen würde, ließ sich bei Rudolf dem Zweiten allerdings keinesfalls ausmachen. Vielmehr hatte Rudolf II. eine Art breites und flaches, froschähnliches Maul, gerade eben noch bedeckt von zwei Lefzen, die zahlreiche runzelähnliche Querfalten und in mehreren Reihen angeordnete kleine Wärzchen aufwiesen, aus denen einzeln stehende, lange und schwarze Tasthaare erwuchsen. Neben dem ›Froschmaul‹ füllten zwei wohlgerundete Bäckchen den Raum zwischen Ohren und Hals aus, auf denen zwei Warzen wie schwarz geschminkte Punkte dem Mopsgesicht etwas Clownartiges verliehen. Überhaupt darf angemerkt werden, dass das gesamte Erscheinungsbild des Mopses etwas durchaus Lächerliches, etwas Clownähnliches an sich hatte, sieht man von dem accéssoire eines kleinen, wie zu einer Spule geringelten Schwanzes ab – ein accéssoire, das eher einem Schweinchen zugeordnet werden mochte. –

Beim Anblick von Rudolf dem Zweiten erinnerte ich mich des Mopses, dem ich vor etwa neun Jahren als Austauschschüler in England begegnet war. Der Mops hieß Bruno, sah Rudolf dem Zweiten täuschend ähnlich, nur war Brunos Fell nicht steingrau, sondern mehr beigefarben. Bruno war nun eben einmal kein echter ›altdeutscher steingrauer‹ Mops; Bruno war ein ›pinkfarbener‹ oder ›aprikotfarbener‹ Mops, eben ein echter ›englischer‹ Mops, wie solche Möpse ›Ihre weiland Majestät Queen Victoria‹ bevorzugt hatte. – Leider war Bruno an verschiedenen Körperteilen von etwa münzgroßen, kahlen und dunkleren Stellen verunziert gewesen, die nach Angaben seines Frauchens von einer Pilzerkrankung der Haut herrührten. Das aber hatte ganz gewiss nichts mit seinen englischen Wurzeln zu tun! Ich war Bruno wiederholt begegnet, wenn er seinem Frauchen – einem älteren Fräulein namens Ms. Hunter-Rutherford – bei Spaziergängen am Nordseestrand von Cleethorpes in Lincolnshire unverzagt bei Wind und Wetter Gesellschaft leistete.

Das Beeindruckendste an Rudolf dem Zweiten waren jedoch – ungeachtet der bislang beschriebenen, aparten Besonderheiten – die auffallend großen, deutlich hervortretenden und außerordentlich dunklen Augen.

    Abgesehen aber von ihrer Form, die man bei einem menschlichen Antlitz als ›Glotzaugen‹ hätte beschreiben dürfen, haftete den Augen von Rudolf dem Zweiten etwas an, das ein Gegenüber, das an Mopsgesichter nicht gewöhnt war, nicht nur in höchstes Erstaunen, sondern auch in fast peinliche Irritation zu versetzen geeignet war. Rudolf II. nämlich hatte jenen ausgeprägt schielenden Blick, wie er allen Möpsen mit vollkommener Gesichtsbildung eignet. Wenn Rudolf II. sein Gegenüber schwermütig und konzentriert ansah und dessen Mimik zu ergründen suchte – während er seinen Kopf einmal auf diese, einmal auf jene Seite geneigt hielt – so konnte er dieser durchaus intellektuell erscheinenden Tätigkeit nur mit einem Auge gerecht werden. Jedenfalls konnte der Mops jeweils nur mit diesem einen Auge sein Gegenüber fixieren, während das andere Auge seitab gerichtet blieb und wer weiß wohin blickte. Dieses Auseinanderdriften der normalerweise parallel verlaufenden, allenfalls beim Fokussieren eines nahen Objektes konvergierend verlaufenden Sehachsen verlieh Rudolf dem Zweiten einen Ausdruck, als sei er durchaus einer gewissen Frömmigkeit und sogar dem Ecclesialen zugewandt. Jedenfalls schien er wie träumend in weite Fernen zu blicken, oder auch voller Hingabe in den Himmel zu sehen, – oder vielleicht sogar verzückt in die uns Menschen nicht in gleicher Deutlichkeit erkennbare, mystische Ewigkeit zu starren. – Ein Eindruck, der natürlich als Selbsttäuschung des Beobachters bezeichnet werden muss. Dieser Eindruck entsteht natürlich nicht etwa durch eine ecclesiale Obsession oder metaphysische Veranlagung des Hundes, sondern ganz banal durch die vom Züchter und vom Halter unbedingt erwünschte Schädelbildung mit der daraus resultierenden Positionierung der Augäpfel des Mopses. Der Arzt bezeichnet solch Auseinanderschielen als ›strabismus divergens‹ und betrachtet eine derartige Anomalie beim Menschen als ›motorische Sehstörung‹; mithin als eine Störung der Muskeln, die die Augäpfel in ihren knöchernen Schädelhöhlen koordiniert bewegen. Beim Mops hingegen gilt dieses Auseinanderschielen nicht nur als rassespezifisch und daher als völlig normal, sondern sogar als apart und erwünscht. Die Maler und Bildhauer der Gotik bedienten sich dieses ›strabismus divergens‹ als eines willkommenen, künstlerischen Raffinements, um den Gesichtern ihrer Heiligen, Madonnen, Kirchenfürsten oder auch ganz einfach all der biederen Knieenden, Betenden und Gläubigen einen dem Göttlichen und dem Jenseitigen zugewandten und dem Weltschmerz überantworteten Gesichtsausdruck zu verleihen. Diese durchaus interessante, kunsthistorische Erkenntnis hatte man auch zum Anlass genommen, den mit einem erfreulich mopstypischen ›strabismus divergens‹ begabten Mops mit seinem Namen ›Rudolf II. von Scherenberg‹ zu belehnen – ein für einen Mops ungewöhnlicher Name, zugegeben! – Aber in der Tat: mit seinem ›strabismus divergens‹ und mit seinen reichlichen und ausgeprägten Falten im Gesicht ähnelte der Mops seinem Namenspatron, jenem Fürstbischof ›Rudolf II.‹ aus dem ›Geschlecht derer von Scherenberg‹, wie ihm Tilman Riemenschneider im Würzburger Dom zu Sankt Kilian ein in Stein gehauenes ewiges Abbild gesetzt hatte. –

»Wenn es sie interessieren sollte: ›Rudolf der Zweite von Scherenberg‹ ist übrigens gar nicht sein richtiger Name!« hielt sich Frau Rohrdommel senior bei geeigneter Nachfrage gehalten zu erklären: »Diesen Namen hat ihm erst mein Mann gegeben … mein Mann treibt doch allzu gern Narretei, sie wissen doch! … zunächst nur aus Spaß! … und dann hat sich der Name eben eingebürgert, wie das nun mal so geht, in der Familie … und auch bei der Stammkundschaft. Sein richtiger Name ist ›Kong Qiu von Luoyang‹. ›Luoyang‹ heißt der Mopszwinger in der Nähe von Oldenburg …«, wusste Frau Rohrdommel zu berichten, » … Möpse stammen ursprünglich nämlich aus China! … Von dort kamen sie mit Händlern und deren Schiffen nach Europa, zuerst nach Holland, soweit ich weiß … und dann nach England. Vor dreitausend Jahren gab es schon Möpse in China. Und die Tochter von Maria Theresia, die Marie-Antoinette, die dann später in Frankreich geköpft wurde, die hat so bitterlich geweint, als sie den Franzosen übergeben wurde … übrigens splitternackt! … und sich an der Grenze nicht nur von ihrem Gewandt, sondern auch von ihrem Lieblingsmops verabschieden musste. Und die Frau vom Napoléon Bonaparte … die Joséphine de Beauharnais … so hieß die doch? glaube ich jedenfalls … die hatte einen Mops, der dem Napoléon bei einem Attentat sogar das Leben gerettet hat, und zwar ausgerechnet am Weihnachtstag! … ›Monsieur Fortuné‹ oder ›Monsieur Fortunat‹ … oder so ähnlich … so hieß der Mops von der Joséphine Beauharnais … Und der Züchter von meinem ›Kong Qiu‹, der seinen Zwinger bei Oldenburg ›Luoyang‹ …« –  

Spätestens in diesem Stadium der erstaunlichen und wirklich profunden Erklärungen zur Historie der Möpse, über die seine Gattin nur allzu freigiebig zu verfügen beliebte, fühlte sich Herr Rohrdommel senior verpflichtet, auf das Entschiedenste einzugreifen und Einhalt zu gebieten: »Ach geh doch zu! … des kammer doch ned ausgesprech! …« pflegte er seiner Gattin das Wort abzuschneiden; allerdings nicht etwa, da es ihm an Zuvorkommenheit oder Rücksichtnahme gebrach, sondern allenthalben in der besten Absicht, die interessierte Kundschaft geflissentlich zu beruhigen und seines Verständnisses und Mitleids zu versichern: »Kä Mönsch ko sich des gemerk oder ausgesprech … kä Mönsch ned, mein ich aals …«

Nach solcher Rede allerdings holte Herr Rohrdommel seinerseits zu den ihm notwendig erscheinenden Erklärungen aus, um die verworrene Sachlage wieder zu ordnen und die Namensgebung des Mopses in einen nachvollziehbaren, historischen Zusammenhang zu stellen:

»Dar Mobbo häsd ›Rudolf dar Zwädde‹, weil dar dem Rudolf dem Zwädde vo Schereberch gleich siehd! Gugge se doch, wie dar schield! Genauso schield dar Rudolf dar Zwädde vo Schereberch, wie dar so auf sein Grab im Kiliansdom zu lieche komme is! … Ich möchd aals wiss, ob dar Fürsdbischof dadsächlich so gschield hod, oder ob dar Riemeschneider dan vielleichd nur so gsähe hod? …«

Durch die Ausführungen von Herrn Rohrdommel senior neugierig geworden, verfügte ich mich eines schönen Tages tatsächlich in den Würzburger Dom, um des Bildnisses jenes ›Rudolf dar Zwädde vo Schereberch‹ – wie der Seniorchef der Zoohandlung ›Vogel Peter‹ den Namen des Fürstbischofes im Würzburger Dialekt auszusprechen beliebte – um also jenes Epitaphs von ›Fürstbischof Rudolf II. von Scherenberg‹ endlich ansichtig zu werden. Obgleich ich bereits einige Semester an der Alma Mater Julia hinter mich gebracht hatte, hatte ich mir bislang keine Zeit genommen und wohl auch keine rechte Veranlassung gesehen, das Innere des dem Frankenapostel Sankt Kilian geweihten Gotteshauses zu besichtigen.

Und tatsächlich: Wie von dem liebenswerten Herrn Rohrdommel senior beschrieben, lag da ›Rudolf II. von Scherenberg‹ in seinem fürstbischöflichen Ornat und stierte mit jenem besagten ›strabismus divergens‹ empor in die Ewigkeit seines Chefs, vor dem er wohl längstens Rechenschaft hat ablegen müssen. Der Epitaph, den das lebensgroße Ebenbild des weiland Würzburger Fürstbischofs und letzten Sprosses aus der Sippe ›derer von Scherenberg‹ über seinen Gebeinen zierte, war im Stil der Spätgotik aus österreichischem Adneter Marmor von dem Würzburger Bildhauer Tilmann Riemenschneider geschnitten worden. Das greise Antlitz des Kirchenfürsten, der vom Jahre 1466 bis zu seinem Tod im Jahre 1495 das Amt des Fürstbischofs von Würzburg zu begleiten die Ehre gehabt hatte, war von dem Künstler so lebensnah wiedergegeben, dass vor diesem ergreifenden Bildnis ein jeder Betrachter eine tiefe Erschütterung verspüren musste. Der Kopf des offenbar zahnlosen Greises mit den eingefallenen, von tief eingegrabenen Falten durchzogenen Wangen schien vom Alter wie geschrumpft, so dass die Knochen der Jochbeine und des Kinns wie fleischlos erschienen, die Nase mager und spitz hervorstach und die Bischofsmitra für den hageren Schädel zu groß geworden war. Das Antlitz war ein Gleichnis der Vergänglichkeit und des Verfalles allen Lebendigen und des leidvollen Erlebens solchen Vergehens, das auch Träger von Fürstenkronen und Bischofsmitren nicht verschont. –

Neben dem Epitaph des ›Rudolf II. von Scherenberg‹ traf ich auf das Grabmal seines Nachfolgers im fürstbischöflichem Amt, ›Lorenz von Bibra‹, der bei Tilman Riemenschneider nicht nur den Epitaph seines Vorgängers, sondern zugleich sein eigenes Abbild als Grabschmuck in Auftrag gegeben hatte. Verglichen mit dem Porträt des ›Rudolf II. von Scherenberg‹ wirkte das steinerne Abbild des ›Lorenz von Bibra‹ vollwangig und nahezu jünglingshaft. Das Antlitz Scherenbergs hat Riemenschneider – abgesehen von jenem ›strabismus divergens‹ – ohne Mitleid mit dem alten Manne ungeschminkt und fast peinlich naturalistisch dargestellt, während er das Bildnis Bibras idealistisch überhöht, gewissermaßen als allgemeingültiges und fast anonymes Bildnis einer normierten Persönlichkeit wiedergegeben hat. Dieser Unterschied zwischen den Dargestellten hatte wohl weniger mit dem Lebensalter der beiden Kirchenfürsten zu tun, sondern unterlag offenbar der sich wandelnden Mode. Dieser folgend hatte Riemenschneider sich verpflichtet gefunden, Bibras Grabmal, im Gegensatz zum Bildnis Scherenbergs, nicht mehr im Stil der Spätgotik, sondern bereits im Stil der Renaissance auszuführen. So schnell – noch innerhalb nur einer Lebensspanne! – hatten sich der Geschmack und die Mode der eilends verrinnenden Zeit gewandelt. –

Eines aber stand für mich ganz unverkennbar fest: die Augen des Fürstbischofes ›Rudolf II. von Scherenberg‹ ähnelten auf eine geradezu lächerliche Weise tatsächlich den Augen jenes Mopses, der auf dem Ladentisch neben der Registrierkasse mit der geharnischten Germania in der Zoohandlung ›Vogel Peter‹ seinen Platz hatte. Tatsächlich schielte auch der in Marmor geschnittene Fürstbischof mit jenem ›strabismus divergens‹ nach Art jener Seligen, die, vom Weltschmerz überwältigt, die Himmel offen sehen, genauso wie der Mops, den Herr Rohrdommel senior zwar durchaus treffsicher und nachvollziehbar, jedoch offenbar ohne hinreichende Ehrfurcht nach dem Kirchenfürsten in den Schuhen des Heiligen Kilian benannt hatte. –

Wie Cercie, so trug auch der Mops Rudolf II. ein Halsband. Es war aus lindgrünem Leder gefertigt, weich gefüttert und mit aufgesteppten, stilisierten Abbildern kleiner Röhrenknöchlein aus poliertem und daher wie echtes Silber spiegelndem Metall verziert. Im Gegensatz zu der Affendame Cercie verbrachte Rudolf II. seine Zeit auf dem Ladentisch neben der prächtig verzierten Ladenkasse mit der gerüsteten Germania jedoch nicht angebunden, sondern gewissermaßen ›freisitzend‹. –

»Der Rudolf ist so brav …«, wusste Frau Rohrdommel senior diesen Tatbestand zu kommentieren, der gar manchen Kunden in Erstaunen, gar manchen Kunden auch in völlig unbegründetes Zurückschrecken versetzten mochte, » … der Mops bleibt auf seinem Platz. Der rührt sich nicht vom Fleck. Der sitzt da wie eine Statue. Den muss ich nicht anbinden, … noch nie musste ich den Hund anbinden …«

»Wemmer ned wüssd, dass dar lewig war, könnsde mein, dar wär aus Stee, dar wär nur ä Fichuur …«, fühlte sich Herr Rohrdommel gehalten den Erklärungen seiner Gattin beizupflichten, » … ä Fichuur, wie dar ›Rudolf dar Zwädde vo Schereberch‹ in sein Kiliansdom aach, könnsde aals mein … so wie dar do hockd un sich ned reeche duad, … mein ich aals …«

Dennoch gab es eine Situation, in der Rudolf II. unter Beweis zu stellen vermochte, dass es ihm durchaus beifallen konnte, zum Leben zu erwachen und seine erstaunliche Beweglichkeit unter Beweis zu stellen. Als ich bei einem meiner Besuche in der Zoohandlung Zeuge eines solchen Beweises wurde, staunte ich nicht schlecht, über welches Temperament und über welche Künste der Mops zu gebieten wusste. –

Gelegentlich konnte es nämlich geschehen, dass die Affendame Cercie es fertiggebracht hatte, unbemerkt ihr Kettchen von der Halterung am Ladentisch zu lösen. Wollte es dann der außerordentlich beklagenswerte Zufall, dass ein Kunde das Geschäft betreten und die Ladentüre nicht geflissentlich und unverzüglich hinter sich geschlossen hatte, dann sprang Cercie mit einem exotischen Satz vom Ladentisch, raste wie ein Blitz – zwischen den Beinen des fassungslosen Besuchers hindurch – durch den Türspalt auf das schmale Gässchen hinaus und hangelte sich mit der ihr eigenen, affenartigen Geschwindigkeit empor am Gemäuer oder auch am Tor der verfallenen Ruine eines ehedem prächtigen Domherrenhofes, welcher, in engster Nachbarschaft zur Zoohandlung, gegenüber auf der anderen Seite des Gässchens lag.  Ihre Kletterkünste – deren sich die Affendame Dank eines Instinktes zu bedienen wusste, der ihr zweifelsohne von ihren weiland Urwaldahnen überkommen war – demonstrierte Cercie mit Vorliebe an einem Bretterverschlag im Eingang zu diesem historisch bedeutsamen Bauwerk. Seitens der Stadtverwaltung hatte man sich entschlossen, mit einem solchen Bretterverschlag vorsorglich eine von noch brandgeschwärzten Steinen eingefasste, riesige Toröffnung zu verschließen, um das Betreten des Ruinengrundstückes durch Unbefugte zu verhindern. Diese steinerne Toreinfassung, gekrönt von einem sehenswürdig-barocken, mit einem Wappen gekrönten Torbogen, war das einzige noch einigermaßen unbeschädigte Relikt in der bis auf Mannshöhe zerstörten und niedergebrannten Wand des ehemaligen Domherrenhofes, der jener schrecklichen Bombennacht im März 1945 zum Opfer gefallen war. Zum Erstaunen aller begeisterten Zuschauer dieses Schauspiels fühlte sich das Äffchen nie versucht, zusätzliche Fluchtversuche zu unternehmen und sich weiter als bis zu diesem Torbogen von der Zoofachhandlung zu entfernen, die ihm zur Heimat geworden war. Offenbar wusste sich die Meerkatze völlig mit dem Genuss zu bescheiden, wenn sie die berückende Aufregung aus nächster Nähe beobachten konnte, die durch ihr unbotmäßiges Verhalten ausgelöst wurde. Hatte Cercie schließlich die Spitze des Torbogens erklommen, so ließ sie sich auf dieser nieder und harrte stolz und belustigt der ihr bereits bekannten Maßnahmen, die nun – und zwar ausgesprochen ihretwegen! – alsbald eingeleitet werden würden.

Die erste Maßnahme, die das zur Routine gewordene Katastrophenprogramm zur Rettung der Meerkatze einleitete, war das Ausrufen des Notstandes. Frau Rohrdommel senior schrie dann in der ihr höchstmöglichen Tonlage und mit beträchtlichem, nahezu schon an Panik grenzendem Stimmaufwand: »Der Affe ist los! Der Affe ist los! …«

Diesen Mark und Bein durchdringenden Schrei seiner Gattin, der alle weiteren Maßnahmen einleitete, beeilte sich Herr Rohrdommel senior umgehend zu wiederholen, nicht nur um gewissermaßen wie durch ein Echo den Empfang des von der Seniorchefin hysterisch und gilfend in Umlauf gebrachten Notrufes zu bestätigen, sondern auch um diesen weiterzuleiten:

»Dar Aff is los! Dar Aff is los! …«, wiederholte Herr Rohrdommel senior seiner Gemahlin Ankündigung der Katastrophe, wobei er in der Regel dieses nur äußerst knappe Ausrufen des von seiner Gattin zuerst erkannten Notstandes durch den Zusatz » … dar Rudolf dar Zwädde! …« näher beschrieb. »Dar Aff is los! Dar Aff is los! … dar Rudolf dar Zwädde …!« wiederholte also Herr Rohrdommel senior, jedoch in bereits deutlich abgeschwächter Lautstärke und in niedrigerer Tonhöhe als seine Gemahlin. Allerdings war auch ihm eine gewisse Hektik anzumerken, wenn er – aufgeschreckt durch den Signalruf seiner Gattin – eiligen Schrittes und mit fliegenden Rockschößen seines grauen Arbeitskittels aus dem hinteren Gelass des Geschäftes – vorbei am Ladentisch – in den vorderen Raum hastete, unbedingt bestrebt, möglichst rasch die Nähe der Ladentüre zu gewinnen. Dort angelangt, setzte er in der Regel seine Rede nicht nach Art eines Echos, sondern durch selbsterschaffene Wortkreationen fort: »… scho widder, dar Sauhund, dar …! Dar Aff hod scho widder davo gemachd … des Luader, des! … mer wills ned glebb, glebbsdes! … dar Zirgus allweil! … edzed gehd dar Zirgus scho widder los …«

Sodann wandte Herr Rohrdommel sich gegebenen Falls an den nicht selten verschreckt und starr noch in der Türe stehenden Kunden, der infolge seiner Trägheit oder Nachlässigkeit das Unglück ausgelöst hatte:

»Edzed gehe se doch emol ausem Wäch! … Sie sehe doch: dar Aff is los … scho widder, dar Sauhund dar! … un wenn sie da stehe bleiwe, da kümmd dar doch ned wieder bei! …«

Spätestens zu diesem Zeitpunkt des Szenarios fühlte nun auch Herr Rohrdommel junior sich genötigt, seine Anteilnahme an der Aufregung der Eltern zu bekunden. Er klappte dann eilig den einen oder auch den anderen eventuell gerade offenstehenden Lichtkastendeckel seiner Aquarien zu, wischte die nassen Hände an seinem Hemd über seinem wohlgerundeten Bäuchlein trocken, begab sich gemächlich auf die Gasse hinaus  und rief deutlich und laut in alle Himmelsrichtungen:

»Der Aff is los!« – dabei hätte allerdings niemand genau zu sagen gewusst, welcher Nutzen dieser Mitteilung zugebilligt werden konnte, die auf die Information der Öffentlichkeit abzielte. Allenfalls das eine oder das andere der offenbar schwerhörigen Männlein oder Weiblein, das zu solcher Stunde durch die Gasse zu promenieren das Glück hatte, fühlte sich versucht an den seltsam ruhig erscheinenden Rufer die Frage zu richten:

»Was is los?« – dabei pflegte man angelegentlich solcher Erkundigung sein Ohr nahe an den Mund des Juniorchefs heranzuführen, um den Empfang des Schalles durch einen mit der Hand vor dem Ohr geformten Trichter zu verbessern.  

»Nix is los, der Aff is los! …«, wiederholte Herr Rohrdommel junior ansichtig solcher Behinderung nochmals deutlicher und stimmgewaltiger seine weltbewegende Kunde, wobei er sich nicht selten bemüßigt fühlte, zur Beruhigung der verunsicherten Leutchen hinzuzufügen, »… sie könne sich ruhig widdr beruhich, beruhiche se sich doch widdr …«, um dann jedoch sicherheitshalber und – um den Bedürfnis nach Aufklärung zu obliegen – nochmals zu wiederholen: »… s´is nix los, dar Aff is los …«

In der Regel wiederholte in diesem Stadium der Katastrophe nun auch der Chor der Kunden im Geschäft voller Entsetzen die inzwischen zur allgemeinen Erkenntnis herangereifte, bestürzende Tatsache:

»Der Aff is los! … Los is er, der Aff! …«

Während also jedermann angesichts der Flucht des fürwitzigen Äffleins Entsetzen zu bekunden bemüht  war –  wie dies  keinesfalls nur eine ehrlich

gefühlte Anteilnahme, sondern auch eine allenthalben zu beobachtende Höflichkeit, vielleicht sogar aber auch eine gewisse Schadenfreude verlangen mochte – wagten sich einzig und allein die Kinder von dem Ereignis geradezu unverschämt angetan zu zeigen, die gerade in der Gasse ihre Spiele trieben oder in den Fenstern der wenigen, unzerstörten Häuser hingen. Voller Entzücken riefen auch sie einander zu, von der Aufregung der Erwachsenen mitgerissen: »Der Aff is los! Juchuh! … der Rohrdommel ihr Aff is wieder los! …«

Ausgelassen und jubelnd sprangen die Kinder dann das Gässchen entlang und sammelten sich auf dem Pflaster vor dem verbarrikadierten Tor der Ruine, schauten zu Cercie empor und schnitten dem Tierchen die ausgefallendsten Grimassen und aberwitzigsten Fratzen, über die sie zu gebieten wussten. Cercie wiederum bemühte sich mit den kunstvollsten Faxen ihr Publikum in johlende Begeisterung zu versetzen, als gedächte sie sich für die ihr bezeigten Aufmerksamkeiten aufs Großzügigste zu bedanken. So sperrte sie grinsend ihr Maul auf und hielt dieses überraschend lange geöffnet, während sie ihre kleinen, hellbraunen, kreisrunden Augen – unablässig auf die Kinder gerichtet – flink hin und her bewegte. Oder aber sie kratze sich unter den groteskesten Verrenkungen mit einem ihrer langen Kletterarme an ihrem Hinterteil, welches sie sodann – in einer wirklich unanständigen und mit einer hochentwickelten Zivilisation unter gar keinen Umständen in Übereinklang zu bringender Art und Weise – welches sie sodann mit hoch aufgerichtetem Schwanz dem begeisterten Publikum in der Gasse darbot. In diesem Zustand der emotionalen Entfesselung vermochte übrigens keiner der wohlmeinenden Passanten das Äffchen anzulocken oder gar einzufangen. Nicht einmal einem Mitglied der Familie Rohrdommel wollte dieses Kunststück gelingen. –

War die Katastrophe bis zu diesem unanständigen Gipfel der Exhibition eskaliert, dann endlich war die Hilfe von Rudolf dem Zweiten unbedingt vonnöten, Die Hilfe des Mopses Rudolf II. war übrigens die einzige Hilfe beim Einfangen der Affendame, auf welche die Rohrdommels hoffen konnten! – Aus Erfahrung durfte unbestritten vermutet werden, dass allein der Mops über die einem jeden verständigen Zeitgenossen unerklärliche Begabung zu verfügen wusste, die Meerkatzendame wieder einzufangen und an ihren angestammten Sitzplatz auf den Ladentisch in der Zoohandlung zurückzubringen. Es stand jedoch zu vermuten, dass ein solch erfreulicher Ausgang des Abenteuers wohl eher auf einem bequemen Entgegenkommen der Äffin als in einer intellektuellen Veranlagung des Mopses zu beruhen schien. – Ohne weitere Aufforderung jedenfalls erwachte Rudolf II. angesichts der vor dem Ruinengemäuer immer lauter werdenden und immer heftiger gestikulierenden Kinderschar plötzlich zum Leben. Mit einem behänden Satz sprang er vom Ladentisch auf eine meist neben diesem deponierte Kiste oder auf einen in erreichbarer Nähe abgestellten Karton, um die Höhendistanz zwischen seinem Sitzplatz und dem Boden zu verkürzen. Von einem solchen Karton oder von einer solchen Kiste, die Rudolf II. als Podest sinnvoll zu nutzen wusste, sprang der Mops sodann in einem eleganten Satz – wie ihn dergestalt zu vollführen niemand für begabt erachtet hätte – auf die Erde und sauste gestreckten Laufes durch die von Herrn Rohrdommel senior offen gehaltene Ladentüre hinaus auf die Gasse. Dort setzte er sich zu Füßen des Torbogens nieder, auf dessen steinerner, barocker Krone Cercie ihre unanständigen Kunststücke zum Besten gab, äugte mit einem Auge und mit seinem ›strabismus divergens‹ nach Art ›Rudolfs II. derer von Scherenberg‹ empor zu seiner Tischgenossin und äußerte wohl sein Missfallen über derlei Kindereien, indem er mehrere Schnarchtöne indigniert verlauten ließ, seine Stirne in noch mehr und noch tiefere Kummerfalten legte, als diese ohnehin die von ihm zu erleidende Mühsal bezeugten. Sodann wackelte er einige Male mit seinem Ringelschwänzchen und bequemte sich einige Laute zu produzieren, die zweifelsohne als Bellen gelten sollten, in Wirklichkeit aber eher wie ein kurzatmiges Husten oder wie ein verlegenes Räuspern klangen. Eines stand angesichts dieses vermeintlichen Gebrechens jedenfalls fest: richtig bellen oder vernehmlich kläffen konnte ein solcher Mops offenbar nicht! – Dennoch hinderte Rudolf II. dies keinesfalls daran, seinen Gefühlen und Wünschen durch eine dem Mops eigene Gebärdensprache überzeugend Ausdruck zu verleihen. –

Angesichts solcher Kümmernis ihres Tischgenossen fühlte Cercie wohl ihr Herz erweichen, beendete ihre Vorstellung, hangelte sich das Gemäuer hinab und bequemte sich, auf dem Kopfsteinpflaster der Gasse neben Rudolf  dem Zweiten Platz zu nehmen, nicht ohne die Unbeteiligte zu spielen. Den Mops würdigte sie dabei scheinbar keines Blickes. Dieser Abstieg wurde von Herrn Rohrdommel junior angstvoll beobachtet und wie stets mit den besorgten Worten begleitet:

»Wenn dar sich nur ned an ihrer Kädde aufhängt, zu guter Letzt eddzed noch! Es is haal ein Aff … ein Aff is es haal …«

Diese Besorgnis war durchaus gerechtfertigt, hing doch die dünne Kette immer noch an Cercies Halsband und hätte sich leicht in den Spalten der verwitterten Gesimse oder an anderem steinernen Zierrat verklemmen oder verhaken können. Gottlob war dieser Fall einer drohenden Strangulation aber noch nie eingetreten. Einerseits also stellte die Kette eine Gefährdung dar, andererseits aber war sie auch von nicht zu unterschätzendem Vorteil. Denn Rudolf II. nahm das freie Ende der Kette geschickt mit seinem Froschmaul auf und führte Cercie gemächlich und ohne jeden Zwang zurück in das Zoogeschäft, wo beide ihre angestammten Plätze zu beiden Seiten des Ladentisches und ihre jedermann vertrauten Haltungen wieder einnahmen, gerade so, als sei nichts geschehen. Natürlich unterwarf sich Cercie dieser Rückführung aus freien Stücken nach Art eines eingespielten Rituals. Sie ließ großzügig den Mops wie auch die Zuschauer in dem Glauben, Rudolf II. hätte sie gebändigt und heimgeführt, was Rudolf II. ohne die Willfährigkeit der Äffin aus eigener Kraft selbstredend nie hätte zu Wege bringen können. –

Saß Rudolf II. wieder wie ehedem auf seinem untergeschlagenen Hinterbein mit kerzengerade aufgerichtetem Oberkörper, mit seinen Sorgenfalten auf der Stirne und mit seinem ›strabismus divergens‹ neben der bronzenen Ladenkasse mit der geharnischten Germania, dann fühlte sich die wieder befriedete Seniorchefin zu der Belobigung verführt:

»Fein, Rudolf! Brav, Rudolf! … Ja, ein braver Hund ist mein Rudolf … und so schlau ist mein Rudolf …« – diese durchaus berechtigte Belobigung wurde wie stets durch die Verabreichung mehrerer vitaminreicher und mineralienhaltiger ›Hundedrops‹ bekräftigt, versteht sich – »… von allen Hunderassen ist der Mops die intelligenteste und die liebenswerteste! … Ich sag´s ja schon immer …«, gab Frau Rohrdommel senior ihrer zweifelsohne reichhaltigen Erfahrung und ihrer erprobten Überzeugung Ausdruck, während sich Rudolf dieser ihm außerordentlich willkommener und gesunder Stärkung der ›Leckerlie‹ erfreute, »… kein anderes Tier ist so anhänglich, so treu, so an den Menschen gewöhnt wie ein Mops! Kein anderer Hund kann so mit uns reden! Kein anderer Hund ist für sein Wohlbefinden so von unserer Zuneigung abhängig! … ein Mops will ganz einfach geliebt werden, der braucht das ganz einfach … ein Mops ist ganz einfach einzigartig … ich sag´s ja schon immer, schon immer sag ich das …«

»Des muss ich aach sooch! Doch, des deffme sooch! …«, fühlte sich gelegentlich auch Herr Rohrdommel senior gehalten seiner Gattin beizupflichten, »… mei Fraa sächd aals, dass sie kän annern Hund mehr will! … kä annere Rass, vo die annere Hünd, will ich sooch … aals nur widdr so ein Mobbo, wann dar Rudolf emol nimmer is …«

»Einmal Mops, immer Mops! … So kann man sagen, ja, das kann man wirklich sagen. Ich hab’s ja schon oft bei unserer Kundschaft erlebt …«, bekräftigte Frau Rohrdommel nochmals ihre Ausführungen, nicht ohne Rudolfs Rücken entlang des Aalstreifens zärtlich zu streicheln und ihm noch zwei oder vielleicht auch drei Hundedropse zuzustecken. –

›Einmal Mops, immer Mops!‹ – hatte ich dieses Bekenntnis nicht schon einmal gehört? – Ja, ich erinnerte, dieses Bekenntnis schon einmal gehört zu haben! Damals am Strand von Cleethorpes in England, aus dem Munde von Ms. Hunter-Rutherford, die ihrem ›viktorianischen‹ Mops Bruno ebenso inniglich zugetan war wie Frau Rohrdommel senior ihrem ›altdeutschen, steingrauen, frei atmenden‹ Mops Rudolf dem Zweiten. –

Das Erlebnis mit Rudolf dem Zweiten und Cercie führte mich in Versuchung, mir einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen und der Anschaffung eines Hundes näherzutreten. Dieses Vorhaben ließ sich jedoch nicht ohne Schwierigkeiten realisieren, das war mir klar. Immerhin war die Haltung von Haustieren im Appartementhaus für Assistenzärzte absolut untersagt, in dem ich zu jener Zeit am Friedrich-Ebert-Ring meine Bleibe genommen hatte, das aber – bezüglich einer Hundehaltung im Allgemeinen und in meinem Falle im Besonderen – unbedingt bequem gegenüber dem ›Klein-Nizza-Park‹ gelegen war. Bot dieser Park doch alle bequem zu erreichenden Möglichkeiten des ›Gassi-Gehens‹, vielleicht sogar eines verschwiegenen ›Gassi-Gehens‹ mit einem Hündchen, dessen Erwerb ich entgegen dem Verbot der Tierhaltung ins Auge gefasst hatte. Allerdings war dem Verbot der Haustierhaltung, und zwar aus hygienischen und somit durchaus nachvollziehbaren Gründen, von jedem einsichtigen Bewohner durchaus zuzustimmen. Dennoch war ich unbedingt entschlossen, die Schwierigkeiten, die der Erfüllung meines Wunsches entgegenstanden, zu überwinden, koste es was es wolle. –

»Was, wenn ich mir einen ›kleinen‹ Hund zulegen würde? … einen ›kleinen‹, einen ›sehr kleinen‹? …«, hielt ich mir vor Augen und begann eine Diskussion mit mir selbst, » … vielleicht nicht nur einen ›sehr kleinen‹, vielleicht auch einen ›sehr ruhigen‹? … einen, der nicht bellt, und der kaum einer ausgiebigen Bewegung bedarf! … den man bei der Überwindung des Treppenhauses zum Gassi-Gehen in eine mit einem Reißverschluss schalldicht verschließbare Einkaufstasche setzen könnte? … um ihn dann entfernt vom Hause, außerhalb neugieriger Einsichtnahme … seitab im Park, vielleicht hinter dem Buschwerk der unvergleichlich dichten Eiben … aus seinem Behältnis vorübergehend zu entlassen? …«

Angesichts der Berücksichtigung solch rassischer Vorbedingungen und unter sorgsamster Beobachtung der zu treffenden Vorkehrungen würde weder die Hausverwaltung noch irgendein Mitbewohner bemerken, dass ich zum Hundehalter avanciert war; dessen meinte ich sicher sein zu dürfen. Also wagte ich dem Unternehmen näher zu treten – elegant und trickreich geplant – wie es mir nun einmal äußerst gelungen überlegt erscheinen wollte. –

Während mich meine Schritte in die Zoofachhandlung ›Vogel Peter‹ ansonsten zum Genuss der prachtvollen Schauaquarien geführt hatten, verfolgte ich meinen Weg dorthin diesmal nun allerdings mit dem festen Vorsatz, einen kleinen Hund zu erwerben, der weder sportlich ambitioniert sein durfte noch begabt sein sollte, sich lautstark vernehmlich zu machen. In Erinnerung an das statuenhafte Sitzverhalten Rudolfs des Zweiten auf dem Ladentisch neben der Registrierkasse, in Erinnerung an die solchen Möpsen eignende Abneigung, sich durch lautes Bellen vernehmlich machen zu wollen – selbst unter solch verführerischen, chaotischen Zuständen, wie sie anlässlich des Kinderreigens zur Feier von Cercies Flucht beobachtet werden konnten! – insbesondere aber in Erinnerung an die von dem Ehepaar Rohrdommel abgegebenen Erklärungen bezüglich der liebenswerten Eigenschaften und des unvergleichlichen Charakters von Rudolf  dem Zweiten, ebenso aber eingedenk der Empfehlung jener unvergessenen Ms. Hunter-Rutherford am Nordseestrand von Lincolnshire – eingedenk all dieser Erlebnisse und all dieser aufschlussreichen Bekenntnisse hatte ich die Entscheidung getroffen, dass es unbedingt ein Mops sein sollte, den ich an mein Herz zu drücken begehrte. Hatte nicht auch Ms. Hunter-Rutherford mir ans Herz gelegt, mich unbedingt für einen Mops zu entscheiden, sollte ich mir einmal einen Hund anschaffen?! –

Umso enttäuschter fand ich mich, als Frau Rohrdommel sich zu ihrem tiefsten Bedauern veranlasst sah, meinen Wunsch abschlägig zu bescheiden:

»Ach das freut mich, Herr Doktor, dass sie Möpse mögen, und dass sie einen Mops wollen. Aber … aber leider: wir haben keinen Mops zu verkaufen, und wir wissen auch nicht, wo wir im Moment einen herbekommen könnten. Zurzeit gibt es auch keine Welpen, und wenn es welche gibt, dann sind die immer alle vorbestellt, schon lange vorbestellt! … Nämlich, sie müssen wissen, Herr Doktor: Möpse sind heutzutage außerordentlich selten und nicht ganz billig … ja, leider! … Möpse werden kaum noch gezüchtet! …«, beklagte Frau Rohrdommel senior diesen mehr als traurigen Tatbestand, nicht ohne sich mit den tröstenden Worten bei mir zu entschuldigen: »… ja, ach das freut mich, ein Mops, Herr Doktor! … so, also, einen Mops wollen sie, einen Mops! … aber: leider kann ich nicht dienen … leider, vielleicht ein andermal, Herr Doktor ...«

»Nämme se doch dan do, dan Beginees do …«, mischte sich nach dieser betrüblichen Eröffnung seiner Gattin Herr Rohrdommel senior ein, der offenbar hinter seinen Volieren unserer Konversation teilhaftig geworden war. »Mir han en glenne Beginees … komme se edzed emol mid, ich zeich dan ihne. Babiere had dar aach, se könne mers glebb. Heud is Sammedich, nämme se dan Beginees mid, über´s Wocheend. Un wenn dar ihne ned gefalle solld, oder wenns ned grad guad duad, dann bringe se mern haal widder, die nächsde Woch! … Die san wie die Mobbos aach, die Beginees, … se könne mers glebb! … aach so ruich un aach so lieb, se könne mers glebb! … wahrlich!«

Mit diesen Worten führte mich Herr Rohrdommel senior in das hintere, normalerweise den Vögeln übereignete Gelass. Und da – tatsächlich! – in einem der kleineren, unteren Hasenställe, da stand der Pekingesenwelpe aufgerichtet am Gitter des Türchens und streckte uns sein rundes, noch haarloses Babybäuchlein entgegen.

»… sehe se, Herr Dokder, do! …«, deutete der Zoofachhändler auf den kleinen Pekingesen; ein rotbraunes Wollknäul mit langen Hängeohren, mit kurzen, gekrümmten Beinchen, mit einem durchaus mopsähnlichen Gesicht und mit großen, dunkelbraunen Kugelaugen, »… die san ja ähnlich, wie die Mobbos aach, sehe se, edzed, ganz ähnlich … nur längere Hoar han se! … Des is a Rüdle, des wird no schönner! Wann dar sei Mähn un sei lange Behang an die Beelich un an sei Ohre endwiggeld, un aach an Schwaanz … dar Schwaanz, dar künnt a noch! … Frei admen müsse se haal gekönn, des is ganz wichdich, wie bei die Mobbos ewe aach … edzed … Im Momend had dar sich hinne eweng verschisse, in dan enge Gevierd, mid die lange Hoar. Des schneid mer wech … och, die Hoar wachse aals noach, die wachse aals noach …«

 »Bellen die Pekingesen? …«, fragte ich sicherheitshalber nochmals vorsichtig nach, »… und wollen die viel laufen? …«

»Die belle ned, höchsdens, dass se emol eweng so fiep, oder so gnör oder schnurchel, ower richdig belle die ned. Un laafe brauche die ned viel, mid die kurze und grumme Beelich, doa könne se ja nedemol richdich laaf, des könne se mer glebb. Die Begineese san haal wie die Mobbos, ewe wie die Möbs aach …«

Der Zoofachhändler war keinesfalls nur ein erfahrener Vogelkenner. Herr Rohrdommel senior war auch ein erfahrener Menschenkenner. Er wusste, dass ein solches Wollknäuel mit den großen Kugelaugen und der kleinen Stupsnase nicht zurückgebracht werden würde. Herr Rohrdommel senior war sich aus seiner langjährigen Erfahrung ganz sicher, dass solch ein possierliches Tierchen unbedingt gekauft werden würde, auch wenn sein zukünftiges Herrchen oder Frauchen das Hündchen zunächst etwas zögerlich und eben nur einmal probeweise übers Wochenende mit nach Hause zu nehmen bereit sein mochte. –

Nun, erst einmal war es für mich aus mit einem Mops: ich war zwar auf den Hund gekommen, aber eben leider nicht auf einen Mops, sondern auf einen Pekingesen. – Aus den vom Züchter ausgestellten und vom Verein für Rassehunde bestätigten Papieren ging hervor, dass der Pekingesenwelpe über einen komfortablen, adeligen Stammbaum verfügte, zwölf Wochen zählte, ein Rüde war und ›Laotse vom Perlenhof‹ hieß. Da ich ihn am 6. Dezember gekauft hatte – zufällig ausgerechnet also am Nikolaustag – rief ich ihn jedoch nicht bei seinem adeligen, exotischen Namen, sondern gab ihm den Rufnamen ›Nikolaus‹, der sich dann zu dem Kosenamen ›Nicki‹ abschliff. Und Nicki wurde der Pekingese ›Laotse‹ hinfort auch gerufen. – Nicki war ein wirklich schöner und liebenswerter Pekingese, der sich tatsächlich streng an die von Herrn Rohrdommel senior in Aussicht gestellten Vorgaben hielt, nämlich nicht zu bellen und keinem sportlichen Ehrgeiz zu frönen. Eigentlich war ich recht glücklich mit Nicki. Wenn ich jedoch ehrlich sein will, so muss ich zugeben, dass ich Nicki mehr geliebt hätte, wäre sein Seelchen nicht in der Gewandung eines Pekingesen, sondern in der Gewandung eines Mopses in diese Welt gekommen und über sie an meiner Seite gewandelt. Immer, wenn ich hinfort die Zoohandlung ›Vogel Peter‹ betrat und Rudolf II. von Scherenberg neben seiner Registrierkasse auf dem Ladentisch sitzen sah, spürte ich, dass ein Pekingese nicht das in meinem Herzen auszufüllen vermochte, was dereinst auszufüllen einem Mops vorbehalten bleiben sollte. So ist mir auch ein leises Schuldgefühl und ein wehmütiges Bedauern verblieben, wenn ich mich des Pekingesen Nicki erinnere – etwa so, als hätte ich ihn um die wahre Liebe betrogen, die er eigentlich verdient gehabt hätte. –

So wollen wir diese Geschichte enden und die Ereignisse auf sich beruhen lassen. – Nur eine Frage soll noch gestellt und beantwortet werden: die Frage, was wohl aus den Protagonisten dieser Erzählung geworden sein mag?

Von Fürstbischof  Rudolf II. aus dem Geschlecht derer von Scherenberg ist nichts geblieben außer seinem von Tilman Riemenschneiders Hand geschnittenen Grabmal im Dom Sankt Kilian zu Würzburg – jener Epitaph aus Adneter Marmor mit dem erschütternd naturalistisch ausgeführten Antlitz eines verfallenen Greises – und das nach dem Fürstbischof benannte Tor auf der Festung Marienberg hoch über den Rebhängen am Ufer des Mains. –

Der Mops Rudolf II. ist ganz gewiss in den Himmel eingegangen; war er doch eine liebe und reine Seele. Dort oben wird er zu Füssen seines Namensvetters auf einem untergeschlagenen Hinterbein sitzen, mit aufgerichtetem Oberkörper und mit seinen Sorgenfalten. Und mit seinen auseinanderschielenden Augen wird er – wie sein in Marmor geschnittener weiland Namensvetter auch – die Ewigkeit schauen; dessen bin ich ganz sicher. –

Was aus der ›schöngesichtigen‹ Meerkatzendame Cercie geworden ist: wer weiß es, wer kann es sagen? –

Der Kakadu mit seinem zitronengelben Federwisch auf dem Scheitel und mit seinen üblen Sprüchen hat seine Tage tatsächlich im Exil beim ›Vogel Peter‹ beschließen müssen, da sich keines Menschen Seele seiner erbarmen und ihm auf seine alten Tage erneut eine andere Heimstatt hat einrichten wollen. –

Der Peckingese Nicki wurde von einer bösen, blauen Deutschen Dogge jener Rasse, die man gelegentlich auch ›Bismarck-Dogge‹ nennt, während eines Spazierganges im Klein-Nizza-Park auf der Glacis zielsicher im Nacken gefasst und in Sekundenschnelle zu Tode gebissen. Er hat nicht gelitten. Das Letzte, was von ihm zu hören war, war das Knacken seiner zarten Halswirbelsäule. –

Das alte Würzburger Gässchen mit seinem buckeligen Kopfsteinpflaster gibt es noch. – Sollte sich aber einer meiner verehrten Leser auf den Weg durch dieses Gässchen machen, etwa um nach einem intim-romantischen Zoofachgeschäft namens ›Vogel Peter‹ zu suchen, so wird er diesen Weg umsonst gehen. Denn dort, wo er ehedem die liebenswerte Zoohandlung ›Vogel Peter‹ angetroffen hätte, – mit seinem gläsernen Leuchtkasten über der Türe, der heimatlich mit gelbgrünem Licht das Gässlein auf und ab erleuchtet hatte, mit seiner im Stil der Gründerzeit prächtig gestalteten, von einer geharnischten Germania gekrönten bronzenen Registrierkasse, mit Frau und Herrn Rohrdommel senior inmitten der Volieren und der Hasenställe, und mit Herrn Rohrdommel junior vor seinen Aquarien angetroffen hätte, – dort wird er heute ratlos und enttäuscht vor dem Eingang zu einem neu errichteten Parkhaus im kalten Schein der blauweißen Neonleuchten stehen.– Und bald, so fürchte ich, wird auch das Gässchen nicht mehr zu finden sein; jedenfalls nicht mehr so, wie es als eine der wenigen Erinnerung an das alte Würzburg überlebt hatte zu Zeiten, als ich in der Bischofsstadt am Main noch ein lustiges  Studentlein und ein junges Assistenzärztlein gewesen war.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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