Aribert E.: Im Zwang

19,98
Preis inkl. MwSt., zzgl. Versand

Der etwas andere Science-Fiction

Die Erde 2010 bis 2025 – Terrorismus – Weltraumforschung – entfernte Planeten und Figuren – Begierden und Abgründe, religiöse Außenseitervorstellungen und zwischendrin eine Liebesgeschichte mit unklarem Ausgang. Unter alles gestreut die außergewöhnlich detaillierte Wiedergabe von Denk- und Gefühlsmustern des von Zwängen geplagten Hauptprotagonisten, die auch für medizinisch Nichtinteressierte keinen Einbruch darstellt, da sie sich gnadenlos in die Abläufe des mitreißenden Geschehens einfügt.

aribert_e_athenemedia

Der Autor: Aribert E. wurde am 9. 4. 1955 in Neuburg an der Donau geboren und wuchs in Ingolstadt auf. Elf Jahre lebte der Autor in Hessen. Nach seiner Rückkehr in seine bayrische Heimat 1986 begann er zu dichten. Mit bayrischem Humor, Ironie, satirische Texten, nachdenklich machenden und aufrüttelnden Gedichten lässt er tief in die Seele seiner Mitmenschen blicken. Aribert E. gehört seit dieser Zeit dem Ingolstädter Autorenkreis an. Seine Werke: "Mein Tauwind" (2001), "aus dem schlamm" (2003), "befindlichkeiten" (2007) u.a.

 

Aribert E.: (Im Zwang), ca. 283 S., Broschur, € 16,95, ISBN 978-3-86992-062-7

 

 

Titelbild zum Download (300 dpi)

Leseprobe:

 

Vorwort

 

„Im permanenten Zwang“ ist nicht nur Erik, die zwangskranke Hauptperson, auch Lavinia, die hübsche, begabte Mathematikerin und deren etwas außergewöhnliche Familie sowie weitere Beteiligte, die spätestens nach den einführenden Kapiteln in ganz andere Zwänge „geschossen“ werden, und die sie genauso wie den Leser nicht mehr loslassen werden. Versprochen!

Das Metier: die Erde 2010 bis 2025 – Terrorismus – Weltraumforschung – entfernte Planeten und Figuren – Begierden und Abgründe, religiöse Außenseitervorstellungen und zwischendrin eine Liebesgeschichte.

Unter alles gestreut die außergewöhnlich detaillierte Wiedergabe von Denk- und Gefühlsmustern des von Zwängen geplagten Hauptprotagonisten, die auch für medizinisch Nichtinteressierte keinen Einbruch darstellen dürften, da sie sich gnadenlos in die Abläufe des Geschehens einfügt.

Die Spielplätze sind teils phantastisch, teils der Realität nachempfunden. Autobiographisches des Autors vermischt sich mit breitem Wissen über Zwangskranke – fast ein Standardwerk für Menschen, die verstehen möchten, was sich hinter der Fassade mancher Zwänge abspielen kann.

Die Phantasie, die diese Geschichte, die sich zwischen Wirklichkeit und Märchen bewegt, antreibt, ist mit der wissenschaftlichen und für jeden zum Nachdenken anregenden Beschreibung möglicher Hintergründe einer Zwangserkrankung verwoben und bildet ein Gegenstück zu der ernsthaften Persönlichkeitsbeschreibung des Erik Passler.

Und letztlich könnte der psychologisch interessierte Leser selbst die einfachen Phantasien des Weltraummärchens als viel mehr als das deuten. Machen Sie mit, aber geraten Sie nicht in Zwänge.

 

Aribert E.

 

 

 

 

 

 

 

 
 

 

 

Erläuterungen

 

Lightbraker = erstes Raumschif

 

Lightbraker Mini = zweites Raumschiff

 

Pontonen, Silberlinge = Bevölkerungsgruppe auf Ronus

 

Grumurkunis, Baraden, Fellmenschen = Bevölkerungsgruppe auf Ronus

 

Die Männer = Bevölkerungsgruppe auf Ronus

 

Abkömmlinge des Großvaters Ernald = Tochter Garlind (verh. mit Gropper) und deren Tochter Lavinia, sowie deren Halbschwester Billa mit ihren Kindern Ben und Liddi

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
 

 

 

1

 

Indian Summer nannte man dieses Wetter. Winidial lag unter märchenhaft blauem Himmel und gelegentlichen zarten Brisen.

Die Straßen leergefegt, beinahe gelangweilt aalte sich dieses kleine Stück Vorzeigeamerika an diesem Samstagnachmittag in der Sonne eines gütigen Herbstes.

Ernald lehnte den Kopf zurück und strich sich den Bartflaum seines Halses entlang, da entdeckte er sie. Drei Exemplare, kaum erkennbar, unendlich hoch im menschenleeren Himmel. „Menschenleer“, grummelte er in sich hinein, verzog seine Mundwinkel und kehrte zur Normalität zurück, als wäre sein Einwand wieder verflogen.

Mit einem Ruck nach vorne befreite sich der kleine ältere, ja alte Mann, der trotz alldem noch fidel wirkte, aus seinem Schaukelstuhl, rannte oder besser hoppelte übers Gras durch die weite Tür seines Hauses, kehrte schnell zurück und fletzte sich, mit einem Fernglas bewaffnet, wieder in den hellen Korb mit den durchgedrückten rotbraunen Kissen. Wie er das große Fernglas an die Augen drückte, zog er seinen buschigen grauen Schnauzer kurz nach oben und seine freundlichen Lippen verzerrten sich, als er die Feineinstellung betätigte.

Jetzt sah er sie in voller Größe, drei Raubvögel, die sich über dieses Wohngebiet verirrt hatten oder es extra aufsuchten. Wie breit waren ihre Schwingen – und dazwischen der Vogelleib. Seltsam, über was kreisen sie? Oder genießen sie einfach die lauen Lüfte? Er blickte, das Fernglas herabnehmend, nachdenklich auf die Schlagzeilen der durchgeblätterten Zeitung, die auf dem Gras lag und sich ab und zu aufblähte, wenn Luftschwaden durch den Garten strichen. Da quoll ihm eine Träne über die Wange. Sein kleiner Körper begann sich nach unten, der Zeitung zu, zu krümmen, die Füße hielten ihn am Boden fest, dabei weinte der alte Mann eine weitere dicke Träne, die nun auf das große „D“ der „Daily Letter“ tropfte.

„Meine Lavinia – meine Lavinia.” Bilder seiner Enkelin durchströmten ihn. Er lehnte sich wieder zurück, der Stuhl wippte nach hinten, und er blickte mit seinem ganzen alten, gütigen Gesicht in die Fülle des frühherbstlichen Blaus.

Statt der Raubvögel schwebten Raumgleiter, Raumkapseln und immer wieder Lavinias Antlitz von links nach rechts durch seine Stirn. Seine eigene Tochter Garlind erschien ihm nun in Lebensgröße in diesem Phantasiehimmel, wobei sein Brustkorb wieder ruckelte, der Erregung wegen, die ihn nicht mehr losließ.

Dann dachte er an Gott, den es womöglich doch gibt, und dem, wie so oft, scheinbar alles egal war, was sich in seinem nun schon alten Menschenherz zusammenbraute. Es hatte ja nichts mit Gottes Vorhaben zu tun, dass dieser Raumflug begann, vor 3 Jahren, vor langen 3 Jahren. Es war der Menschen Sache, von einem Gott nicht verurteilt und nicht begünstigt. So begnügte er sich, während er resümierte, dass die Zeit schneller verging, je älter er wurde. Doch wie ging es seiner Tochter, seiner Enkelin? Würde sie ihren angetrauten Freund im All verlieren oder kommen sie als festes Paar zurück? Zurück, ist das nicht das Wichtigste? Wieder versenkte sich sein Blick depressiv. Wieder begannen die Gedanken zu kreisen, mitten unter der langsam ihre Bahn ziehenden Sonne.

Ernald ging es nicht darum, ob diese Crew neues Leben außerhalb der Rowdengasse finden würde. Zu sehr haftete sein Weltbild an dem, was er als Sohn von Bibelforschern in seiner Jugend lernte. Oh, wie erwarteten diese das Ende dieser Weltordnung und wie einfach war das alles zu erklären, logisch und überzeugend, wenn man sich darauf einließ, bis Lavinia auf der Uni landete und von diesem Staat quasi für seine Zwecke verführt wurde, aus Sicht seiner Glaubensgenossen.

Gut, sie wollte nach dem Tod zweier ihrer Männer nichts mehr mit der Liebe zu tun haben. Sie sah ihren Lernstoff, sie sah sich gebraucht, ihr Talent gebraucht, und dann gab sie sich der Aufgabe hin, die „diese Welt“, so hieß es bei den Bibelforschern, die sich in Ernalds Kindheit, also seit 1935, Jehovas Zeugen nannten, ihr bot. Und Garlind, ihre Mutter und seine Tochter, sie ging zwar noch ab und zu in die Versammlungen, aber vielleicht war sie „zu gut“, um Lavinia den Wert dieses Weltbildes einzuflößen. „Der Wert vergeht, wenn er befohlen wird“, meinte sie immer wieder. Und außerdem fühlte sie sich bei den Zeugen nicht ganz so wohl. „Wer zu geschäftig Gutes tut, hat keine Zeit, gut zu sein“, damit verkürzte Garlind das Problem für sich. Den Spruch schnitt sie sich aus einer Zeitung aus, als wäre er für sie abgedruckt worden. So wird sie wohl auch im Weltraum noch sein – Ernald musste schmunzeln – wenn sie noch lebte, schob sein Gehirn logisch nach. Er wusste, dass die Zeugen im Allgemeinen gut waren, aber er wusste auch, was seine Tochter meinte. Seine Stirn runzelte sich und sein Blick blieb stecken, und schon sah er sie wieder, als Köchin, als Weltraumpflegekraft im Raumschiff. Ja, so wird es sein, sie wird aktiv sein, nicht an all das Depressive denken, was ihn, ausgelöst durch den Flug der Raubvögel über seiner Siedlung, befiel.

Und da war ja noch Gropper, sein Schwiegersohn, der Lavinia von klein auf in seine Welt, die Raumfahrttechnik, hineinließ und so schon früh eine Seite Lavinias ansprach, die Garlind gern zugedeckt gehabt hätte. Jetzt war sie dort, wo sie immer hin wollte, ein Rechengenie, inmitten von Wissenschaftlern und das nicht nur auf Erden, sondern im Raum. „Puh, vielleicht schon verglüht? Vielleicht denkt sie aber auch jetzt gerade an mich.“ – Ernald presste seine Zähne aufeinander, als ein kleiner Blondschopf zögernd auf ihn zuging. „Opa! – Opa?“ Der alte Mann hob den Kopf, drehte sich zur Seite und wischte sich das Nass der Tränen aus dem Gesicht, die vorhin über es gekullert waren. Billa, was tut das Biest hier, durchfuhr es ihn, ohne besonders zornig dabei zu sein. Die Kinder können doch nichts dafür. Sie muss aber da sein, Ben käme doch nicht allein auf ihn zu. Der Junge reichte ihm die kleine weiche Marzipanhand. „Mama da“, lallte er und etwas misstrauisch lächelte auch Liddi aus der offenen Terrasse in den Garten. Schließlich kam auch Billa nach.

Ernald wohnte im Anwesen seiner Tochter Garlind, eigentlich brachte es Gropper, ihr Mann, mit in die Ehe. Eine Haushälterin versorgte ihn seit dem Start der TS-1-Rakete, TS-1, weil der Flug „top secret“ war und niemand darüber informiert werden sollte damals, aus politischen und finanziellen Gründen.

„Hallo Ernald!“ Das blasse Gesicht mit den langen dünnen blonden Haaren stand nun direkt neben ihm. Ernald erhob sich etwas wackelig, dem „Bleib doch Sitzen“ trotzend, aus seinem Schaukelstuhl, umarmte Billa, bot ihr Platz an, und ehe er den braunen Holzstuhl, der um die Ecke am Geräteraum stand, holen konnte, meinte Billa: „Du, bemüh dich nicht, ich muss noch rein, hab noch was mit meiner Firma zu klären.“ – „Gehst du schon wieder?“ – „Nein, telefonisch.“ Ernald stand verlassen in seinem Garten, lose umgeben von zwei niedlichen Kindern, die auch nicht recht wussten, was jetzt ist.

       „Was macht euer Papi?“, entkam es Ernald, dummerweise, wie er sich eingestand, aber es interessierte ihn halt. „Papi – Papi.“ Hilflos lächelte Liddi, weil ihr Papi Russe war, zu ehrlich, zu direkt und zu sensibel für Billa. Ob das Kind davon etwas ahnte? Deshalb lebt er nun in Ostdeutschland bei Verwandten und Billa in Clocktown, der nächsten Stadt von Winidial aus. Sie arbeitete dort als Buchhalterin in einer kleinen Firma, hätte aber Schwierigkeiten bekommen. Ernald wusste noch nichts Näheres darüber und wollte jetzt auch nicht fragen.

Das, warum Ernald mit Billa nicht klarkam, war Erik. Na ja, letztlich ihre Art, die nicht zu seiner passte. Er verstand Vladimir, ihren geschiedenen Mann, so legte er es sich zurecht. Erik war einst Lavinias, also Ernalds Enkelins Freund, jemand, den Ernald sehr gern hatte. Sie lernte ihn kennen, kurz nachdem ihr zweiter Mann bei einem Autounfall ums Leben kam. Billa war ihre Halbschwester.

 

 

2

 

Santar starrte in den unendlichen Weltraum, die Crew schlief zu großen Teilen, nur die wichtigsten Plätze waren besetzt. Es war ruhig, totenstill. Alles lief nach Plan. In nun absehbarer Zeit würde man sich der Rowdengasse nähern. Dann käme es darauf an. Auf seinem Pult, eingeschweißt in eine Waffe, Lavinias Bild, darüber das Leit-Buch über diesen Flug, der einerseits als überaus geheim galt, aber schon darin, als technische Erklärung, abgebildet war. Diese stammte von der PAN, die unterdessen die Welt beherrschte. PAN ist nichts Beeindruckendes. Es ist der Zusammenschluss der Amerikaner mit einer modernen, nüchternen chinesischen Regierung, die sich in den letzten Jahren herausgebildet hatte. Lavinia, PAN, neue Ziele, Santar, Ernald, dieser Alte, Alte im versöhnlichen Sinn. Sagte er nicht, er wisse durch die Zeugen, dass sie meinten, die PAN könne der achte König werden, weil China für eine autonome UN eintrat, und weil doch in der geheimen Apokalypse stünde, nach den sieben Weltmächten, wovon Angloamerika die letzte war, würde ein 8. König erscheinen, der dann die Dinge so leiten würde, wie Gott es wollte, was zum Weltgericht führen sollte. (Anmerkung des Autors: Diese Gedanken sind wie die politischen Erklärungen natürlich teilweise in die Abläufe dieses Phantasieromans hineinphantasiert, sind aber vom Prinzip her nahe an den Deutungen und beispielhaft für die eifrigen Versuche der Bibelforscher, prophetische Dinge aus der Offenbarung, verstehen zu wollen.) Ernald berichtete einmal von dem Gedanken, was wohl mit Santar und Lavinia wäre, wenn sie inzwischen irgendwo im Milchstraßensystem wären und Gott über die Erde Gericht hält?

Santar musste in die Weiten des Alls lächeln, an welche Aussprüche man sich erinnert . . . Er war ungläubig und Brite mit mexikanischen Wurzeln. Deshalb suchte er ja auch nach vorhandenem Leben im All, um diese Gläubigen endlich überzeugen zu können, dass es Gott nicht so gab, wie es ihre Bibel ihnen vorgaukelte. Das war sein Glaube. Diese Christen, sie hatten ihren Gott und ihre Engel im All, und wir, wir suchen verzweifelt danach, und zu welchem Zweck? Na ja, immerhin können wir uns damit einen Namen machen und Geld verdienen, mehr, als würde ich mit einem Kirchenblatt oder gar dem Wachtturm die Leute auf Engel und Götter hinweisen. Das war Santar und seine Logik.

Lavinia und Gropper hingegen, die in ihren Kabinen ruhten, waren technikinteressiert, deswegen waren sie dabei. Gropper ging es um die Ausstattung der Raumfahrzeuge. Es könnte ja auch eine Landung vorkommen. Es könnten andere Wesen da sein oder die Terroristen, von denen man hörte. Es könnte doch sein, dass man Neues bauen muss, man war auf alles vorbereitet, Gropper und seine Mannschaft. Lavinia? Sie entwickelte sich immer mehr zu einer modernen Einsteinerin. Sie war das Rechengenie der Crew, sie konnte es mit fast jedem Computer aufnehmen, sagte man ihr nach.

Santars einziger Vorgesetzter, Kapt‘n Weight, war der Kopf der Mannschaft, der quasi von allem etwas intus hatte, er war Chinese, ein Allroundgenie! Auch hieß er nicht umsonst Weight, witzelte man. War er doch eines der Kinder, die direkt nach der Geburt einen Computer als Geschenk bekamen, hineingeboren in eine aufstrebende chinesische Familie aus einer Schicht, die das Sagen hatte in der frühkapitalistischen neuen Epoche. Er wuchs fast wie ein amerikanischer Junge auf, in einem Land, was selbst heute noch von Armut tropft und womöglich schon durch die Alterstruktur weiter davon betroffen sein wird, denn wo sollte der Nachwuchs herkommen, der die anderen ernährte, wenn die Geburtenregelung so weiterginge? Er jedenfalls schaffte den Aufstieg an Körperfülle und Geist. Es war wohl ein Gemisch von Erbmerkmalen und Umgebung, das für sein Fortkommen sorgte. Sein Umfeld war brisant, politisch, und man hatte beste Verbindungen zu amerikanischen Beamten. Mit seinen fünfunddreißig war er ein Genie, wie fast alle an Bord dieser geheimen Mission.

 

 

3

 

Es war unterdessen vier Uhr nachmittags, als Billa Ernald den Grund ihres Kommens erklärte. Ihm war klar, dass sie ihn als Zwischenstation benutzte, um ihre privaten Ziele zu verwirklichen. Sie erklärte Ernald alles Mögliche, nur nicht die Wahrheit, die Wahrheit, dass sie kurz davor war ihre kaufmännische Stelle zu kündigen und sich mit jemand einzulassen, den sie in der Roten-Kreuz-Niederlassung am Ortsrand von Windial kennenlernte. Irgendwie liebäugelte sie dort mit Arbeit, auch des Mannes wegen, der sie so in ihren Bann zog. Doch darüber konnte und wollte sie noch nichts sagen. Ernald ließ ihre Wünsche, seine Wohnung zu benutzen, zu, schon der Kinder wegen, die ihm doch ans Herz gewachsen waren, und letztlich war Billa ja doch seine zweite Enkelin. Trotz ihrer Andersartigkeit erinnerte sie ihn in gewissen Dingen und Gesten an Lavinia. Ihr langes ölglattes, blondes Haar, das sie pflegte wie einen Schatz, tauchte an einer Stelle in den Kaffee ein, den sie ihm jetzt reichte. Die Sonne spiegelte sich im Glas der Schiebefenster der Terrasse und Billa stürmte ins Bad, um den Kaffee aus dem „Goldhaar“ zu entfernen. „Halt – Ernald“, sie stürzte wieder heraus, um ihm eine neue Tasse einzuschenken, der Haare wegen, und war entsetzt, dass er schon ausgetrunken hatte. „Also Ernald!“, kam es ungläubig aus ihr, während sie schon wieder geschäftig an dem verunreinigten Zipfel Blondheit herumarbeitete.

Sie würde also hier übernachten. O.k., ist auch recht, besann sich Ernald, Ben auf dem Schoß, und Liddi vor seinen Füßen, die es nicht lassen konnte, seine Schnürsenkel aus den gealterten Schuhen zu fummeln, die er hier draußen trug.

 

 

4

 

Im guten alten Europa tobten Herbststürme von West nach Ost und gegen die zweigeschossige Dachwohnung peitschte unaufhörlich atlantisches Nass. Erik zog die Zudecke noch einmal fast bis über den Kopf und schlug seine Füße in die Wolldecke, die er gestern erstmals aus dem Hochschrank holte. Der Sommer schien unwiederbringlich vorbei zu sein. Nach Hamburg zur Ausbildung musste er seit zwei Monaten nicht mehr. Er war geschult, topfit und trotzdem ausgezehrt; seine Ängste schienen wieder Platz zu gewinnen. Ihm fehlte die Herausforderung oder besser gesagt, sein Platz in der Gesellschaft. Gut, er hatte, was seine potenziellen Arbeitgeber begehrten, mehrere Top-Ausbildungen, aber käme das Gelernte und Geübte nicht zum Einsatz, würde es altern und er kein Geld verdienen. Wollte er aber wirklich in Einsätze? Womöglich ins All oder in Kämpfe mit den Rebellen, den Terroristen oder was immer sich dort oder auch auf Erden herumbewegte?

An diesem Morgen versteckte er sich vor der Welt. Es war angesagt, aber dass das Wetter dermaßen krass ausfiel, wer ahnte das schon? Man war doch wochenlang nur Wärme gewohnt, so schmeichelte dieser Herbst bisher den Menschen. – Auf seinem Nachttisch lagen noch die Überbleibsel eines Gedichtes, an dem er im Spätsommer arbeitete, nach einem langen Tag an seinem See, Verse in die er seine Gefühle legte. Er schrieb in die Dunkelheit auf kleine Zettelchen, und dann hat er es daheim lesbar gemacht.

 

Es hieß „Dämmertränen“

 

„regungslos

legt sich

die späte augustnacht“, so las er sich seine eigenen Zeilen vor,

„über den schon seichten

letzten sommertag

 

romantische milde

versteckt in der einsamkeit

des weiten sees

säuselt gegen die wehmut

entgleitender fülle

 

halber mond

schminke einer schönen

die niemand sieht

die verglimmt

ohne einen hauch

 

stille

schmiegt sich

wie tränenfeuchte

um die nie

erfüllten träume

und dünn ist das sternenzelt

was einst so hoffend machte

und weit und fern

während es lau ist

auf der haut

 

ab und zu ein lupfen

fische gefühle sekunden

durchdringen

zurück

in die tiefe

 

baumwipfel sandkörner dunkelheit

unendlich schwarz erstickt

das grab der nacht

selbst dämmertränen

in bohrendes nichts.“

 

Da war’s noch warm. Melancholie kann bitter sein und manche Menschen hat sie schon in den Freitod getrieben, doch Erik wusste . . . nein, für Erik war sie angenehm, wie eine Erinnerung an gute alte Zeiten, denn er kannte die Hölle, die Hölle der Angst, Angst, die sein Leben zunehmend zerstören wollte, weil sie nie wich und Lösungen nie zuließ, sondern stecken blieb, sich querstellte, sodass er irgendetwas, was zur Lösung der Angst beitragen sollte, oft bis zur Erschöpfung wiederholen musste. Sie ging erst dann, wenn sein Körper, nicht sein Wille, sagte: „Jetzt ist’s gut.“

Logischerweise vermied Erik so immer mehr Situationen, die Angst auslösen konnten. Er war aber kein Phobiker, nein, sein Lebensdrang war mindestens genauso groß wie seine destruktiven Seiten, und so griff er immer wieder an, ging unter die Leute ins Leben, und alle Angst begann tausendmal von vorne. Dafür hatte er sich eine Schutzfunktion angewöhnt. Eine teuflische Schutzfunktion, die ihn vorerst vor Angst bewahrte, dann aber zu einem ständigen Fallstrick wurde, der ihn wie Schlingpflanzen festhielt. Er schrieb sich Angst auslösende Situationen sofort auf, um die feinen Details festzuhalten, die ihm beweisen sollten, dass ein Geschehnis nur ein „Beinahezusammenstoß“ war. Mit der Zeit füllten diese Zettel ganze Büchertaschen voll. Wenn er sich dann erinnerte, kam es vor, dass er anfangs stundenlang irgendeinen Zettel suchte. Fand er ihn nicht, bedrohte ihn eine Angst, die vielleicht schon vier Wochen oder älter war, aufs Neue. Wie viel kostbare Lebenskraft er dadurch verlor, das würde niemand ahnen, sagte er sich immer wieder und wusste sich doch nicht ohne diese Zettel zu helfen, die ihn jeweils für den Moment entlasteten.

       Jetzt muss man sich Erik nicht als einen blassen, blonden Hypochonder vorstellen, oder welches Bild man immer davon haben mag. Nein, er war der, der die Menschen polarisierte. Die einen sahen nur seinen finsteren Blick, sein kohlschwarzes Haar, die markanten Wangen und die ein Meter und sechsundachtzig Zentimeter seiner Statur. Wer nicht genau hinsah, übersah sein Grübchen im Kinn, übersah, dass er kein „Muskelassi“ war, vor dem man fälschlicherweise Angst haben könnte, auch nicht so ein fleischiger Typ, der alle umzuremplen scheint, sondern einfach ein gut durchtrainierter kräftiger Mensch, der zusätzlich noch einen monströsen inneren Kampf zu führen hatte, den er „tausendmal“ gewann, was keiner merkte, und „zehnmal“ verlor, was ihm dann vorschnell als Schwäche ausgelegt wurde.

Auch kämpfte er schon vor seiner Angstproblematik zwischen einer sehr feinfühligen Seite in sich und einer rustikalen. Er war der sensible hochdeutsche Poet und ein ländlicher Holzhacker, den man nicht wieder erkennen mochte, wenn er seinesgleichen in entsprechender Atmosphäre traf. Erik war viel, was man ihm nicht ansah. Nur die, die ihn näher kannten, die seine anziehenden Seiten suchten, verliebten sich in ihn, na ja nicht immer Männer, sondern eine bestimmte Sorte von Frauen, und derer gab es noch welche auf der Welt, zum Glück, meinte er immer. Männer hätte er auch gemocht, nicht sexuell, aber er fand nicht die, die ihn nicht erschreckten, das heißt seine einfühlsame Seite, und wenn er sie fand, wollte er sie nicht festhalten, ebenfalls nicht „erschrecken“.

Er hat es auch nie gewagt, eine längere Beziehung einzugehen, weil er sich davor fürchtete, dass man sein Leiden erkannte. Ihn in seiner entsetzlichen Not zu sehen, passte nicht zu dem Softmacho, wie eine seiner näheren kürzeren Bekannten, wie er sie nannte, ihn bewundernd nannte, wenn es nicht gerade eine war, wie diese verwöhnte Göre, wie Billa. Irgendwie geriet sie nun ins Visier seines Halbschlafes dieses düsteren Tages und in der Folge auch Lavinia.

Die beiden symbolisierten die, die ihn liebten und hassten, so wie er sowieso nur die anzog, die an sich und der Welt auf irgendeine Weise litten, die ihn verstanden und die er verstehen konnte. All die anderen waren ihm suspekt und er ihnen.

Für Billa war er ein egoistischer Rüpel, für Lavinia der verständnisvollste Mann, den sie kannte, jedenfalls damals, vor Santar, schoss es ihm quer durch den Kopf. Aber das war etwas anderes. Sie war doch so verliebt in ihn gewesen und nicht nur in sein Wesen. Das war vor vielen Jahren, hm . . . gut drei ist sie jetzt schon im Weltraum verschollen. Vor fünf, sechs Jahren, rechnete er durch, waren sie noch ein Paar. Sie war die, die er nicht wie viele andere wieder vergaß, er liebte sie noch auf eine andere Weise als all die anderen.

Erik riss die Augen auf! Ihr Bild auf dem Regal wurde von fahlem Morgenlicht getroffen. Eigentlich sah er vom Bett aus nur ihre mittelbraunen, langen gewellten Haare, damals hatte sie blonde Strähnchen drin, jetzt wird es naturbraun sein im Weltraum, oder färbte sie sie sich für Santar? Er verdrängte den Gedanken. Mein Tauwind dachte er und versuchte sich ein Gedicht in Erinnerung zu rufen, das er am Anfang seiner Beziehung mit ihr erstellte. Lange Zeit behauptete er, es sei sein Lieblingsgedicht. Er würde es gern jetzt noch einmal lesen. Er stand, wie er war, auf, kramte in seinem Büro herum und huschte ins Bett zurück. Ein paar raschelnde Blätter und er hatte die Seite gefunden:

 

mein tauwind

 

kalt und leer ist mein verließ

und eingefroren ins symbol

illusion die schmerz verhieß

 

doch mein tauwind zartes du

lässt tropfen schon was harschig war

hauchst leben auf mich zu

 

liebstes herz ist dein gesicht

und milde nur war deine haut

und hoffend stilles licht

 

denn was weich macht fließt aus dir

im traum schon als ich weinen musst’

war’s erstes zartes wir

 

Und dann verlief sich all das. Sie ging zurück nach Amerika. Ihre Bestimmung sei die Mathematik, die Raumfahrt, und er steckte mitten in seiner Ausbildung zum Hochleistungspilot im europäischen Raumfahrtzentrum, dazu seine Therapeuten-Lehrgänge, in die man ihn steckte, als man seine Begabung, zu vermitteln, entdeckte. Immer wieder wurde er als Mittler herangezogen, von Kriminalität bis zum Konkurrenzkampf in seinem eigenen Milieu, und er lernte bereits damals viel über den galaktischen Terror, von dem man wähnte, dass er käme, worin man recht behalten sollte. Ja, das Leben forderte damals eine Trennung dieser ruhigen, ja teils schon in der Seele verankerten Liebe. Und dann das Unfassbare: Nur ein Jahr danach erfuhr er, dass sie einem Santar zur Ehe versprochen wurde. Erik verstand und verstand doch gar nichts. Hier stoppte er den Traum, nein, davon wollte er jetzt nicht träumen, dann lieber schlafen. Es war halb zehn Uhr vormittags, als er erwachte.

 

 

5

 

Dieser Santar lebte tatsächlich, und da, wo er war, war es ruhig, wenngleich er wusste, dass Aufregendes bevorstand. Mit einem Funkspruch bat ihn jemand um Einlass. Es war Kapitän Weight, der behauptete, nicht schlafen zu können, angesichts der vor ihnen liegenden Zeit. Seit Langem war der Kontakt zur Erde abgebrochen. Sie standen für sich und jeder verarbeitete die Dinge anders, mal so, mal so. Sie waren ihre eigenen Götter und Geschöpfe und suchten nach Ihresgleichen. Sie wurden ja nicht einmal wahrgenommen von anderen.

 „Hast du den Namen unseres Schiffes je kapiert?“ –

„Ja, in gewisser Weise“, meinte Käpt’n Weight mit einem unsicheren Schmunzeln. „Heutzutage versteht man nicht mehr alles, man muss auf andere vertrauen“, konstatierte er.

 „Lightbraker“, was für ein Name, hauchte Santar in sich hinein, der in seinem Pilotendress jung, frech und Ehrfurcht einflößend in einem wirkte, irgendwie wie vor langer Zeit dieser Mythos Elvis in seinem weißen Anzug. Bei ihm war es nur Show, Santars Anzug hatte eigentlich berufliche Zwecke zu erfüllen. Weight gab auf Santars Sperenzchen nicht viel, aber immerhin auf den Rest des Weltraums und auf Lavinia, so hoffte Santar, machte er Eindruck.

 „Wir fahren auf einem Lichtstrahl. Wie geil!“, fügte er hinzu. „Niemand kann uns sehen und doch benutzen wir dieses Schiff, als wäre es sichtbar.“ – „Du siehst es doch“, konterte Weight, „es kann sichtbar sein, während es unsichtbar ist. Modernste Technik eben, die ich selbst nicht ganz verstehe.“ – „Stell dir vor“, erwiderte Santar, „wir hätten dieses Brake-System nicht“. – „Brake-Mechanism“, wiederholte Weight. „Ja.“ Es entstand eine Pause. Sie starrten in das Nichts des Alls. „dann würden wir dem Licht folgen, ins Unendliche steuerungslos.“ – „Ist schon der Horror, auf was diese chinesischen Forscher kamen“, fügte Santar hinzu. Er kratzte sich an seinem Kurzhaarschnitt und nahm das PAN-Buch zur Hand. Weight dachte darüber nach, wie eine frühere Crew auf Xin vor noch gar nicht so viele Jahren dieses Scheinmaterial, aus dem ihr Schiff nun bestand, gierig förderte, bis sie von Terroristen vertrieben wurden und der kleine Planet ins Nichts zusammensank. Keiner wusste, warum die Staatshaushalte ruiniert waren, man schob es dem Raumterror in die Schuhe, der überhandnahm, doch in Wirklichkeit waren es die immensen Summen, die man brauchte, um das Material dafür zu nutzen, dass sie nun weiterhin in die Tiefe des Alls fliegen sollte, die nie zuvor jemand erreichte. Spielerisch ging das alles, wenn da nicht noch die Rowdengasse wäre . . .

 

 

6

 

Billa war länger bei Ernald als geplant. Sie tat alles für ihn. Die Kinder lieferten die Wärme, die sie trotz aller Taten nicht in sich hatte. „Na ja, vielleicht sehe ich das nur so“, grummelte Ernald in sich hinein, dann klingelte es. Ein Motor und ein Ruckeln. „Post!“, rief Ernald aus der Küche durchs Haus. Ben schlich sich zur Tür hinaus und streckte sich bis hinauf in diese Röhre, stocherte an einem Stock hinein, und nach ein paar Versuchen, fiel der schmucklose Umschlag auf den Dreck unterhalb der Steintreppe. Der Bub bückte sich, dann hatte er ihn. „Hab Post“, hüpfte er fröhlich lallend in den geräumigen, gefliesten Flur zurück, und Billa mahnte, als er mit schmutzigen Schuhen zwischen und über die Teppichläufer tippelte: „Du sollst doch nicht an Opa Ernalds Postkasten gehen.“ Im selben Moment schnappte sie sich siegessicher das Angekommene. „Erik“, kam es wie Rauch aus ihrer Nase. „Was ist“, brummelte Ernald auf seinem Küchenstuhl. „Nur dieser Arsch wieder“, babbelte sie vor sich hin, als sie, wie abwesend, zurück in die Küche, in der ihr Opa gerade noch die letzten Marmeladebrötchenbissen zerkaute, spazierte. Dann warf sie den ungeöffneten Brief wortlos in einen blauen Behälter. Paperwaste stand auf dem Deckel.

Ernald schluckte, blickte unsicher, getroffen und doch nur die Hälfte verstehend, erwiderte aber nichts.

Er wusste von Eriks Beziehung zu seiner Enkelin Lavinia, er wusste auch, dass sie sich trennten, weil das Leben für beide andere Aufgaben hatte, so sagte Lavinia immer, als die Trennung näherrückte, und er wunderte sich, warum Erik sich so rarmachte, aber an Billa immer wieder Briefe schrieb, von denen sie nie erzählte. Dreimal hatte er ihr schon Briefe an sie ausgehändigt, die an seine Adresse kamen, ohne zu fragen oder sich einzumischen. Aber irgendwas passte da nicht zusammen, fing das Gehirn des Alten an zu resümieren.

Kaum war Billa aus dem Haus, fischte er sich den Brief heraus. Wieder von Erik über seine Adresse geleitet! „Diese Marke“, durchfuhr es ihn, hätt` ja mal was sagen können, und dann ritzte er ihn mit dem Marmelademesser, was er vorsorglich noch mal abschleckte, vorsichtig auf. Keine Handschrift, aus dem Computer, aber Eriks Adresse oben links, Paletzerstraße 77, eine verschmierte Postleitzahl, dann Regensburg, Germany. Etwas enttäuscht fing er an, das unpersönlich wirkende Schreiben zu lesen. „Bitte, bitte verzeih mir Billa, dass ich schon wieder schreibe. Da Briefe an deine Adresse immer zurückkommen, benutzte ich seit einiger Zeit Ernalds Adresse und hoffe, Ernald hat dir den Brief gegeben. Du hast mir meine Fragen zwar schon mal beantwortet und mir geschrieben, dass . . .“ Er überflog den medizinischen Frageinhalt, der etwas kompliziert und langatmig war, und stieß dann auf den Passus: „Und dass du nicht mehr antworten wirst, aber ich hoffe, dass du einsiehst, dass ich in großer Not bin und es mir zuliebe doch noch einmal tust.“ Ernald las zu Ende, presste die vollen Lippen unter seinem Schnauzer zusammen und schüttelte den Kopf. Wie konnte ein erwachsener, intelligenter Mann sich mit solchen Fragen demütigen und dann noch vor Billa, die ihn sowieso auf dem Kicker hat. Fragt er sie doch, ob sie von seinen Ärzten etwas über ihn erfuhr! Wie konnte er davor Angst haben, es gab doch ein Arztgeheimnis und außerdem, er selbst musste doch am besten über sich Bescheid wissen! Ernald wusste aber von Lavinia, wie oft sie selbst von ihm mit solchen Fragen konfrontiert wurde und dass er einen erbärmlichen Kampf gegen diese ihm unverständliche Angst führte. Was er nicht wusste, dass Erik jetzt sogar Psychologie studierte und von den Behörden bereits erfolgreich in Truppen wirkte und lernte bei Terror oder Gefahren durch Verrückte, Vermittler zu sein. Zunächst hatte er ein Medizinstudium begonnen, es zwar später aufgegeben und Raumfahrt studiert und dies abgeschlossen. Erik war außerdem Lavinias Freund. Er konnte weder dumm, verrückt, kalt, böse oder sonst was sein, versuchte Ernald nachzufühlen.

Abends, als Billa Liddi zu Bett brachte, meinte das Mädchen: „Mama, ich hab was gesehen.“ – „Was denn, erzähl!“, hakte Billa nach. Liddi presste die Lippen und zog die Nase hoch. „Der Opa.“ – „Was?“ – „Der hat den Abfall . . .“ Billas Blick wurde stechend: „Was hat er?“ – „Na ja, er hat den Brief rausgeholt, den du weggeschmissen hast.“ „Nnn . . . .“, Billas Blick blieb hängen. „O.k.“, fasste sie sich, „Ich frag ihn danach“. „Nein, bitte nicht“, flehte das Mädchen aus dem Sofa des Gästezimmerchens, auf das es gebettet war. „Ich sag schon nichts von dir“, fügte Billa hinzu, „kannst sicher sein“, und schloss die Tür mit einem sanften „Gute Nacht, mein Schätzchen“.

Am nächsten Morgen war es Ernald, der Billa beiseite nahm, bevor sie es wagte. Nach einem aufgesetzt wirkenden Streit über Ernalds Frechheit, ihre Post aus seinem Abfall zu holen, entspann sich jedoch dank Ernalds echtem Interesse bald ein Gespräch über Erik. Billa meinte: „Dieser Egoist, quält seit Jahren alle möglichen Leute mit seinen beknackten Fragen. Er bräuchte mal jemand“, so fauchte sie, „der ihm zeigt, wo‘s langgeht. Er sei doch nicht allein auf der Welt und andere hätten auch ihre Probleme . . .“

„Wie lange dauert denn die Beantwortung so eines Briefes?“, wagte es sich Ernald nun zu fragen. „Ach, es geht doch immer um dasselbe.“ – „Das heißt, in ein zwei Minuten wäre es geschehen?“, hakte Ernald nach. „Ja“, meinte Billa genervt und unsicher „Und was soll die Frage?“ – „Einen Moment bitte“, erwiderte Ernald. „Was ist jetzt schon wieder?“, quängelte Billa, die dem Gespräch offensichtlich ausweichen wollte. „Lavinia hat mir einen Gedichtband anvertraut, den sie damals von Erik bekam. Er ist unveröffentlicht, es ist eine Art Tagebuch von Erik. Aber ich kann’s dir auch so erklären Billa. Ich . . .“

In dem Moment dröhnte die Stimme eines Nachrichtensprechers durch alle Zimmer „Ben!“, schrie Billa laut, die wusste, dass ihr Sprössling nach Sprösslingsart wieder an Ernalds altertümlichen Geräten herumspielte. Ihr Blick verengte sich zu dieser bösen Ernsthaftigkeit, von der man nicht wusste, ist es eine Maske oder gerechter Zorn. „Aus gut unterrichteten Kreisen drang, dass es Anlass für die Befürchtung weiterer terroristischer Aktivitäten aus dem Weltraum gibt. Es wird vermutet, dass die 2009 erstmals gesichteten Raumpiraten sich mit irdischen Terrororganisationen kurzgeschlossen haben, mit dem Ziel, die Erde zu verunsichern und die von den USA und China besetzten Planeten und deren Reichtum von Rohstoffen zu übernehmen. Beweise für diese Annahme liegen allerdings nicht vor. Paris: In Paris . . .“, da verflachte der laute Ton und Ben kam trottelig herein gestolpert „Radio . . . Radio“, grinste er mit etwas Angst bespikt, den Kopf hängen lassend. „Ja, ja“, nickte Billa, den Knaben angesichts der erfahrenen Vermutungen verschonend. „Meinst du, Ernald, dass das Probleme gibt?“ – „Na ja, wir wissen ja nicht, was hinter den Nachrichten steckt.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

©2011-2020