Uhlmann: Der Schlund - im Bannkreis der Naturgewalten

14,98
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Menschen treffen auf Naturgewalten, einige fordern sie heraus 1 Million Volt in die Schläfe, Monsterwellen vor dem Bug, Kinderwagen im Wasserstrudel, Dealergebeine in der Blitzflut ... Der Natur ist das egal. In drei Erzählungen voller Spannung und Exotik entführt der Autor den Leser zunächst in die Inselwelt der Philippinen, er erlebt an Bord eines Containerfrachters die Begegnung mit einem Taifun und in der Hauptstadt Manila den Überlebenskampf der Menschen im Zentrum des Wirbelsturms. Tragisch endet eine aufblühende Liebe im alten St. Petersburg, als ein deutscher Professor während eines Experiments vom Leitblitz eines schweren Gewitters zerrissen wird. In der letzten Erzählung schließlich entwickelt sich eine Routine-Expedition in das berüchtigte Dschungelgebiet des„Goldenen Dreiecks im Norden Thailands zum internationalen Kriminalfall. Von einem Kommando Rauschgiftdealer mit dem Tod bedroht, lockt der Leiter der Expedition den Trupp in einen tödlichen Hinterhalt der Natur. Unser Autor, selbst ständig auf Reisen, besticht durch seine Detailkenntnis und bisweilen hintergründigen Humor.

 

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Klaus-Dieter Uhlmann, von Haus aus Meteorologe, arbeitete am Forschungsinstitut für Hydrometeorologie Berlin, studierte später Journalistik, war stellvertretender Chefredakteur des überregionalen Senders Berliner Rundfunk, ist ausgewiesener Experte in Sachen exotische Länder und Klima mit diversen beruflichen Aufenthalten in aller Welt. Der Autor von zahlreichen literarischen Features im Hörfunk und Sendereihen im Deutschlandradio über den Einfluss atmosphärischer Erscheinungen auf den Menschen, von Print Veröffentlichungen wie „Krankheitsrisiken des Tropenwetters“ (Magazin „Lenz“) u.v.a. bereiste und bereist eine Vielzahl tropischer Länder, publizierte Reportagen und Reisebeschreibungen für die „Berliner Zeitung“. Einige der Ergebnisse und Erlebnisse dieser Reisen finden auch Eingang in Arbeiten für die damaligen Sender Freies Berlin und Rias, später für das Deutschlandradio Kultur sowie für namhafte Magazine und Zeitungen.

 

Klaus-Dieter Uhlmann: Der Schlund - Im Bannkreis der Naturgewalten, 224 Seiten, Broschur, € 14,98, ISBN 978-3-86992-092-4

Titelbild zum Download (300 dpi)

Leseprobe:

Taifun-Späne

Dokumentarerzählung

 

 

Die Natur versteht gar keinen Spaß,

sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge,

sie hat immer recht,

und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.

 

J.W.Goethe

 

 

 Die Keimzelle

 

Südsee, westliche Karolinen-Inseln, Republik Palau,

Insel Babeldoab, 30. Oktober, 16 Uhr Ortszeit

 

An diesem Nachmittag saß der alte Manu auf seinem Lieblingsplatz, einem Brocken Kalkstein, der aus dem Hang über dem Meeresufer ragte, und betrachtete besorgt das unaufgeräumte Himmelsbild. Von hier aus, der Nordwestecke seiner kleinen Heimatinsel, hatte er einen freien Blick auf den Westteil der Südsee, den die Einheimischen das „Philippinenmeer“ nannten, obwohl das namengebende Inselreich fast 1000 Kilometer abseits der Karolinen lag. An klaren Tagen konnte er die irgendwo über den Wassern aufschießenden Köpfe von Gewitterwolken beobachten, die seltsam durchsichtig über den Pazifik trieben und ihre Regenschleier hinter sich her zogen; einige der Türme, die besonders hoch in die Atmosphäre reichten, waren noch in Entfernungen von 200 Kilometern auszumachen.

Heute hatte sich die See erst vor wenigen Stunden mit einem netzartigen Dunst überzogen; hier und da waberte ein zerfasertes Wolkenknäuel aus dem Nebel, schoss in Minutenschnelle in die Höhe, fiel in sich zusammen, wurde wieder eins mit dem Dunst, eine undeutliche Verdickung über der Meeresoberfläche. Mehr als 1 oder 2 Kilometer weit, fand Manu, würde der Kapitän eines Schiffes da unten die See kaum überblicken können.

Manu kannte dieses Gebräu aus Dampf und Hitze, aus dem sich unversehens Regengüsse und Sturmböen losrissen und Schiffe jeglicher Art in Gefahr brachten, aus eigenem Erleben. Er hatte sie nicht gezählt, die Fahrten, die er selbst als Matrose, später als Kapitän eines eigenen, altersschwachen Frachters, der in Manila registriert war, zwischen den Karolinen und den philippinischen Inseln unternommen hatte. Eine Woche hin, eine zurück – viel Zeit, um in den Jahrzehnten etlichen dieser atmosphärischen Wutausbrüche zu begegnen. Und ihnen mit viel Geschick und Wissen um die Tücken des Wetters auf dieser Route zu entkommen. Ein halbes Dutzend Mal war sein Schiff überdies von den Keimzellen künftiger Taifune verfolgt worden, riesigen Wolkenansammlungen, aus denen Sturzregen niedergingen und die Winde wie Hähne in Käfigen umhersprangen, unberechenbar und scharf in ihren Schlägen. Viele dieser Keimzellen, sofern sie westwärts trieben, verwandelten sich 500 Kilometer weiter, vor Luzon, Leyte, Cebu oder einer der anderen Inseln der Philippinen, in leibhaftige Taifune, mutierten zu Sturmsystemen von schwer vorstellbarem Vernichtungspotenzial. Vor zehn Jahren etwa, erinnerte sich Manu, hatte er sich dem Sog eines solchen Ungeheuers nur durch einen Umweg von mehr als 600 Kilometern entziehen können, was ihn nahe an den Rand des geschäftlichen Ruins gebracht hatte.

Damals vertraute er seinem ältesten Sohn das Kommando an und beschränkte sich darauf, die Fahrten zu organisieren und die Wetterrisiken auf den Schiffsrouten abzuschätzen.

Für morgen früh war die nächste Fahrt angesetzt; philippinische Gastarbeiter traten ihren Heimaturlaub an. Und dieser Termin beunruhigte Manu.

Es waren zunächst nur Kleinigkeiten im Verhalten des Wetters, die auf das Ende der gegenwärtigen ruhigen Phase hindeuteten. Seinem Sohn, befürchtete Manu, würden sie wohl entgangen sein. Der „Schauer vom Dienst“, wie Manu den kurzen Regenfall gegen zehn Uhr vormittags wegen seiner Pünktlichkeit getauft hatte, war noch wie an jedem anderen Tag der Woche vorübergezogen, nur hatte er heute fast eine halbe Stunde länger als gewohnt gedauert. Eigentlich war er auch gar nicht „vorübergezogen“, sondern hatte sich an Ort und Stelle, über seinem Kopf, aufgelöst.

Manu stützte die Hände auf den Korallenkalk, drückte sich hoch und kletterte den Hang zu seinem Haus empor. Unter ihm blieb der Nebel über dem Meer zurück. Er nahm das Fernglas und musterte den Horizont. Jetzt erst sah er, was den Regenwolken über Babeldoab den Schwung genommen, die Energie entzogen hatte: Tief im Westen und Nordwesten schien eine Geschwulst aus dem Wasser zu wachsen, eine Zusammenballung vieltürmiger Einzelgewitter zu einem geschlossenen Wolkenpaket, das bereits ein Drittel des Horizonts einnahm und zu dem inzwischen auch der weißliche Eiswolkenschirm über ihm gehörte. Ein künftiger Taifun keimte in der heißen und feuchten Luft auf.

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Manu sah sich um und wählte einen der neben dem Haus ragenden Palmenwedel als Festpunkt aus, um die Zugrichtung des fernen, sich aufplusternden Wirbels in Erfahrung zu bringen. Als er nach vielen Verrenkungen und wechselseitigem Zukneifen der Augen in die Hocke ging und die Fiederspitze endlich auf eine der markanten Wolkenfahnen wies, war er sich sicher, auch dieser Keim eines Sturms trieb – noch zögernd und mit vielen überflüssigen Kreisen und Ausbrüchen in alle Himmelsrichtungen – auf das Inselreich der Philippinen zu, würde also auch jede Schiffsroute aus Richtung der Karolinen kreuzen. „Keine gute Zeit für eine Reise“, fand Manu. Sein Sohn würde die Fahrt verschieben müssen. Vielleicht.

Bliebe noch der stille Rat des Barometers. Er trat ins Haus zurück und klopfte an das Glas, das neben dem Telefon hing. Der Zeiger, wie überall in den Tropen sparsam in der Bewegung, ruckte diesmal deutlich in Richtung „Schönwetter“; eine trügerische Versprechung, die Manu nicht überraschte, die er fast erwartet hatte; viele Wirbel schoben sie an ihrem Rande vor sich her, bevor der Luftdruck wie ein Stein zu fallen begann und ihre Zentren Zerstörung und Tod verbreiteten.

Er griff nach dem Telefonhörer. Das Gespräch dauerte nur wenige Minuten. Zufrieden legte er auf. Der Sohn vertraute seinem Rat.

 

 *

 

 Zwei Tage nach der Geburt der Unwetterzelle in der feuchtheißen Luft über den Gewässern vor Palau sollte das Wetteramt in Macao den Tropischen Sturm auf den Namen „Bebinca“ taufen; ein – wie die weitere Entwicklung des Wetterungeheuers zeigen sollte – durchaus unglücklich gewählter Name. Handelte es sich doch bei der Wortschöpfung „Bebinca“ um einen süßen Milchpudding, den die portugiesischen Restaurants der Stadt raffiniert zubereiteten und der zu den Lieblingsspeisen der Macaoer gehörte ...

 

 *

 

Containerfracht

Insel Leyte, Philippinen,

Internationaler Hafen von Tacloban, 30. Oktober, 17 Uhr Ortszeit

 

Der Golf von Leyte, ein lang gestrecktes Meeresbecken von mehr als 5000 Quadratkilometern Ausdehnung, glänzte im Licht der späten Nachmittagssonne; schwache Winde, die von den fernen Bergen im Osten die Bucht erreichten, kräuselten nur die Wasseroberfläche, die in ein Mosaik von schwarzen, silber- und goldfarbenen kleinen Wellen zerfiel.

Im Hafen überwachte Kapitän Tuoko die Beladung seines Containerschiffs, des „Kleinen Drachens“, und trieb die Schauerleute zur Eile an. Das Wetter gab zwar keinen Anlass zur Beunruhigung, und er war dafür den Göttern dankbar, doch die vor ihm liegende Route war noch lang, zumal er sich entschlossen hatte, von Tacloban aus noch einen Abstecher ins Innere der philippinischen Inselwelt zu unternehmen. Ein günstiges Angebot, ein paar zusätzliche Container auf Cebu abzusetzen, ehe es wiederum von Tacloban aus mit der eigentlichen Beladung in Richtung Osaka, seinen japanischen Heimathafen ging. Die Herren der Reederei würden die Aufmerksamkeit ihres Kapitäns sicherlich honorieren; vorausgesetzt, er blieb im vereinbarten Zeitlimit. Doch in dieser Hinsicht hatte er keine Bedenken; die Meere zwischen Japan und den Philippinen waren zu dieser Jahreszeit derart anfällig für tropische Wetterstörungen, dass Verspätungen durch Wind und hohen Wellengang von vornherein akzeptiert wurden. Es durfte ihm jetzt allerdings nicht auch noch ein ausgewachsener Taifun in die Quere kommen, der ihn in der Zeit zurückwerfen und seine Pläne für einen Extraverdienst zunichte machen könnte.

Zunächst musste aber der Umschlag zügig verlaufen, was in diesen Breiten nicht unbedingt zu den Selbstverständlichkeiten gehörte; hohe Temperaturen und eine besonders lästige Luftfeuchte förderten nicht gerade die Lust an körperlicher Arbeit, und er hatte, vorausschauend, dem Vorarbeiter ein paar Dollar für seine Leute zukommen lassen; aus eigener Tasche, versteht sich.

Die Container standen inzwischen alle auf ihren vorgesehenen Plätzen; Tuoko schlenderte zum kleinen Frachtraum am Bug des „Kleinen Drachens“; auch hier würde die Beladung bald abgeschlossen sein. Einige Gabelstapler rumpelten noch über das grobe Pflaster zwischen dem Kühlhaus des Hafens und dem Schiff, Schauerleute stapelten Kisten mit halb reifen Südfrüchten ein, darüber einige Lagen gekühlter Plastiksäcke mit Orchideen. Der Kapitän konnte sich dem unvermeidlichen Papierkrieg widmen.

 

*

 

 

Aus dem persönlichen Logbuch des Kapitäns Tuoko:

 

Tacloban, 30. Oktober, 17.30 Uhr Ortszeit

 

 

Beladung abgeschlossen. Gegen 18 Uhr Frachtbriefe unterzeichnen. Entbehrlichem Teil der Besatzung bis 19 Uhr frei gegeben.

Hafen seit letztem Umschlag stark erweitert, Rinne vertieft. Ausblick auf lang gezogene S-förmige Meeresbrücke zwischen Layte und Insel Samar genossen; nach wie vor beeindruckend. Die alte Christus-Statue hängt immer noch über der Stadt. Relikt. Siegestrophäe über Japan. Bedauerlich!

Wetter: klarsichtig. Wind leicht böig, Stärke 3 aus Nordost. Barometerstand normal, tägliche Druckwellen zehntelgenau eingehalten. Lockere Staubewölkung am Bergkamm im Osten. Alles o.k.

 

 

Aus dem persönlichen Logbuch des Kapitäns Tuoko:

Insel Cebu, Hafen Cebu-City, 31. Oktober, 7 Uhr Ortszeit

 

Nach 9 Stunden Nachttörn gegen 5 Uhr früh im Hafen angelegt. Nördliche Umfahrung der Insel Bohol mit Untiefen und winzigen Eilanden könnte bei Sturm gefährlich sein; zum Glück gab es weiterhin nur schwache Winde. Vorsichtshalber bis zum frühen Morgen Brücke nicht verlassen. Sehr müde.

Cebu-City erstaunlich verändert. Skyline bis an den Hafenrand. Faszinierend. Auch Fort San Pedro scheint restauriert; soll bis Kriegsende Hauptquartier der Amerikaner gewesen sein. Kostspielig.

Postkarte an Shu abgeschickt; wird sich wundern: gab im Hafen nur „Maggelans Cross“, die erste Bretterkirche bei der Christianisierung. Ist jetzt hübsch getüncht.

Letzte zwei Stunden Früchte und Klimaanlagen ausgeladen. Coprasäcke, Rattanmöbel und ein kleiner Schmuck-Container reisen zurück nach Tacloban.

Sind alle Schriftstücke unterzeichnet, kann ich gegen 8 Uhr ablegen lassen.

Nach Ausfahrt endlich schlafen.

 

 

(Nachtrag, ebenda, 8 Uhr Ortszeit)

 

Ausfahrt pünktlich und reibungslos. Bohol Strait stark frequentiert; Fähren, Urlauberschiffe, Frachter.

Wetter üblich unauffällig; einige Schauerwolken an Land sichtbar. See vor uns fast wolkenfrei. Wind böiger als in der Nacht. Luftdruckanzeige am Barometer normal, allerdings scheint sich die erste Druckschwankung zu verspäten. Sollte ich mir Sorgen machen? Wahrscheinlich noch zu früh.

Anweisung an Ersten Offizier, Barometer im Auge zu behalten; Prüfung alle 15 Minuten befohlen.

Werde im Sessel schlafen.

 

 *

 

Camotes Sea, östlich von Cebu

31. Oktober, 9 Uhr vormittags Ortszeit

 

Mit einem unangenehmen Ruck erwacht Kapitän Tuoko aus seinem kurzen Schlaf. Unruhe hat ihn erfasst. In der Kajüte ist es dunkel, stickig und heiß; die dichten Jalousien sind heruntergelassen.

Ein Traum oder eine Unregelmäßigkeit im Schiffsverhalten?

Die Erfahrung aus Dutzenden Fahrten in den taifunverseuchten Gewässern des nordwestlichen Pazifiks rät ihm, seine Aufmerksamkeit zuerst dem Schiffskörper selbst zuzuwenden.

Hat sich die Lage des Ruhepunkts des „Kleinen Drachens“ verändert?

Er kann nichts feststellen.

Ist Dünung aufgekommen oder hat die Richtung des Wellendrucks einen Wandel erfahren?

Noch etwas benommen erhebt er sich aus dem Stuhl, fühlt einige Schritte seitwärts die Sicherungsleinen des schmalen Betts und streckt sich auf der Decke aus, die Arme wie die Flügel eines Vogels zur Seite, als wollte er sich mit jeder Faser seines Körpers dem Schiff verbinden; prüft sein Empfinden ...

Keine ungewöhnliche Krägung; nur das übliche, kaum spürbare Ausholen auf den Wellen. Der Motor brummt zuverlässig-eintönig, er muss nicht kämpfen.

Dann erst hört Tuoko das Hüsteln vor der Kajütentür. Und ein vorsichtiges Klopfen.

„Ja?“

„Der Funkmaat, Herr Kapitän ...“

Sofort kehrt die Unruhe zurück.

Er tastet sich zum Fensterauge vor, zieht die Jalousie hoch. Das Licht der frühen Sonne flutet in den Raum; er kneift geblendet die Augen zusammen. Weit im Südosten gleitet das Mittelgebirge der Insel Bohol über den Horizont.

Der Kapitän öffnet einen Spalt weit die Tür und greift nach dem Papier, das der Maat durch die Öffnung schiebt.

„Warten Sie einen Augenblick.“

Unter der Lampe über dem Kartentisch studiert er aufmerksam die Mail, eine Mitteilung des „Joint Typhoon Warning Centre Pearl Harbor, Hawaii“ (JTWC), das über die Gewitter-Cluster des neuen Taifun-Babys informierte, die sich auf den Weg nach Westen begeben hätten.

Tuoko schließt den obersten Knopf seiner Kapitänsuniform und öffnet die Tür.

„Alle Offiziere, Herr Kapitän?“, erkundigt sich der Maat.

„Alle“, bestätigt Tuoko. „Auf der Brücke. In fünf Minuten.“

„Eine geschlossene Zirkulation also“, bemerkt der Erste und tippt auf die angedeuteten Spiralarme des Wolkensystems auf dem Satellitenbild. „Und nähert sich.“

„Wassertemperatur der Philippinen-See?“, fragt Tuoko dazwischen.

„Mindestens zwei Grad höher als gewöhnlich.“

„Viel Energie aus dem Meer; reicht sogar für einen sehr kräftigen Taifun, bald. ... Schon Prognosen von Hawaii oder vielleicht Miami?“

„Keine; werden sich wohl erst am Scheitelpunkt festlegen.“

Das zum „Scheitelpunkt“ gehörende Seegebiet liegt einige hundert Kilometer östlich der Philippinen. Hier entscheidet die zufällig vorherrschende Anordnung höheren oder niedrigeren Luftdrucks samt Richtung der Höhenwinde darüber, in welcher Richtung der frisch eingetroffene Taifun oder eines der noch „unreifen“ Schlechtwettergebiete weiter zieht. Manche Stürme vollführen erst einmal einige schwer berechenbare Schleifen an Ort und Stelle, geben sich dann plötzlich einen Ruck und stieben in Richtung Südwesten davon, andere – bei den Filipinos ungleich beliebtere – drosseln nur kurzzeitig ihre Zuggeschwindigkeit, beschreiben anschließend eine saubere Parabel und trollen sich Richtung Nordosten davon; was freilich die fernen Koreaner, Südchinesen und Japaner in helle Aufregung versetzt; irgendeinen von ihnen würde der Taifun mit Stürmen und Regenmassen bald beuteln. Schließlich gibt es noch die „Unentschlossenen“, die in der Nähe des Scheitelpunktes lustlos umherschwimmen, zeitweise einen Ausfall in Richtung Japan vortäuschen, danach wieder auf das Festland um Manila zielen, ihre Wirbelgeschwindigkeit plötzlich verdoppeln und innerhalb von Stunden zum Ungeheuer eines Super-Taifuns mutieren, der über die Mitte der Philippinen hinweg rast, alles umher wirft und unter Wasser setzt. Seine Zerstörungswut bekommen oft noch die Vietnamesen, Laoten und Nord-Thailänder zu spüren. Sogar die Inder sind dann nicht mehr sicher.

Verständlich, dass die Taifun- und Hurrikan-Warnzentren erst einmal die Winkelzüge der Wetterungeheuer abwarten, bis sich einigermaßen sicher berechnen ließ, für welche Zugbahn sich der Sturm entscheiden würde.

„Nehmen wir den ungünstigsten Fall an“, sinniert Tuoko und blickt in die unbewegten Gesichter seiner Offiziere. „Gehen wir einmal davon aus, der Wirbel „Bebinca“ zieht – ob noch als Schlechtwetter-Depression oder schon als Taifun – nach der üblichen Verzögerung am Scheitelpunkt nach Nordwesten, kreuzt damit irgendwo nördlich der Insel Samar direkt unseren vorgesehenen Fahrweg in Richtung Nord ... Wann träfe unser Schiff an dieser „Kreuzung“ ein?“

„Schwer zu berechnen“; die Finger des Zweiten gleiten bereits über die Tastatur des Computers. „Wir kennen sein künftiges Tempo nicht. Als Mittelwert“, er zuckt die Schultern, „simuliert der Rechner den 1. November zwischen 12 und 22 Uhr Ortszeit. Aber ob das realistisch ist ...“

„Ist es nicht. Und viel zu ungenau.“

„Immerhin“, wirft der Erste ein, „hätten wir einen Anhaltspunkt, zu welchem Zeitpunkt wir die ominöse „Kreuzung“ verlassen haben müssten, spätesten.“

Der Kapitän nickt. „Wir vertagen das. Vielleicht gelingt es uns, „durchzurutschen“. Vor ihm. Wenn nicht ...“ Er wendet sich dem Zweiten zu: „Prüfen Sie einen Fahrweg möglichst nahe der Küste“, er unterbricht sich, “nicht zu nahe! Und finden Sie ein paar geschützte Buchten in Fahrwegnähe, damit wir notfalls abwettern, uns verstecken könnten.“

Er blickt auf einen Zettel, den ihm der Erste zugeschoben hat.

„Richtig. Der Taifun nähert sich steuerbords; damit hätten wir Gegenwind, aus Nord. Vielleicht bereits Sturm. Wird Zeit kosten. Einplanen!“

„Wenn wir wieder in Tacloban sind ...“, der Erste hatte sich dem Maschinen-Ingenieur zugewandt, „könnten wir die Liegezeit verkürzen?“

„Nein, wir sind bereits an der Grenze des Machbaren.“ Die Augen des Ingenieurs huschen Hilfe suchend zum Kapitän. „Zwölf Stunden habe ich, noch dazu bei Nacht. Alle Zylinderkopf-Dichtungen müssen überprüft, gegebenenfalls ausgetauscht werden. Die Reederei ...“

„Halbieren Sie die Anzahl“, wirft der Zweite ein.

„Wie denn? Und wenn uns der Taifun am Schwanz packt? Wenn Bug und Heck abwechselnd hart auf das Wasser schlagen und die Schrauben zwischen zwei Stoßwellen in der Luft hängen? Wenn dann der Motor nicht fit ist – wollen Sie das verantworten?!“

„In Ordnung“, der Kapitän hebt die Hand, um den Streit abzubrechen, „Unter zwölf Stunden geht es nicht. Danke, meine Herren.“

Er dreht sich zum Fenster um, starrt hinaus, müde. Der Himmel über der See ist wolkenlos.

 *

 

 

 

Boten

 

Philippinen, nördlich der Insel Samar, 1. November, 8 Uhr Ortszeit

 

In einer kleinen Bucht des Eilands Batag, gut 250 Kilometer von Tacloban im Süden entfernt, landeten drei Boote einer örtlichen Fischer-Kooperative mit dem frischen Fang dieses November-Morgens. Die Fischer, seit 2 Uhr nachts unterwegs, waren erschöpft, aber zufrieden. Die beidseitigen Ausleger der Katamaran-Boote lagen tief im Wasser und bogen sich zum Rumpf der Kähne hin deutlich durch; viele Fische, gutes Geld.

Ein kleiner Trawler würde den Fang nach Cartaman schaffen, der nächstgelegenen Küstenstadt im Norden von Samar. Die Fischer schaufelten die zappelnde Beute in flache Kisten, wateten mit ihnen – bis zur Brust im Wasser – rund hundert Meter durch den Uferschlick und klemmten die schweren Behälter an das untere Ende eines Seilzugs, der vom rundbödigen Trawler in der Fahrrinne herabbaumelte.

„He Chef“, wunderte sich Matahino, der Jüngste der Fischer, „die Quallen sind weg.“

Er sicherte die letzte Kiste zum Hieven und sah sich ungläubig um.

Die Schwärme von Küstenquallen, die ansonsten das Umladen des Fangs zu einer unappetitlichen Angelegenheit machten, mit ihren schleimigen Körpern und den brennenden Nesselfäden die nackte Brust und die Beine quälten, waren wie ein Spuk in den Weiten des Meeres verschwunden. Klar und deutlich sichtbar schienen heute die Unterwasser-Klippen der Bucht im leichten Wellengang zu wippen, als habe es die Gallert-Glocken nie gegeben.

„War zu erwarten“, erwiderte Maha, der Führer des Trupps und wies mit dem Kopf zum Osthorizont. Knapp 20 Grad hoch über dem Meer, bis an den unteren Rand der Sonnenscheibe reichend, stand eine zimtfarbene Wand von Schleierwolken; einige Fäden schienen dem Licht hinterher eilen zu wollen und schoben ihre Krallen bereits über das Tagesgestirn; ihre Säume irisierten in den Farben des Eisbogens.

„In Manila sagen sie „Ziegelstaub“ zu dem Himmel“, ergänzte ein graubärtiger Mann mittleren Alters, der weiter herumgekommen war, als seine Arbeitskollegen.

„Schon gehört“, sagte Maha. „Es ist der Neue. Ein Taifun. Wahrscheinlich. Quallen haben Respekt vor Sturm; sind auf offener See besser aufgehoben, als zwischen den scharfen Klippen, wenn die Brandung über die Insel geht. Einen sechsten Sinn haben die Biester.“

Und nach einer Pause:

„Der ferne Gesang der Wellen hat sie wohl in die Flucht geschlagen.“

Er starrte auf das Wasser.

Jetzt musterten auch die anderen beiden Fischer die Oberfläche des Meeres. Auf den ersten Blick schien es das gewohnte Bild: ein leichter Wellengang – mit dem vorherrschenden Wind aus Nordost hereinkommend, flache Kämme, aber – der Jüngere bemerkte es zuerst – in größeren Abständen erfasste eine Riffelung die schwache, einheitliche Brandung, Querwellen, die – noch bedächtig – von irgendwo her, aus dem Südosten einliefen und die örtliche Windsee kreuzten.

„Dünung aus dem Sturm“, flüsterte Maha. „Bald wird sie mächtig das Meer beherrschen, am Nachmittag oder Abend vielleicht.“

„Oder früher“, mutmaßte der Graubart.

„Nur Gott weiß, wann“, murmelte Maha, und – nach einer weiteren Pause:

„Genug Zeit für uns.“

„Zeit wofür?“ Die Frage kam fast gleichzeitig von den beiden anderen Fischern.

„Wir holen noch die Lobster-Kästen ein.“

Hummerfang war die zweite wichtige Einnahmequelle der Fischer. Nahte ein Sturm, mieden auch die bis zu fünfzig Zentimeter langen Panzerkrebse die Küstennähe, schwammen ein, zwei Kilometer hinaus und vergruben sich im Sand des Meeresbodens. Hatten die Fischer dort rechtzeitig ihre Lobster-Fallen aufgestellt, grob geschweißte eiserne Käfige, wählten viele dieser Krebse sie als Schutzbehausung vor dem Sturm. Die Kunst bestand darin, die Fallen erst wieder an Bord zu holen, wenn sich die Tiere im Käfig auch wirklich eingefunden hatten, und dies andererseits so rechtzeitig zu managen, dass man selbst vom aufkommenden Sturm ungeschoren an Land kam.

„Hol Trockenfisch und Wasser vom Stützpunkt“, wies Mahe den Jüngsten an.

Der Bärtige nickte ihm zu. „Vor Nachmittag werden wir kaum zurück sein. Ein Risiko allemal.“

„Wenn alles gelingt“, sagte Mahe langsam, „kannst Du für eine Woche deine Familie in Manila besuchen. Wir werden Geld haben.“

Er blickte zum Wolkensaum über der See, der eine rot-goldene Färbung angenommen hatte. Weiter unten, dicht über dem Horizont, trieben einige hässliche graue Nebelwolken über dem Wasser.

„He, Matahino“, rief Mahe dem Jüngsten hinterher, „sag den Leuten, sie sollen das vollgetankte Motorboot bereithalten. Vorsichtshalber. Vier Uhr nachmittags vielleicht.“

 

 *

 

Manila

 

In Deutschlands östlicher Mitte, in Berlin, ging der Herbst mit Schneeregen und ersten nächtlichen Frösten allmählich in den Vorwinter über. Ich saß im Arbeitszimmer unseres Hauses am Stadtrand und betrachtete missmutig die vorübertreibenden nassen Schwaden, die sich im Geäst der Bäume verfingen, hinter den Stämmen Pirouetten drehten und mit jeder Windböe halb körnige Rinnsale an die Fensterscheiben malten. Im Stadtzentrum selbst war wenig von dieser Tristesse zu bemerken; Geschäfte, Busse, Bahnen sorgten für sommerliche Komforttemperaturen, Schnee blieb ohnehin selten liegen, und wenn es schon einmal zur Ausbildung einer dünnen Schneedecke kam, fanden sich die Bewohner damit ab, dass die Stadt zwei Stunden später den Verkehrs-Kollaps erlitt; nicht zu reden vom allgemeinen Katastrophen-Alarm, wenn hin und wieder ein „Jahrhundert-Orkan“ in die Straßenschluchten fuhr, ein paar Ziegel von den Dächern rutschten und Presse und Fernsehen jede einzelne Schindel porträtierten. „Alles Humbug“, würde Oskar Rappa sagen, ein guter Bekannter von der Karibikinsel Guadeloupe, der dort schon einige Gruppen europäischer Touristen vor nahenden Hurrikans in Sicherheit gebracht hatte, und nicht nur seine Heimatinsel, sondern – aus Armeetagen – auch Deutschland mit seinem Hang zu eingebildeten Wetter-Dramen wie seine eigene Rasta-Frisur kannte. „Euer Wind hat ein Gerüst umgestürzt? Unser Hurrikan kippt alle um, zerhackt sie auch noch zu Kleinholz, und wenn zufällig ein Holzspan übrig bleibt, jagt er ihn zentimetertief in die Rinde des nächstbesten Baums, der noch nicht auf das Nachbarhaus gefallen ist. Das eignet sich zur Schlagzeile!“ Dann würde er sich zufrieden zurücklehnen, mich angrinsen und ein Gebet für sich, seine Kinder und seine wieder schwangere Frau sprechen, dass Gott sie auch weiterhin vor jedwedem Wetter-Unbill beschützen möge.

 Der Gedanke an Oskar, den klugen, freundlichen Insulaner, der nie Zeit zu haben schien, und es doch immer irgendwie schaffte, seiner Familie nah zu sein, hellte meine Stimmung ein wenig auf. Ich dachte an Freunde und Bekannte an einem anderen Ende der Welt, in Manila, die jetzt seit Wochen meinen angekündigten Besuch erwarteten, auf Neuigkeiten und Grüße von Verwandten aus ihrer deutschen Heimat hofften. Freilich wussten sie ebenfalls, dass ich – wie zuvor in der Karibik – nicht ihretwegen auf Reisen ging, sondern mit einem der verderblichen Taifune, wie die Hurrikans in Asien hießen, verabredet war, Stoff sammelte, wie die Menschen in dieser Weltregion in ihrem alltäglichen Leben mit der größten Gefahrenballung, zu der das Wetter in der Lage war, umgingen, wie sie bestanden.

Nur, ich konnte den Taifun nicht herbei pfeifen; ich konnte lediglich die Arme verschränken, in das widerliche deutsche Winterwetter starren und ebenfalls warten.

Ich ging zum Computer hinüber.

 

 *

 

Berlin, 31. Oktober

 

Die Anzahl der Taifun-Geburten im Nordwest-Pazifik begann endlich zuzunehmen. Zunächst hatte ich mich in das Warn-Center von Miami, dann – als der Wettersatellit am 25. ein Knäuel Gewitterwolken nahe der Südsee-Insel Yap ausgespäht hatte – in das Center von Hawaii eingewählt. Die Experten hatten den Cluster ebenfalls ins Visier genommen; seitenweise verließen verschlüsselte Zahlenkolonnen ihre Großrechner, belegten die Verwirbelung zum Tropensturm, schließlich – am 27. – seine Verwandlung in einen Taifun, der Kurs auf die Philippinen nahm. Auch einen Namen besaß das Ungeheuer bereits: Die laotischen Meteorologen hatten es „Xangsane“, der „Elefant“, getauft.

Doch die Kapazitäten selbst von Großraum-Fliegern sind nicht unerschöpflich, und so fand sich nirgendwo eine Chance, rechtzeitig vor Ankunft dieses Taifuns in Manila die Metropole der Philippinen anzufliegen.

Erst heute früh schien eine erneute Anfrage bei den Fluggesellschaften sinnvoll: In einem der Fünfer-Codes von Hawaii tauchte überraschend eine frische Positionsangabe auf; sie deckte sich ziemlich genau mit dem heißen Meerwasser-Areal, das schon dem „Elefanten“ als Kinderstube gedient hatte, irgendwo im Westteil der Karolinen-Inseln. Noch sah das hier herumschwimmende Wölkchen – aus der Sicht des Satelliten – harmlos aus, fand ich, wären da nicht ein paar lockige Nebelsträhnen gewesen, die sich zögernd um den Mittelpunkt der Hauptwolke wanden, den Beginn eines Wirbels andeuteten. Ob dieses Gebilde tatsächlich die Kraft zu einem Tropensturm oder gar zu einem Taifun finden würde, stand noch „in den Sternen“, erst recht, ob es der Spur des „Elefanten“ zu folgen wünschte und – größtes Fragezeichen – auch noch seinen Weg über Manila nahm. Möglicherweise liefe alles auf eine Fehlinvestition hinaus und ich säße die nächste Woche unter einem Sonnenschirm an der Manila-Bay herum ...

Ich sah in den Garten hinaus; nichts hatte sich wesentlich verändert, nur, dass sich die Grasnarbe auf einigen alten Maulwurfshügeln langsam mit einer weiß-grauen Schlammschicht überzog, Schnee.

Ich rief den Flughafen an.

Angst vor der eigenen Courage?

Natürlich war wider Erwarten ein Platz in einer Maschine der British Airways frei ...

 *

 

Manila, Philippinen, 1. November

 

Nachdem die Boeing gegen 8 Uhr früh gelandet war, hatte ich noch vom Gepäckraum des Flughafens aus das Hotel angerufen, in dem ich schon einige Male übernachtet hatte. Von Nachteil war, dass es unmittelbar neben dem Rotlichtviertel lag, die Nächte gewöhnlich laut und mit grellen Lichtern in die Zimmer drangen; dafür war es preiswert, und die legendäre Manila-Bay mit ihrem fantastisch freien Blick auf eintreffende oder abgehenden Taifune befand sich nur wenige Meter entfernt jenseits des Roxas-Boulevards.

Das Hotel mit seinen festen Quadersteinen schien „Xangsane“ gut überstanden zu haben; zwar war der reguläre elektrische Strom gerade wieder ausgefallen, doch da dies in den wenigsten Fällen irgendwelche Taifune verschuldeten, hatten die Anwohner der Straße ihre stets einsatzbereiten benzingetriebenen Notstrom-Aggregate auf den Bürgersteigen angeworfen, und schwere Wolken schwarzen und gelben Rauchs wallten an den Häuserwänden entlang.

Immerhin funktionierte dadurch die Klimaanlage, und ich legte mich, notdürftig gewaschen, auf die Steppdecke und schlief sofort ein.

 Es war schon später Nachmittag, als ich mich auf den Weg zur Bay machte. Vom Roxas-Boulevard aus, der der Küstenlinie folgte, führten breite, vor knapp vier Tagen von den Regenfluten des „Elefanten“ ausgewaschene Rinnen zum Meer hinunter; und es glitzerten sogar noch einige Wasserlachen zwischen den Palmen des Hains. Die Mehrzahl der Bäume hatte dem Orkan offenbar getrotzt; zwei, drei abgedrehte Stämme, zu Haufen gewehtes Blattwerk und ein Stapel nasser Bretter, der einmal den Fischern als Schuppen gedient hatte, waren die einzigen Artefakte „Xangsanes“. Auch Teile einer niedrigen Steinmauer, die den Hain zum Strand hin begrenzte, standen noch, und Kinder an der Hand ihrer Väter kletterten in den Resten herum. Der Himmel über der Bay zeigte ein tiefes sattes Blau, in dem sich die immer noch grelle Sonnenscheibe merkwürdig fehl am Platz ausnahm.

Auf dem Rückweg bog ich wenige Kilometer von der Padre Faura Street entfernt in das Viertel der Armen des Bezirks ab, einer Ansammlung von flachen Steinhäusern, Katen und kleinen Holzhäusern, zwischen denen sich oft unbefestigte Wege in ein Niemandsland von Durchgängen, winzigen Bächen und Lehmhaufen schlängelten. Hier hatte „Xangsane“ offensichtlich weniger Widerstand gefunden, war mit voller Wucht über die nackte, schutzlose Ansiedlung hergefallen. Kaum eine Bretter-Behausung hatte das Inferno schadlos überstanden; ihre Wände waren von den Böen niedergewalzt, von Sturzbächen weggeschwemmt, ihre Bedeckungen abgehoben, das Inventar zerstreut worden. Die Bewohner der festen Bauten mussten sich zumeist nur mit dem Verlust ihrer Dächer abfinden.

Die Mehrzahl der hier lebenden Filipinos kannte allerdings diese Ausnahmesituation, die wenigstens jedes zweite Jahr ihr ohnehin kärgliches Dasein in zusätzliche Schwierigkeiten brachte. Trupps von Bewohnern suchten immer noch das Gelände ab, klaubten die am besten erhaltenen Holzbretter aus den Trümmern, schichteten sie zu Stapeln, andere schleppten Wellblechquadrate zu den größeren Wegkreuzungen, Kalk und Lehm wurden angerührt, neue Wände hoch gezogen; es wurde genagelt, geschraubt, Kinder sammelten die Habseligkeiten ihrer Familien in Papiersäcken ein, wendeten feuchte Matratzen in der Sonne, Frauen hockten vor provisorischen Feuerstellen und kochten für ihre Familie und die ihrer Nachbarn. Am Rande des Viertels luden ein paar Soldaten Hilfsgüter der Regierung und kirchlicher Organisationen von schweren Lastern.

Eine kleine Gruppe alter Männer sah ihnen wortlos zu; hin und wieder legte einer von ihnen den Kopf in den Nacken und blickte zum Horizont im Osten, aus dem langsam der Erdschatten hervor wuchs, schwarzblau mit einem rosafarbenen Saum, der die Nacht vom Dunkelblau des Tages trennte. Ob sie wussten, dass bereits einer neuer Tropensturm auf dem Weg zu ihnen war?

Fragen wollte ich nicht.

 

 *

 

900 Kilometer entfernt, südöstlich der philippinischen Hauptinsel Luzon, und noch unsichtbar für die Menschen in Manila, pflügte der neue Wirbel „Bebinca“ die Wasser der Philippinen-See. Mit jeder Stunde schob er sich 28 Kilometer näher an die Metropole heran. Seine im Kreis rasenden Böen überschritten bereits die magische Sturm-Marke von über 100 Stundenkilometern.

 

 *

 

 

 

Lobster, Philippinen, nördlich der Insel Samar,

1. November, später Nachmittag

 

Alle Fangkäfige waren besetzt; einige mit schweren, fleischigen Hummern, die anständig Geld bringen würden.

Die Arbeit unter Wasser erledigte Matahino, der jüngste der drei Fischer. Ein um das andere Mal wand er sich einen knotigen bunten Strick um die Hüften, tauchte zum Seeboden hinab und knüpfte das Seil an die Ösen der Falle. Vom Katamaran aus wuchtete Maha die eisernen Kästen an Bord, während der Graubärtige am gegenüberliegenden Bootsrand das Fahrzeug mit seinem Gewicht austarierte.

Die aus Südost einlaufende Dünung überlagerte jetzt die Windsee; ihre ölig glatten, lang gezogenen Wellen verdeckten zunehmend das ferne Ufer der kleinen Inselgruppe.

„Der Sand unten wandert bereits“, berichtete Matahino, nachdem er die vierte Falle angebunden hatte.

Maha nahm sich einen Augenblick Zeit und prüfte Wind und Wellengang. Zwei Meter, schätzte er, lagen zwischen dem Tal und dem Kamm einer jeden Welle. Nur, wenn der starke Nordost-Wind von Zeit zu Zeit in einer stürmischen Böe auffrischte, glättete er für ein, zwei Minuten die gegenläufige Dünung des heranrückenden Taifuns.

In zwei Stunden oder weniger würden wohl die beiden restlichen Käfige unter meterhohem Sand nicht mehr aufzufinden sein. Bei ruhigen Wetter beließ man gewöhnlich alle Fallen an ihrem Platz, säuberte sie und wählte höchstens einen günstigeren Standort. Aber bei diesem Wetter ... Andererseits – wie sollte er sämtliche schwere Kästen und den Fang selbst an Bord unterbringen?

Maha beschloss, die Leute an Land um Hilfe zu bitten; eine Leuchtrakete war das verabredete Signal; zwei hätten schon Gefahr bedeutet, drei ein SOS. Er schickte eine rot-gelbe Leuchtkugel auf den Weg.

„Wir holen auch die verbleibenden Käfige hoch.“

Das Boot drehte bei und richtete seine Bugspitze schräg gegen die Schaumkämme der Windsee; es kam nur noch im Schritttempo voran. Immer häufiger schlugen backbords die Brecher der aufsteilenden Dünung gegen das Heck, drückten es in die Höhe und zur Seite, sodass das zwei Meter lange Gestänge der Motorwelle schrill heulend in die Luft ragte. Von der Verkleidung des Motorblocks stiegen heiße Dämpfe in die Luft. Maha gab auf.

Der Beobachter auf dem Stützpunkt von Batag registrierte jetzt den Abschuss zweier Signalraketen; sie waren im schräg einfallenden Licht der untergehenden Sonne kaum zu erkennen. Nur die schwarzen Rauchwölkchen brachten Gewissheit. Dem auslaufenden Hilfsboot der Kooperative schloss sich ein Polizeiboot der Großinsel Samar an.

Eine Stunde später waren die Lobsterkäfige auf dem Hilfsboot verstaut. Der Katamaran der drei Fischer wurde vom Polizeiboot in den Schlepp genommen; er hatte während der Bergung der Ladung eine seiner Gleitkufen verloren. Die See ging hoch. Wie kleine Lichtfontänen tauchten die Positionslichter der Boote in der hereinbrechenden Dunkelheit über den Scheiteln der Wellen auf.

Auf halbem Weg zur Anlegestelle Batag wurde das Polizeiboot über Funk angewiesen, die kleine Flottille direkt zur Bucht von Cartaman an der Nordspitze von Samar zu geleiten. Auf dem Eiland Batag hatte die Evakuierung des Fischereistützpunktes durch Marineeinheiten begonnen.

Der lokale Radiosender von Samar warnte vor „Bebinca“.

 Am Morgen darauf, es war der 2. November, wurden zahlreiche Uferstraßen im Norden und Osten auf Samar von acht Meter hohen Wellen überschwemmt.

 

 *

 

 

Manila

Von Ausflügen...

 

Aus: Tagebuch-Notizen, 2. November

 

Mittagszeit

 

Der Morgen vor dem neuen Taifun hatte wolkig begonnen; über der Laguna de Bay verharrte seit Stunden ein lokales Gewitter; seine Donnergeräusche flossen zu einem fernen Brummen zusammen, das an die fortwährenden Starts von Flugzeugen erinnerte. Als die Sonne aufging, färbten sich seine Wolkentürme tiefrot und ähnelten mit ihren Grotten und Hängen einem kunstfertig kolorierten Hologramm. Erst gegen neun Uhr hatte die Tropensonne die Feuchte der Wolkenmasse aufgesogen und war Herrin über einen nahezu freien Himmel geworden; eine Stunde später zeigte das Thermometer im Schatten des Hoteleingangs bereits 37 Grad Celsius.

Jetzt, um die Mittagszeit, riecht es selbst im Hotelzimmer säuerlich – Ozon. Millionen Autos in der Stadt, Abgase ungefiltert – kein Wunder, dass sich selbst nahe Häuserzeilen hinter einem weiß-grauen Schleier aufzulösen scheinen. Beinahe wünschte ich, der Taifun möge sich beeilen. Aber es ist noch nichts von ihm zu bemerken; die kaum erkennbaren kleinen Wolkenballen im Süden vielleicht? Möglich. Das kleine Barometer in meiner Uhr zeigt allerdings noch keine beunruhigende Reaktion des Luftdrucks an. Wie lange noch? Reicht die Zeit für einen Ausflug in die Hügelwelt rund um Manila?

 

 

12.30 Uhr Ortszeit

 

Das Fernsehen verbreitet an der Spitze seiner Nachrichten eine Warnung des philippinischen Wetterdienstes „Pagasa“ vor dem neuen Taifun „Bebinca“. Dem schnellen Redefluss des Moderators kann ich nur Bruchstücke an Information entnehmen; erst die angebotene Verlaufskurve enthält ein paar sichere Anhaltspunkte. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist mit dem Zentrum des Sturms erst um Mitternacht zu rechnen, also in 12 Stunden.

Ich beschließe, das immer noch einladend beständige Wetter für einen Trip zum Taal, dem Hausvulkan Manilas, zu nutzen. Die Entfernung ist bescheiden, das Verkehrsnetz ausreichend und die Route mir aus früheren Besuchen geläufig.

 

 

13.00 Uhr Ortszeit

 

Auf dem Weg zur nächsten Station der Metro-Rail – einer Art S-Bahn auf hohen Betonpfeilern, die viele der größeren Stadtbezirke verbindet – sehe ich bei meinem philippinischen Freund Juan vorbei.

Unsere Bekanntschaft begann vor vielen Jahren, als ich das erste Mal Manila besuchte und der für die Hauptstadt avisierte Taifun kurz vor der Küste beidrehte und sinnfällig das Weite suchte. Juan tauchte mit seiner Calesa, einer zweirädrigen Pferdedroschke, die vornehmlich Touristen aufgriff, just in dem Augenblick auf, als ich mich vom nunmehr nichtssagenden Himmelsanblick über der Manila-Bay losriss und meinen winzigen Angelhocker zusammenfaltete.

„Lust auf eine Fahrt?“, erkundigte er sich; „der erste Kilometer ist frei, nur für dich.“

Abgesehen von der anziehenden Freundlichkeit der meisten Filipinos, sprach er vor allem ein vorzügliches Englisch, das ich – im Gegensatz zum üblichen Fast-Amerikanisch auf Luzon – einigermaßen verstand. Um ihm die Freude zu bereiten, mich finanziell hereinzulegen, stieg ich in seine Droschke.

„Mädchen?“, fragte er, „größere oder ganz kleine? Ich bring dich hin, ich kenne alle; sehr sauber, sehr adrett, kein AIDS, machen alles, was du willst ...“

„Nein“, sagte ich.

Er hatte mich ratlos angesehen. „Und warum sitzt du dann auf einem Klapphocker an der Bay?“

„Ich habe auf den Taifun gewartet.“

„Auf den Taifun? Ein Taifun ist schrecklich; er macht arm. Wenn man überlebt. Jedenfalls für Leute wie mich. Wo kommst du her?“

„Aus Deutschland.“

„Und warum wolltest du den Taifun anschauen? Hast du zu Hause Ärger oder Langeweile?“

„Überhaupt nicht“, ich fand Vergnügen an dem Dialog, „es gehört zu meinem Beruf, mich um Taifune zu kümmern, zu beobachten, wie sie sich durch Wolken, Wind und“, ich zögerte, „Luftdruck bemerkbar machen, wohin sie ziehen, weshalb sie überhaupt entstehen, woher ihre Stärke kommt ... na, und vieles mehr.“

„Und deshalb hast du das viele Geld ausgegeben, bist um die halbe Welt geflogen? Und unsere ...“, er hatte einen Moment lang überlegt, „und unsere Regierung bezahlt dich?“

„Vielleicht würde sie das tun; aber es ist nicht so. Sie zahlt keinen Cent an mich.“

„Wenn das so ist ...“, er unterbrach sich erneut.

„Es gibt viele wie mich“, sagte ich rasch, „überall auf der Welt, in Instituten, Wirbelsturm-Centern, Satellitenstationen. Je mehr wir wissen, um so eher können Leute gewarnt werden, es gibt weniger Verletzte, weniger Tote; Häuser können viel besser geschützt werden, wenn nur genügend Zeit zur Verfügung steht.“

„So?“ Er schüttelte den Kopf. „Mag ja sein.“ Nach einer Pause: „Bei euch in Deutschland gibt es keine Taifune? Und der, den du erwartet hast, ist nicht gekommen, du bist umsonst hier?“

Ich hatte die Schultern gezuckt. „So ist es.“

Ein paar Tage später hatte mir Juan seine Familie vorgestellt.

 Ich brauche heute einige Minuten, um das Haus wieder aufzufinden; zwei Jahre sind für relativ „mobile“ Siedlungen im Westen Manilas ein beträchtlicher Zeitabschnitt; nicht zuletzt der Taifune wegen, die in einer einzigen Nacht die gesamte Struktur durcheinanderwirbeln können. Aber Juans Haus ist aus Stein erbaut; das Calesa-Geschäft, wenn man nur listig genug damit umging, warf ein wenig Geld für einen bescheidenen Wohlstand ab. Für philippinische Verhältnisse.

Wie erwartet, hat Juan Pferd und Kutsche offensichtlich bei einem Bekannten untergebracht und kümmert sich im Angesicht des nahenden Taifuns um die Achilles-Ferse seines Hauses, das Dach. Die schweren, waagerecht an das Fundament geschraubten Blechplatten leisteten zwar auch gefährlichen Drehern eines Sturms Widerstand, doch wenn sich auch nur eine der Hauswände verkantete, weil der Boden unter dem Gebäude vom Starkregen in Brei verwandelt wurde, brachen sogar massive Schrauben und konnten derartige Bleche in freie, flugfähige und vor allem messerscharfe Ungeheuer verwandeln. Es gibt genügend vertrauenswürdige Belege dafür, dass Menschen von ihnen enthauptet wurden.

„Du bist´s, tatsächlich!“

Juan ist sichtlich überrascht, hat aber eigentlich keine Zeit.

„Gehst wohl wieder schwanger mit Unglück und gebärest Mühsal. Kommt dein Taifun diesmal wirklich an?“

Juan sitzt rittlings auf einem Querbalken, der einen halben Meter aus der Dachkonstruktion ragt und versucht, einen zentnerschweren alten LKW-Reifen über die Bleche zu schieben. In seinen Augen musste ich ihm, dem gläubigen Katholiken, wie der Mann aus dem Lande Uz, Hiob, vorkommen.

„Scheint so; ich bin mir fast sicher.“

Juan betrachtet sein Dach, auf dem er bereits fünf der massiven Reifen verteilt hat.

„Der Sturm letzte Woche hat mich zwei Bleche gekostet, einfach weg. Vielleicht hält´s jetzt besser.“

„Leg noch zwei oder drei auf die Westseite, zur Bay hin“, rate ich ihm. „Morgen Abend dreht der Wind. Wenn du glaubst, das Schlimmste hinter dir zu haben, springt er um, und die Böen kommen von See.“

„Woher willst du das schon wieder wissen?“

„Sein Zentrum ist dann wieder über dem warmen Wasser, und das macht ihn stärker als über Land.“

„Noch drei Reifen ... Ob der das aushält?“

Zweifelnd blickt mein Freund auf den gebrechlich scheinenden Ast eines Mangobaums neben dem Haus, in den er eine Umlenkrolle für den Seilzug eingeschraubt hat.

„Wird schon gehen!“

Um ihn bei Laune zu halten, ziehe ich eine Schlaufe durch den nächsten Reifen und zerre das Monstrum in die Höhe. Das Seil schwingt beängstigend weit aus, doch Juan hat einen alten Fleischerhaken aufgetrieben und bugsiert das Gummigeschoss sicher auf das Blech. Der Ast ächzt und schnellt wieder in seine natürliche Lage zurück. Nach dem dritten Reifen bin ich schweißgebadet.

„Wir brauchen jetzt einen basi“, bemerkt Juan und schnalzt in Vorfreude mit der Zunge.

„Bloß nicht; bleib' oben. Wir erledigen das nach dem Taifun, okay?“

Selbst ein einziger Schluck dieses hochprozentigen Zuckerrohr-Destillats hätte mich für den Rest des Tages die Beherrschung gekostet.

„Okay, okay.“

Juan schaut missmutig seinem älteren Sohn entgegen, der vier große Sperrholzplatten an der Hauswand absetzt, riesig im Vergleich zur schmächtigen Figur des Neunjährigen. Am Hals baumelt ihm ein kleiner Plastikeimer mit Schrauben und Nägeln, ebenfalls aus dem Supermarkt. Der Junge musste wenigstens eine Stunde unterwegs gewesen sein.

„Hol dir ein Wasser, Salvador, und bring den Tacker mit. Und den Dreher.“

Immerhin schien das Droschken-Geschäft genügend Piso, oder Peso, wie alle Welt hier die Währung nannte, abzuwerfen, um sich den Luxus vernagelter Fenster während eines Taifuns leisten zu können. Ich winke meinem Freund einen Abschiedsgruß zu. Er breitet die Arme aus.

„Und komm' wieder vorbei, wenn der Zauber hier zu Ende ist. Vergiss es nicht! Wir feiern.“

Bei diesen Worten hellt sich Juans Miene wieder auf.

„Hei“, ruft er seinem Sohn hinterher, „bring' eine Flasche Bier aus dem Wassereimer mit.“

 

 

  1. Uhr Ortszeit

 

Ich hatte den Eindruck, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung der 10-Millionenstadt Metro-Manila an diesem Mittag vor dem Taifun unterwegs war, um sich mit dem Nötigsten für die dunklen Stunden mit „Bebinca“ einzudecken: Kerzen, Sturmlaternen, Batterien, Benzin, Wasserkanister, Brot und Konserven, auf Rädern, Karren, in Säcken und Taschen fortgeschafft ... Schlechte Karten hatte, wer seine Einkäufe mit dem Auto erledigen wollte; auf den Straßen war der ohnehin von Staus geprägte chaotische Verkehr vollends zum Erliegen gekommen. Neben mir, auf dem Weg zur Rail-Station, war ich einigen ineinander verkeilten Blechhaufen begegnet, Autoruinen, deren Besitzer versucht hatten, trotz der offensichtlichen Unmöglichkeit der Fortbewegung dem Pflaster doch noch ein paar Meter abzugewinnen.

Natürlich war auch die Stadtbahn überfüllt, doch es gab – welch ein Wunder – keinen Stromausfall, und ich erreichte die Station Edsa im Süden Manilas ohne Zwischenfälle. Von hier aus waren es nur ein paar Meter bis zum Terminal der Batangas-Buslinie.

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Angekommen stelle ich fest: es scheint mein Glückstag zu werden. Der Bus nach Nasugbu via Tagaytay am Taal-See steht noch an seinem Platz, der Fahrer kratzt gerade die Reste seines Mittagessens in eine Plastiktüte, zählt die Fahrgäste, nickt mir freundlich zu und startet temperamentvoll durch. Das Vehikel ächzt.

Zwischen zwei Narra-Bäumen wird für Sekunden der Horizont des Südhimmels sichtbar: Streifen von Schäfchenwolken steigen aus der Tiefe.

Geschöpfe Bebincas.

 

 

Kurz vor 15 Uhr Ortszeit

 

Der Bus hat die südlich Manilas gelegene Kleinstadt Silang passiert; linkerhand wölben sich die ersten Hügel auf, Ausläufer eines rund tausend Meter hohen Mittelgebirges, das die Nordseite des Taal-Vulkans umgibt. Die Landschaft hat etwas von den Zauberbergen im Märchen; die Höhen scheinen noch fern, doch nimmt man sich Zeit und lässt sie nicht aus den Augen, rücken sie scheinbar mit einem kühnen Sprung in die Nähe des neugierigen Betrachters; Höhlen und Grate schälen sich aus dem Dunst, hellgrünes Buschwerk wandert über ihre Hänge, Inseln dichten Waldes umrunden im Wasser glitzernde Reisfelder – eine Einladung der Natur.

Sie wird auch diesmal so freundlich vorgetragen, wie ich sie seit meinem letzten Besuch – vor Jahren – in Erinnerung hatte; damals, als ein Taifun zum Windspiel verkam und sich in den Weiten des Chinesischen Meeres verlor, ohne die Natur der Inselwelt anzutasten.

Während sich der Bus die erste bedeutende Steigung hinaufquält, bricht das bis dahin grelle Licht der Tropensonne plötzlich zusammen. Schatten wabern die Hänge entlang, zwischen den Gipfeln beginnt die Luft zu rauchen. Wenige Minuten später bedeckt unansehnlich graues Gewölk die Täler und Sattel; die Wolkenkante des ersten, noch harmlosen Spiralarms des ausgreifenden Taifuns „Bebinca“ nimmt Besitz vom Paradies.

 

 

Tagaytay

 

Hier in der Nähe beginnt der Fußweg zum Talkessel des Vulkans, und ich mache den Fahrer mit meiner Absicht vertraut, seinen schönen Bus zu verlassen. Er bremst vor einem überraschend komfortablen Wartehäuschen für Taal-Touristen, wünscht mir spöttisch blinzelnd frohe Stunden am Vulkan, beugt sich nach vorn, um durch die Windschutzscheibe einen Blick auf das düstere Gewölk zu erhaschen und beschleunigt das Vehikel, als sei ihm „Bebinca“ bereits dicht auf den Fersen. Ich schaue auf den Luftdruck-Messer an meiner Uhr: der Wert ist nur geringfügig tiefer als vor einer Stunde. Ich habe also nichts zu befürchten. Vorsichtshalber merke ich mir die drei nächsten Termine am Busfahrplan nach Manila.

Der Weg zum Tagaytay-Ridge, von dem aus man gewöhnlich einen unverstellten Blick auf die Insel mit dem Vulkan in ihrer Mitte hat, ist gut ausgebaut. Touristen und Wochenendurlauber Manilas nutzen ihn, hinter Strauchwerk und niedrigen Palmen verborgen haben sich vermögende Hauptstädter angesiedelt. Wenige Kilometer weiter schließlich, am Rand des steilen Felsabbruchs zum Taalsee-Kessel, gabelt sich die Straße. Ich lehne mich an das wacklige Geländer, voller Erwartung einer prächtigen Aussicht. Und bin enttäuscht. Nichts. Nichts ist dort, wo der See und der Vulkan ein paar hundert Meter unter mir liegen müssten, auszumachen. Nichts, nur – natürlich – dicker pappiger Nebel, der unter dem Druck des mäßigen Windes in Wellen zu schunkeln scheint. Hin und wieder bricht aus dem Weißgrau eine Art Protuberanz in die Höhe – eine Rauch-Eruption des Vulkans ... oder ein bescheidener Wolkenschlot in der zunehmend labileren Atmosphäre vor „Bebinca“? Ich bin mir nicht sicher.

Erst jetzt bemerke ich, dass der bisher stetig aus Nord wehende Wind unruhiger geworden ist und mit jedem Stoß weiter nach Nordost eindreht. Trotz des bedeckten Himmels scheint es noch heißer geworden zu sein, und der Luftdruck hat sich wohl endgültig für einen katastrophalen Sinkflug entschieden. Ein schlechtes Zeichen.

Unschlüssig schlendere ich am Hang entlang, immer in der Hoffnung, vielleicht doch mit einem Blick auf den legendären Vulkan belohnt zu werden. Vergebens. Aus dem Dunst über dem Gehweg löst sich dagegen die mir noch vertraute Silhouette eines schlossähnlichen Gehöfts; die Liegewiese davor – wie ein Amphitheater zum üblicherweise rauchenden Taal geneigt – ein geschätztes Ziel der Hauptstädter, wenn sie der beklemmenden Luft Manilas entfliehen. Bei meinem letzten Besuch ging es hier zu wie in einem öffentlichen Strandbad zur Hochsommerzeit, laut, die Körper dicht an dicht gepackt, das Geschrei von Kindern. Heute haben nur wenige Familien die Ausfahrt gewagt. Vom seltsam farblosen Bild der Ausflügler geht eine bleierne Starre aus, selbst die Stimmen scheinen eingeschmolzen.

Noch ein Versuch, wenigstens den oberen Zipfel des Kraters in der Tiefe auszumachen ... Erfolglos. Die Sicht wird immer schlechter; Fetzen des Nebelschleiers klettern über den Felssturz. Ein feiner Sprühregen treibt heran.

Es ist Zeit, die Rückfahrt anzutreten.

Als die Straßengabelung wieder in Sicht kommt, rast eine erste heftige Böe durch die Wipfel der Palmen, eine zweite wirft mich fast von der Straße; ich beschleunige den Schritt; doch die nächsten Stöße bleiben aus, verlieren sich irgendwo in den schwarzgrauen Wolken.

 

 

 

Nachtrag Tagebuch, 2. November, Früher Abend

 

Hotel

 

Wie so oft im Umfeld angedrohter Wetterkatastrophen nehmen die Menschen das dämmernde Chaos schon einmal vorweg. Mindesten fünfzig leichtfertige Ausflügler hatten nach dem Aufkommen der ersten Sprühregenschwaden die Flucht ergriffen und lauerten nun an der Haltestelle von Tagaytay auf den Bus nach Manila. Statt des feinen Getröpfels schickte „Bebinca“ inzwischen kurze schwere Regenschauer in die Bergwelt; der Wind hatte wieder beängstigend zugenommen; die Erwachsenen versteckten ihre kleinen Kinder unter den eigenen Regenumhängen, versuchten geduldig, sie zu beruhigen. Doch der Wind riss ihnen die Worte von den Lippen; die Botschaften kamen nicht an.

Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, war das wacklige Bus-Vehikel auf die Minute genau zur verabredeten Fahrplan-Zeit erschienen; aus den weit geöffneten Fenstern und den drei Türen stob mit dem Wind der Geruch schwitzender Körper heran. Nach herkömmlichen Maßstäben war der Bus überfüllt. Aus Erfahrung wusste ich jedoch, dass niemand an der Haltestelle zurückgelassen würde. Der Schaffner hing auf dem Querbrett der hinteren Tür, zeigte mit ausholenden Gesten auf seine Uhr und trieb die durchnässten Kunden an, sich zügig ins Innere zu begeben. Niemand sollte an seinem Willen zweifeln, jedweden Fahrgast zum versprochenen Ziel zu befördern.

Zurück blickend würde ich diese Fahrt als grauenhaft einstufen. Jeder Sitzplatz war doppelt belegt; zwischen den jeweiligen Knien der Sitzenden und der geneigten Vorderlehne bog sich ein weiterer Körper um die Schräge; der schmale Mittelgang ließ die Dreier-Reihe dampfender Passagiere schon aus geometrischen Gründen eigentlich gar nicht zu ... Die Filipinos waren allerdings guter Dinge; nur in sehr scharf genommenen Kurven hörte ich hier und da ein leisen „Oh“.

Trotz des stürmischen Winds, der sich dem Bus frontal entgegen stemmte und in alle weit geöffneten hohen Fenster gleichzeitig fuhr, wollte sich die heiße und schwüle Luft nicht aus dem Inneren verabschieden. Der Schweiß verklebte Hemden und Blusen, Kondenswasser tropfte von der Decke. Sicherlich trug der stürzende Luftdruck dazu bei, dass auch das Atmen immer schwerer fiel. Im hinteren Teil des Busses klapperte derweil der Schaffner mit seiner altertümlichen Geld-Blechdose. Da ihm der Weg über den Boden des Gefährts bei der gegebenen Packung der Kunden versagt blieb, war er auf die eisernen Bügel der Sitzlehnen gestiegen, verankerte sich jeweils Schritt für Schritt in den ledernen Halteschlaufen, die über dem Mittelgang herabhingen, zog sich an den Netzablagen vorwärts oder fand die notwendige Ruhe für sein Geschäft auf den Schultern sitzender männlicher Fahrgäste. Einige Passagiere, die ihre Kleidung nicht den Turnübungen des Schaffners aussetzen mochten, veranstalteten Sammlungen, und reichten das Fahrgeld über andere Reisende weiter. Als der Bus kurz vor Manila in einer unübersichtlichen Straßenschleife abrupt bremste, da ein eben herabgestürztes Gemenge aus Sand und Geröll die Fahrbahn einengte, erschien der Oberkörper des Schaffners, vom Schwung und Beharrungsvermögen seines Körpers getragen, für einige Momente außerhalb der Fenster ...

 

*

 

Die Metro-Rayl hatte ihren Betrieb noch nicht eingestellt. Allerdings waren ihre Waggons jetzt gähnend leer; der Wind heulte über dem Dach, fuhr pfeifend durch das rollende Untergestell, die Konstruktion schwankte hin und wieder bedrohlich, und die gesammelten Striemen dünnen Regens schossen ruckweise über das Fensterglas.

Die grau verschleierten Behausungen dahinter hatten das Volk Manilas aufgesogen.

Als ich an der Padre Gil-Station das Bahngelände verließ, blitzte dicht über dem Horizont im Westen, vielleicht 200 Kilometer entfernt, noch einmal ein grell-weißer Streifen auf: die untergehende Sonne, eingeklemmt zwischen der vorderen Wolkenkante des Taifuns und der abschüssigen Rundung der Erdkugel, schien einen vorerst letzten Blick auf Kulissen und Darsteller des heraufdämmernden Dramas werfen zu wollen. Dann erlosch das Licht. Jedes Teil meiner durchnässten Kleidung schien sich plötzlich enger um mich zu legen, mir den Atem zu nehmen; die wenigen altertümlichen Straßenlaternen glimmten nur noch. Ich lehnte mich an eine Hauswand, zog Hemd und Leinenhose aus und stolperte in Boxershorts die Adriatico Street entlang, bis ich die Padre Faura und mein Hotel erreichte. Nur eine Stunde Schlaf, nur eine einzige! Als ich einschlief, produzierte mein Gehirn wundersame Bilder knöcheltiefen Schneematschs. Vergnügt watete ich in den Traum.

 

 

 

Wettfahrt

 

Insel Samar, Nähe Tacloban

1. November, 6 Uhr früh Ortszeit

 

Aus dem persönlichen Logbuch des Kapitäns Kuoto

 

Zum zweiten Mal in Tacloban Fracht gelöscht, neue Container an Bord; bereits 5 Uhr Fahrt aufgenommen. Sonnenaufgang verfolgt, aber nur spärliche Indizien für „Bebinca“ ausgemacht, insbesondere rot-gelbe Streifenwolken in großer Höhe über der Kimm, rechts neben der Sonne. Luftdruck steigt etwas. Bisher kaum Gegenwind. Vielleicht nur eine ungefährliche Störung?

Hoffentlich. Über Land sind aus dem Nichts plötzlich isolierte Quellwolken geschossen. Gefährliche Vorzeichen?

 

 

Casogoran Bay

  1. Uhr Ortszeit

 

Golf von Leyte verlassen, freies Wasser, längstes Wegstück bis zur imaginären Taifun-Kreuzung vor uns. Strikten Nordkurs gesetzt; Ostküste Samars entlang. Luftdruck hat seinen Höchststand verlassen, fällt leicht, aber stetig. Über See jetzt ebenfalls Wolkenbänke.

Warn-Center konsultiert. „Bebinca“ soll Status „Tropensturm“ erreicht haben; müsste sich neben uns, etwa auf gleicher Breite befinden, allerdings rund 300 Kilometer entfernt im Osten. Zieht schräg auf unseren gesetzten Kurs zu, hat also den längeren Weg. Wenn der werdende Taifun sein Tempo beibehält, sollte es spielend gelingen, die Kreuzung vor der Ankunft seines Zentrums zu passieren und durchzuschlüpfen; wenn auch bei rauer See.

 

 

Freie See, in Sichtweite der Insel Samar

13 Uhr Ortszeit

 

Der Sturm im Südosten setzt uns nach; Entfernung schätzungsweise 250 Kilometer. Sein Wolkenschirm hat bereits den gesamten Himmel überzogen; noch sind es dünne graue Wolken; Sonne wie hinter Milchglas. Der Zeiger am Barometer ist schneller als bisher gesunken. Seit zehn Minuten behindern scharfe Windböen die Fortbewegung unseres Schiffs. Die Temperatur liegt weiterhin bei 30 Grad.

Bin auf dem Hängegang zwischen den Containern zum Vorschiff geklettert, um Wellengang aus der Nähe zu prüfen. Ungünstiger Eindruck. Die schaumige Windsee aus Nordost reicht kaum noch in die Tiefe; von dort steigt die Dünung „Bebincas“ auf. Offensichtlich hat der Wirbel das Stadium eines einfachen Tropensturms längst überschritten.

 

 *

 

Freie See, östlich von Samar, 1. November, 13.30 Uhr Ortszeit

Lagebesprechung

 

„Wir haben ein Problem“, sagte Kapitän Tuoko und trat an den Wand-Bildschirm, der die Route des Schiffes nachzeichnete. „Laut Navigationssatellit hat uns die Dünung näher an die Küste gedrängt, als uns lieb sein kann. Über Untiefen und Klippen liegen keine Informationen vor. Hinzu kommt, Rumpf und Container weisen unkontrollierte Resonanzen auf; ich war Vorschiffs, die Schwingungen sind deutlich fühlbar, sie könnten sich aufschaukeln, wenn wir die Fahrtgeschwindigkeit nicht verändern.“

„Langsamer geht nicht“, bemerkte der Erste, „dann holt uns der Sturm auf jeden Fall ein. Also schneller. Geht das?“

Der Maschineningenieur nickte. „Es muss gehen. Ich glaube nicht, dass wir bei der Überholung des Motors etwas übersehen haben.“

„Das wäre geklärt.“ Tuoko war zufrieden. „Bliebe der Abtrieb zur Küste. Wir könnten kreuzen, in kleinen Schritten, und den Abstand etwa halten. Oder einen langen Ausfall weg von der Küste versuchen, bis die erneute Annäherung den kritischen Punkt wieder erreicht hat.“

Es dauerte einige Minuten, während der Zweite Offizier den Rechner programmierte.

„Das Gegenkreuzen in kleinen Schritten scheint günstiger zu sein“, sagte er schließlich zögernd. „Der Sturm wird noch zunehmen und wir gerieten zu nah an sein Zentrum. Allerdings ist es die gefährlichere Variante, so nah an der Küste zu manövrieren; die Sicht ist schlecht und wird sich noch verringern. Leider wird sich unsere Fahrtzeit – wie wir uns auch entscheiden – in dieser Phase ungefähr verdoppeln.“

In diesem Augenblick traf eine heftige Windböe die rechte Seite des „Drachen“, das Tageslicht verblasste und schwerer Schauerregen senkte sich über das Schiff. Die Container rieben sich in ihren Halterungen, Metall kreischte.

„Windstärke 11, mindestens. Orkan“, murmelte der Erste.

„Offensichtlich keine Alternative greifbar. Kreuzen wir also in kleinen Schritten, in der Götter Namen“, schloss der Kapitän die Besprechung. “Und überprüfen Sie alle Befestigungen der Fracht.“

Tuoko überließ die Brücke dem Ersten und kletterte zum Deck hinunter; er hatte plötzlich das Bedürfnis, das Gesicht, seinen ganzen Körper dem Sturm, den Regenböen und dem Echo der auf den Schiffsrumpf aufschlagenden Wellen auszusetzen. Hier unten, zwischen den Containern, den Seilen, an die er sich klammerte, schien ihm seine Macht über den wehrhaften Frachter aus den Händen zu gleiten; sein Kopf gaukelte ihm die unermessliche Tiefe des Meeres jenseits der dünnen Stahlhaut des Schiffsbodens vor, ungreifbar der Wind, der Regen, die Flut; niemand, an den man sich anlehnen konnte, der ihm die Verantwortung abnahm. Um sich herum nur das Nichts im grauen Licht des heraneilenden Taifuns. Der Kapitän zuckte zusammen, als hinter ihm eine Außentür scheppernd ins Schloss fiel. Niemand würde ihm und seinen Leuten jetzt helfen; er hatte sie auf diesen Kurs, in dieses Inferno geschickt. Er allein. Kein fremdes Schiff, kein Rettungspilot konnte noch etwas ausrichten. Wo ist das Wasser, wo beginnt der Himmel? Wir schweben, dachte Tuoko.

Er spürte, wie der „Drache“ plötzlich ruckte, wie das Heck des Schiffes herum schwang und den Bug vom unsichtbaren Land weg auf die freie See richtete; sofort verließ der Frachter seine Schräglage und bäumte sich mit dem Vorschiff auf, als führen jetzt alle Wellen unter den Kopf des „Drachen“.

'Er macht das sehr geschickt', murmelte Tuoko und versuchte vergeblich, durch die wirbelnden Gischtflocken einen Blick auf die Computer-Station des Steuermanns auf der Brücke zu werfen. Die Fahrt erschien ihm mit einem Mal sehr viel weniger abenteuerlich zu verlaufen. Was sollte uns schon passieren, dachte er; wir wissen, was „Bebinca“ unternimmt, besitzen ein zuverlässiges Schiff und erfahrene Seeleute.

„Wir haben mit dem Kreuzen begonnen, Herr Kapitän“.

Tuoko hatte nicht bemerkt, dass inzwischen der Zweite Offizier zu ihm getreten war.

„Ich weiß. Danke.“

*

Aus dem Reisebericht des Ersten Offiziers:

Die letzten Stunden (Bearbeiter: Lokale Presse)

 

Am frühen Abend des 1. November geriet der „Kleine Drache“ in zunehmend schwere See; unser Feind, „Bebinca“, hatte ohne Vorwarnung einen raschen Schwenk nach Westen, also in Richtung unseres Kurses, vollführt und schien auf irrwitzige Weise seine Anstrengungen zu verdoppeln, den Frachter doch noch einzuholen, bevor er über den angenommenen Kreuzungspunkt nach Norden entweichen konnte. Auch schien der Wirbel sein Reisetempo zu verdoppeln, wobei er inzwischen lt. Hawaii-Center Spitzenböen von mehr als 120 km/h produzierte.

Der Kapitän schien jetzt an vielen Orten des Schiffes gleichzeitig zu sein, ließ ständig die Tiefe loten, veranlasste den Ingenieur, die Motoren über die erlaubte Belastungsgrenze hinaus hochzufahren (was ich für bedenklich hielt), hangelte sich – mit einem Seil gesichert – an der Containerfracht entlang, um die Befestigungen zu überprüfen, und hielt mit meiner maßgeblichen Unterstützung ständige Verbindung mit dem beobachtenden Satelliten des Taifun-Centers. Fragen beantwortete er nicht mehr, was eine Zusammenarbeit mit ihm erschwerte. Als eine der – wie üblich besonders hohen – Monsterwellen den „Drachen“ in eine Schieflage von nahezu 35 Grad wuchtete, bemerkte er nur, dass uns „Bebinca“ jetzt ganz offensichtlich am Schwanz gepackt habe.

Kurs zu halten, schien immer unmöglicher zu werden. Gegen 20 Uhr erfasste eine Resonanz-Schwingung des Stahlgerippes nahezu den gesamten Rumpf und die Aufbauten. Die Zeiger der Instrumente zuckten scheinbar wahllos über die Skalen, und der Steuermann und ich verloren jede Orientierung. Hatten wir noch – zumindest andeutungsweise – den Kurs anliegen?

Einzig der Kapitän versuchte den Eindruck zu erwecken, seiner Sache sicher zu sein, und dirigierte den „Drachen“ auf einem unsichtbaren Pfad voller Gischtfetzen und Regensträhnen, die waagerecht durch die Luft schleuderten und uns – trotz der Scheinwerfer – jeden Rest von Sicht in der pechschwarzen Nacht nahmen. Nach meiner Schätzung befand sich das Sturmzentrum bald keine 100 Kilometer mehr entfernt, irgendwo neben uns, steuerbords.

Gegen 21 Uhr teilte endlich das satellitengestützte Ortungszentrum unsere ungefähre Position mit – der Kapitän hatte sich nicht geirrt; das Schiff befand sich immer noch – mit einer Abweichung zur freien See hin – ungefähr auf Kurs. Die gesamte Mannschaft bezeugte Respekt.

Hielten Ladung und Material durch, durften wir hoffen, in gut zwei Stunden den berechneten Kreuzungsbereich unserer Fahrt mit der Sturmbahn zu erreichen. Vor „Bebinca“, versteht sich.

Gegen 21.30 Uhr drang aus Richtung Mittschiff das Kreischen von Metall durch die lärmende Wand tosender Winde und Wasserwülste, als bremsten ein paar der Güterzüge, die seit Stunden über das Deck polterten, vor einem unsichtbaren Prellbock. Ich hakte mich an das Seil und kroch hinaus zu den Containern; in meterhohen Fontänen brach sich das Wasser an ihren Kanten. Der oberste Behälter hatte eines seiner Stahlbänder eingebüßt und schlingerte Zentimeter um Zentimeter zum Rand ... Erst eine halbe Stunde später gelang es drei Leuten der Besatzung, den Container mit zusätzlichen Ketten notdürftig zu fixieren.

 

 

Die Kreuzung

Aus Aufzeichnungen des Kapitäns (Bearbeiter: Lokale Presse)

 

  1. November, 22 Uhr Ortszeit

 

Zwei Stunden vor Mitternacht näherten wir uns dem Kreuzungspunkt; ich wusste nicht, ob ich noch die Konzentration aufbringen würde, der zunehmend irritierten Crew das Letzte abzufordern.

Gewiss, dass wir nicht all zu weit vom Kurs abgekommen waren, hatte der Mannschaft vorübergehend etwas Mut gemacht, doch würden sich Panik oder Resignation auf Dauer vermeiden lassen?

Obwohl wir mit der Schiffsenergie sparsam umgehen mussten, befahl ich, auf den letzten Meilen vor der imaginären Kreuzung alle Scheinwerfer einzuschalten; ich musste – soweit es das Wellenchaos gestattete – sehen, was mit meinem Schiff und seiner Fracht geschah. Und Licht würde die Angst mindern.

Die vor uns aufwachsenden Abhänge aus Wasser hatten inzwischen wohl Höhen von zehn oder zwölf Metern erreicht; in langen balligen Striemen schoss der Ozean an Bug und Containern empor, über seine schwarz-grüne Haut irrten die Spiegelbilder unserer Scheinwerfer. Erst an den Scheiteln der Brecher verwandelte sich das Meer in Striche weiß glimmenden Schaums, den der Orkan mit sich fortriss. Der flockige Salznebel drang durch alle Türspalte, fraß sich in die Gerätebohrungen, durchnässte selbst die Seekarten auf der Brücke. Mehr als 80 Kilometer dürfte das Wirbelzentrum nicht entfernt sein.

Als die Windregistrierung am Kommandostand ausfiel, ahnte ich, dass sich der Böenschreiber am obersten Ende des Mastes davongemacht hatte, abgebrochen oder auch nur verbogen.

Der Erste Offizier, festgebunden an der Reling, bemühte sich, mit einem Handanemometer eine Vorstellung von der herrschenden Orkanstärke zu bekommen.

140 Stundenkilometer Windgeschwindigkeit!

Der „Drache“ ist nur noch schwer zu dirigieren; auch scheint der Seeboden plötzlich wieder anzusteigen. Ich befehle zügigen Kurswechsel auf die freie See, um nicht am Sockel der Insel zuletzt noch zu scheitern. Zu diesem Zeitpunkt ist es nahezu gleichgültig, welche Ideen der Taifun selbst gerade hat.

Der Frachter dreht nur widerwillig bei; ein um das andere Mal wird seine Spitze in die Höhe geschleudert, und das Heck gerät zu Teilen unter Wasser. Während die physische Gewalt des Orkans die Oberfläche des Wellenfelds immer wieder einebnet, drückt die gleiche Welle der Dünung das Heck wieder in die Höhe, und der Bug schwingt dafür zurück und schlägt wie ein Stein in das nächste sich aufbauende Wellental. Mit jedem Aufschlag scheint die Containermasse labiler zu reagieren, ruckt an den Verspannungen und Ösen.

Der Erste hat die Gefahr erkannt, nickt mir zu und weist den Steuermann an, die Wellenfront erneut schräg anzugehen; sollten die Schrauben aus dem Wasser auftauchen, wäre jedes weitere Schiffsmanöver unmöglich.

Kurz vor 23 Uhr erfasst uns erneut eine der Monsterwellen; der Aufschlag des Vorderschiffs auf die Wasseroberfläche ist gewaltig. Bevor der nächste Wasserberg jede Sicht auslöscht, höre ich den Ruf des Ersten, fassungslos deutet er auf das Vorschiff: wie in Zeitlupe dreht sich der oberste Container im Scheinwerferlicht um seine Achse, schwingt über die Kante des vorderen Großbehälters, rumpelt, das Getöse des entfesselten Wassers übertönend, und verschwindet in der See. Der „Drache“ hebt sich mit einem Ruck – und lässt sich von der tonnenschweren Last der nächsten Woge wieder ins Gleichgewicht drücken.

Schadensmeldung! Der Erste nimmt Haltung an: Verlust eines Containers. Schiffsrumpf nicht beschädigt. Fracht des Containers? „Durian“, sagt der Erste, „stinkende halb reife Früchte.“

Hätten wir abwettern sollen? Irgendwo – irgendwo? – in einer sicheren, geschützten Bucht der Insel vor Anker gehen? Der Reeder wird es so sehen. Möglicherweise.

Aber wir hatten auch Glück. Viel Glück. Viel. Der „Drache“ trägt uns noch.

 Mit heftigen Böen dreht der Sturm nach Ost ein. Es ist kurz vor Mitternacht. Ich kann es kaum fassen – wir haben es geschafft.

Die „Kreuzung“ liegt hinter uns.

„Bebinca“ hat das Rennen verloren.

Im Prinzip.

 ***

 

 

Manila, Innenansicht eines Taifuns

Abend des 2. November

 

Hotel

 

Ein heftig schepperndes Geräusch riss mich aus dem Schlaf. Das Zimmer lag im Dunkel; es roch abgestanden nach Schweiß und Insektiziden.

Ich benötigte einige Momente, um herauszufinden, dass ich noch in Boxershorts und Sandalen quer auf einem Bett in einem Hotelzimmer nahe einem Vergnügungsviertel lag. Für wenige flüchtige Sekunden war ich versucht, mich zu fragen, was ich in dieser Absteige eigentlich verloren hatte.

Im nächsten Augenblick verwandelte eine Explosion hellblauen Lichts vor dem Fenster den Raum in ein schwarz-weißes Muster flacher geometrischer Figuren, erneut gefolgt vom stotternden Getöse eines in der Nähe einschlagenden Blitzes.

Ich schaltete die Bettleuchte ein und schob den Regler der Klimaanlage bis zum Anschlag. Der Wecker zeigte 20 Uhr.

Derartige Gewitter, erinnerte ich mich, gehörten nicht gerade zwangsläufig zum Repertoire eines erst heranrückenden Taifuns. Ich machte mich frisch, griff die Kamera und lief zum Hoteleingang hinunter, dessen Vordach ausreichenden Schutz versprach.

Offensichtlich gingen nur die beiden einsamen Einschläge auf das Konto des nahenden Sturms, irgendein Wolkenknoten in einem seiner Spiralarme. Ansonsten hielt sich auch dieses Gewitter in den üblichen Grenzen vieler Tropenschauer: spektakulär, aber ungefährlich. Hunderte dünne Blitzfäden, die von Wolke zu Wolke sprangen, beherrschten das Firmament, stoben in alle Richtungen, kringelten sich ein, erstarben plötzlich.

Ein kaum unterbrochenes Murren ferner schwacher Donner ging von den langen Glühfäden aus, wenn sie in einem der oberen Stockwerke der Wolke neu geboren wurden.

Dies alles sah überaus hübsch und possierlich aus und hörte sich – verglichen mit den oft gewalttätigen Gewittern deutscher Breiten – recht versöhnlich an. Auch der jetzt einsetzende „Regen“ entsprach der hier vorherrschenden Norm. Seine Tropfen waren derart aufgeblasen und dicht gepackt, dass sie sich gegenseitig den Weg versperrten, noch in der Luft ineinanderzufließen schienen und als nahezu fugenloser Wasserkörper jede Bodensenke minutenschnell in einen See, jede Straße in ein reißendes Gewässer verwandelten. Nur der Weitsicht der Straßenbauer Manilas war es wohl zu verdanken, dass die Passanten nicht bei jedem „gewöhnlichen“ Regenguss durch überbordende Wasser von den Bürgersteigen gespült wurden: Viele Steinkanten hatten etwa die vierfache Höhe der in Deutschland üblichen Begrenzungen.

Über die Kanalisierung der Wassermassen eines Taifuns nachzudenken, verbot sich dagegen von selbst. Die Hauptstädter lebten mit den maßlos überzogenen Überflutungen durch die Wirbel wie die Deutschen mit dem Schneematsch.

Das Gewitter dieses Abends endete so rasch, wie es aufgezogen war. Der vorübergehend abgeschlaffte Wind frischte wieder böig auf, während sich hinter den Spitzen schwarzzackigen Gewölks eine rotgelbe Mondscheibe sehen ließ. Die Idylle währte allerdings nur wenige Minuten; dann jagte von Norden ein tief liegender Dunst- und Nebelschleier heran, die Böen wurden heftiger, der Mond kippte hinter die Wolkenbank und leichter Regen setzte ein. Die Kurve des Luftdrucks, stellte ich nach dem Blick auf meine Uhr fest, wies inzwischen steil nach unten.

Die Unwetter würden also nicht mehr lange auf sich warten lassen; allerdings gedachte ich nicht, die Nacht mit „Bebinca“ in einem tristen Hotelzimmer zu verbringen. Ein deutscher Bekannter, dem ich für heute Abend – etwas eigennützig – einen Besuch in seinem strandnahen Haus versprochen hatte, ließ bereits durch den Portier bestellen, dass er mich in einer viertel Stunde mit dem Auto abholen würde.

Vor Jahren waren wir in einem indonesischen Restaurant in Berlin zufällig ins Gespräch gekommen; er hatte von seinem Arbeitgeber, einem multinationalen Konzern auf den Philippinen, vor einer Woche „Heimaturlaub“ bekommen, und sehnte sich bereits jetzt nach Manila, nach seiner Frau, einer Filipina, mit der er in einem neuen Haus gemeinsam lebte, und nach dem „anheimelnd“ warmen Wetter dieser südasiatischen Gegend.

Seit diesem Treffen hielten wir lockeren Kontakt zueinander, und als ich ihn jetzt, nach meiner Ankunft im Hotel angerufen hatte, bestand er auf einem Besuch, da er „einen Kenner der Materie und ein paar zusätzliche Hände“ gebrauchen könne, um „sein Heim festzuhalten.“ Frau und – inzwischen – zwei Kinder habe er „sicherheitshalber“ ins Landesinnere „evakuiert“.

Wenig später waren wir unterwegs zu einer kleinen Einbuchtung im Süden der Bay.

Das Häuschen passte sich den bescheidenen Dimensionen des Strandbogens an, war allerdings ziemlich massiv gebaut, wirkte klobig und vertrauenswürdig sicher, mit dicken Türen zur Bay und zur Landseite hin und mit einem hellroten Ziegeldach. Der schmale Garten reichte bis an den Roxas-Boulevard heran, auf dem zu dieser Stunde immer noch lebhafter Verkehr herrschte, obwohl die Nähe „Bebincas“ mit jeder Minute spürbarer wurde. Der stürmische Wind fiel von Landseite über den ufernahen Hain von Palmen her, ihre Wedel streckten sich hilflos flatternd dem Meer entgegen, zerrten an den starren Stämmen, Blattwerk riss sich in Bündeln los und tanzte auf die in der Ferne tosende See hinaus. Die Uferzone selbst hatte sich auffällig verbreitert, die Wasser zogen sich unter dem Zwang des Orkans vom Strand zurück.

„Was meinst du?“, fragte mein Bekannter.

„Mindestens Windstärke 11.“

„Und?“

„Die Tür zur See hin öffnen. Und festzurren. Sonst reißt dir der Innendruck das Dach weg.“

Der Hausherr nickte und verschwand im Westflügel.

Gegen 23 Uhr begannen die scharfen Ecken der Regentraufen am Haus zu pfeifen, irgendwo nebenan rumorte es, klatschende Geräusche mischten sich unter den allgemeinen Lärm.

Ich versuchte, die Herkunft der Laute zu erkunden. Endlich fand ich einen Spalt in einem der vernagelten Fenster und starrte voller Unruhe in das seltsam bewegte Dunkel.

Nichts war zu erkennen.

„Gibt's Licht in deinem Garten?“

„Warte...“

Wenig später flammte ein Scheinwerfer über der Gartentreppe auf, erfasste in der Ferne zierlich durch die Luft trudelnde Ziegel; wie Schmetterlinge stiegen sie vom Dach eines zweistöckigen Gebäudes auf; einen halben Meter über dem First vom Windkanal des Orkans erfasst, rasten sie in Richtung See davon.

„Bebinca“ hatte mit der Demontage des Nachbarhauses begonnen.

Der Besitzer erschien kurz im Türrahmen, schwenkte offensichtlich verzweifelt die Arme und sprang wieder ins Innere, als im Tumult der Winde lebendes Holz zu winseln und zu kreischen begann. Mehrere Stämme barsten unter der Gewalt einer Böe, verkeilten sich wenige Meter entfernt an der Grenze beider Grundstücke.

„Sein Haus ist solide; für anständige Schindeln fehlt das Geld“, sagte mein Gastgeber bekümmert. „Wenigstens ist ihm bis jetzt keine Palme auf den Kopf gefallen.“

Der Regen war inzwischen in wütendes Geprassel verfallen, behauptete sich im Gedränge der Stimmen, die das Haus überzogen. Rinnen und Bäche gruben sich in die Erde, fanden im aufweichenden Boden immer weniger Widerstand. Vor der geschlossenen Haustür strudelte es wie an einer Stromschnelle. Als ein Stück vom Hang nachrutschte, sprang der Pegel. Stausee vor der Türschwelle. Gurgelnd wühlte Wasser unter ihrem Holz; endlich ein Rinnsal im Haus, schmutzig, erdig, zögernd aufsteigend, in die Diele perlend, Blasen am Rand der Schwelle, quellend. Wir starrten hilflos. Bäche im Haus.

„War schon mal so“, brummte der Hausherr lakonisch. „Dahinten hopst er wieder raus.“

Er wies zum anderen Ende des Korridors, zur geöffneten Tür, an der es der Bach in kurzer Zeit zu einem ordentlichen Becken Wasser gebracht hatte, das stoßweise über den unteren Türrahmen schwappte. Wir zogen Gummistiefel an.

Eine halbe Stunde später begann das elektrische Licht zu zittern, flackerte noch minutenlang. Kurz vor Mitternacht fiel der Strom endgültig aus.

Das Geheul „Bebincas“ nahm zu; wurde allgegenwärtig, aus jeder Zimmerecke, jedem Schrank pfiff und rasselte es, Erbsen im Blechtopf, ein Dutzend kämpfender Katzen, Murmeltiere oder ähnliches, und Böen, die Anlauf nahmen und das Gehör aus dem Kopf zu saugen schienen.

„Mindestens 160 Stundenkilometer, wenn das reicht“, brüllte ich meinem Gastgeber hinterher, der ziellos durch die Räume wanderte, mit seiner Taschenlampe spielte und bei jeder dumpfen oder knackenden Antwort des Hauses auf den Winddruck des Taifuns zusammenfuhr.

Meine Gedanken verknoteten sich allmählich; es gab keinen Platz mehr in diesem Chaos, keinen stillen Ort für vernünftige Überlegungen.

Von den Decken der meisten Zimmer tropfte es inzwischen; der Orkan trieb den Regen unter die Ziegel, die Plastikabdeckung über dem Putz dürfte längst zerscheuert sein, und bald würde sich der Aufenthalt im Haus nicht mehr wesentlich von der Lotterwirtschaft des Regens vor dem Gebäude unterscheiden; von Windstärke 12 und beliebig mehr einmal abgesehen.

Wie viel würde der Bau aushalten?

Im unsteten Licht einer kleinen Dynamo-Leuchte hatte ich in der Ecke des Wohnzimmers bereits einen langen Riss ausgemacht, aus dem ein Wasserfaden rann; der Anstrich daneben aufgedunsen, zerlaufen.

„Noch können wir von hier weg“, schrie ich dem Hausherren zu.

Er schüttelte den Kopf.

Im gleichen Augenblick gab die unterspülte Vordertür dem Drängen „Bebincas“ nach, riss aus den Angeln und segelte mit einem hohlen Knall gegen die Flurgarderobe, versuchte sich aufzubäumen, schlug zur anderen Seite aus, ein Vogel mit gebrochenem Flügel, ächzend. Die hereinfegenden Sturmstöße verschlugen uns den Atem.

„Raus mit der Tür“, keuchte ich; ein erneuter Orkanstoß, ein zweiter, die dritte Böe verflog. „Jetzt!“

Wir wuchteten das Holzstück schmal gekantet in den Garten. Vom Himmel die fliegende See.

„Und das Seil!“

„Am Baum. Unten.“

Morast, sprudelndes Wasser. Ich ließ mich auf die Knie nieder, tastete, sah nichts, spürte nur Wellen, die über die Füße rollten. Endlich ein Stamm. Neben der Hauswand. Ein Knoten über der Borke. Und das Ende des Hanfseils unter Steinen. Ich riss und zerrte; schmatzend gab das Geröll den Strick frei. Eine freie Schlaufe; ich zog den Arm hindurch, kroch auf das Licht der huschenden Taschenlampe im Haus zu. Ein Mann im erhellten Rechteck presste eine massive Latte gegen die Innenpfosten. Sie bebte, wand sich zwischen den Händen, wollte zurück, in den Flur, zur anderen Tür, der offenen am Ende des Gangs, in das schäumende Meer.

Ich schlang das Seilende um die Latte, hielt sie der stürzenden Luft entgegen, fest.

Hammerschläge. Kein Wort mehr. Die Latten passten, wurden quer an den Innenrahmen genagelt, am Seil, eine nach der anderen. Füllten die Öffnung.

Endlich: „Mehr geht nicht“, brüllte der Hausherr hinter dem Holz. „Jetzt noch die Außenpfosten.“

Als ich mich aufrichtete, fuhr ein Wirbel die Hauswand entlang, verbog den Rücken, schleuderte die Beine seitwärts. Schlamm. Ich hielt mich am Seil fest, das Knäuel entwirrte sich, schwang herum. Immer noch Sumpf im Gesicht, im Haar, in tiefen Schrammen der Arme. Atempause. Der Wind war abgetrieben, zur anderen Hausseite. Der Hanf immer noch in meinen Fäusten.

Ich riss mich zusammen, robbte mit allen Kräften, die mir „Bebinca“ zugestand, zur hinteren offenen Tür.

Mein Bekannter wartete bereits; weit aufgerissene Augen, als der Lichtstrahl mich streifte, zurück kehrte, innehielt.

„Hier, das Seil, halt' es, bind' es fest, irgendwo.“

Ich spürte, wie sich der Strick spannte, ruhiger wurde, vibrierte.

„Schlag' die Tür zu. Und Haken ins Holz. Schneller.“

Der Hausherr wütete gegen die Tür.

Ein letzter Blick.

„Los jetzt! Nach vorn.“

Banden uns Latten auf den Rücken, jeder acht, und lange Nägel, in groben Säckchen, und den Hammer zwischen Hemd und Hose. Hielten uns am Seil, Meter um Meter vorwärts gegen „Bebinca“, Wind- und Wassersträhnen.

Nagelten auch die Außenpfosten zusammen, vorn.

Kurz nach halb eins saßen wir im Geländewagen; ein geschlossenes Vehikel, das mein Gastgeber im Schutz einer Steinböschung am Roxas-Boulevard abgestellt hatte. Irgendwo neben uns zog das Taifun-Zentrum vorbei; der Wind drehte, fast um 90 Grad. Hielt keinen Augenblick im Wüten inne.

Wir fuhren. Erstarrter Boden unter den Reifen. Offensichtlich die Straße, randvoll, breiige Bäche. Ob uns tatsächlich der Roxas-Boulevard trug, konnte keiner mit Sicherheit sagen. Als der Belag unter dem Wagen in einer Kurve entschwand, gerieten die Profile in Schlamm und drehten durch, der Wagen stellte sich quer; einer der Reifen schurrte dabei über Kopfsteinpflaster – eine Auffahrt! Die Räder kletterten wieder, fanden auf die Straße zurück, die jetzt anzusteigen begann. Oder? Wasser schoss uns entgegen, überspülte den Radkasten, Wellen sandigen Regens hasteten durch die offenen Fenster. Das Gefährt schlingerte, wollte den unsichtbaren Abhang zum Meeresufer hinunter.

Im nächsten Augenblick fanden die Scheinwerfer im Nebel des Regens einen Halt; tote Öffnungen in einer verbeulten Karosserie; ein Bus, verlassen, versperrte Teile der Fahrbahn. Sturmattacken verfingen sich, stemmten das Blech, verließen es fauchend, das Skelett schlug um sich, als wüte der Atem des Lebens in ihm; im aufgerissenen Motorblock Reste eines Leitungsmastes und die Maske einer Ampelanlage. Als wir näher heranfuhren, bemerkten wir die verkohlten Sitze im Inneren des Busses; ausgebrannt. Das Bild erinnerte mich an eine Nacht im Hurrikan auf Jamaica, an den aufblitzenden Feuerschein der Kurzschlüsse über den Spitzen der elektrischen Leitungsmasten, an Funken sprühende Drähte einer Starkstromleitung, die sich über dem durchnässten Boden wie eine Schlange wand und vieles in Brand setzte, mit dem sie in Berührung kam; oder auch Menschen durch Stromschlag tötete.

Diesmal schienen alle Insassen rechtzeitig den Bus verlassen zu haben; vielleicht war zu einem späteren Zeitpunkt das Benzin in Brand geraten, als die sturmbewegten Metalle Funken schlugen.

Vorsichtig umfuhren wir das Wrack; an der Hauswand vor uns schaukelte im Rhythmus der Böen ein Straßenschild, Roxas-Boulevard. Jetzt konnten wir hoffen, an einer der nächsten Kreuzungen in das Stadtinnere vorzudringen. Bevor „Bebinca“ die Winde weiter verkehrte und der Orkan die See wieder ans Ufer trieb. Und auch das nahe gelegenen Stadtviertel überflutete.

Die meisten Straßen, die in den Boulevard einmündeten, glichen jetzt einem Flussdelta; einige Wasserarme hatten unterwegs Geröll aufgesammelt oder Pflastersteine ausgegraben und sie vor dem Roxas zu Barrikaden aufgetürmt. Tropfen zerstäubender Bäche sammelten Reste von Licht; ihre Kaskaden schimmerten grau im allgegenwärtigen Schwarz.

Ich versuchte mich zu orientieren; wie viele Kilometer hatten wir schon zurückgelegt? Schafften wir es mit dem Jeep bis zur Quirino Avenue, könnten wir der gefährlichen Küstenstraße entkommen.

 Polternder, dann schurrender Lärm auf der Landseite – von einem der unsichtbaren Häuser am Boulevard schleuderte der Orkan gerade einen halbierten Dachstuhl auf die Fahrbahn; im letzten Moment riss mein Bekannter das Steuer herum, konnte den Wagen nicht mehr gegen den Sturm halten; es knirschte, wir fuhren auf den zwei Seitenrädern, kippten zurück, Federungen knackten, der Wasserstrom einer Seitenstraße brandete über die Fensteröffnungen, Wellen aus Schmutz- und Mörtelteilchen, bis zu den Knien; der Motor verstummte, das Gefährt rutschte von der zerbröselnden Straßenkante, der Böschung zum Meer entgegen, hilflos.

„Raus hier, zu mir herüber!“, schrie ich und zerrte meinen Bekannten über das Schalt- und Bremshebelwerk hinweg zur aufgesprungenen Wagentür; auf der anderen Seite stemmten sich Wasserkaskaden und Sturmböen gegen die Karosserie.

Als wir uns im Morast zum Boulevard hinauf arbeiteten, gab der Jeep ein dumpfes Stöhnen von sich, wirbelte mit dem Heck zur See und verschwand hinter der Regenwand.

„Er war ja auch schon alt“, bemerkte der Besitzer müde. „Und wohin gehen wir jetzt?“

In der Ferne, über dem verborgenen Häusermeer Manilas, war ein schwacher, eng begrenzter Feuerschein aufgestiegen; vielleicht ein Haus oder eine Hütte, deren Bewohner im Sturm die Kontrolle über eine brennende Kerze verloren hatten.

„Dorthin“, sagte ich und wies auf den Glutfleck. „Dort sind Menschen.“

Ein mühseliger Marsch; umgeworfene Zäune, Enden mit Stacheldraht, eingedrückte Hauswände, Schutthügel, Hände schräg vor dem gesenkten Kopf, Flugobjekte, Rahmen und Schindeln in der Luft, Ohren in alle Richtungen, Gesang der Bleche, trudelnd und flach schnellend mit jeder neuen Böe. Und endlich äußerlich unversehrte niedrige Häuser, leblos, von den Bewohnern verlassen. Wenig später eine Straße, massivere Gebäude, einige mehrstöckig; hinter den geschlossenen Fenstern vieler Wohnungen Glimmen von Petroleum-Leuchten, Ahnung von Licht; vereinzelt Notstromaggregate, üppige Helligkeit.

 In den Zugängen der Häuser Gruppen von Flüchtlingen, Hausrat in verschnürten Stoffbahnen neben sich. Wer Glück hatte, hockte auf Treppenstufen, zuallererst Kinder. Die meisten Haustüren eingedrückt, auf dem Boden, vom Wasser überspült; andere noch in den Angeln, bei scharfen Windstößen um sich schlagend, Bugwellen schwappten ins Innere. Das Wasser stieg augenfällig, kroch in die Häuser, höher, eroberte Absätze.

Ob es weiter stadteinwärts ein Durchkommen gäbe, wollten wir wissen. Schulterzucken. Wenn das Wasser hier weiter stieg – möglich. Logik, ich grübelte.

Wir stapften auf gut Glück los; eine Querstraße, bogen ein, den Sturm jetzt im Rücken, Wasserspiele um die Waden. Schon. Auf einem Balkon dröhnte ein Generator, mindestens 100 Dezibel, Strähnen gelben Rauchs vor dem erleuchteten Fenster.

Die Strömung in der Straßenmitte nahm Tempo auf, ein leerer Kinderwagen, zerschlissen, schoss vorbei, blieb an einem Holzregal hängen, wirbelte einige Male um die eigene Achse, kam frei, überschlug sich und setzte die Reise ins Überall fort.

Wir drückten uns dicht an die Hauswände, eine neue Ecke; dahinter – in Wohnungen zehn, zwölf Meter über dem flutenden Wasser – ein Halbrund zitternder Lichter – ein Platz. Glas splitterte. Ein Sturmstoß fing sich im Kreis der Gebäudefronten, heftete meinen Begleiter an die Emaille eines Chicken-Lokals. Vergeblicher Versuch, loszukommen. Luftnot, Vakuum im Rachen.

„Fallen lassen!“

Zögernd entspannt er sich, sinkt zur Seite, Wellen über den Kopf. Ich helfe ihm auf.

Am Ende des Platzes reicht das Wasser bereits bis zum Nabel; Einwohner fliehen aus den unteren Stockwerken der Gebäude, wenige flüchten sich auf flache Dächer, binden sich an Entlüftungsrohre.

Ein älterer Mann schiebt sein Fahrrad, vielleicht seine Lebensgrundlage, durch die Strudel, unschlüssig, was er damit zurzeit anfangen, wo er es sicher vor Diebstahl unterbringen könnte.

„Hast du ein bestimmtes Ziel“, erkundigt sich mein Weggefährte, „oder legst du es darauf an, zu schwimmen?“

„Wenn nötig ...“, sage ich vage. „Aber ich erinnere mich, dass es irgendwo weiter vorn, ein, zwei Plätze weiter, einen Geländeanstieg gibt, mit einer massiv gebauten Schule. Oder war es eine Kirche? Dort könnten wir vielleicht die Flut aussitzen, vom Sturm etwas geschützt, möglicherweise sogar im Trockenen.“

„Mir ist kalt; sehr kalt.“

„Tritt das Wasser, wenn's der Untergrund erlaubt, schieb' dich nicht nur durch. Das hilft dem Kreislauf.“

Jeder Schritt eine Qual; der Widerstand des Wassers schien sich mit jedem Meter zu vervielfachen, Wellen wölben sich auf, die Brust fühlte sich wund an, die Muskeln verkrampften; Inseln aufgetürmten Mülls umrollten unsere Körper, hölzerne Nagelleisten verfingen sich in den Resten der Kleidung. Durch die Sohlen der Schuhe spürte ich das Glas zersprungener Flaschen, ein Geschiebe aus Metall, Pfählen, Töpfen, gallertartigen Paketen. Jetzt nur nicht straucheln, in ein Loch geraten.

Eine Treppe, deren oberste zwei Stufen noch nicht vom Wasser überspült wurden, versperrte den Weg. Sie mochte Teil einer Rampe gewesen sein, deren Trümmer bis in Kniehöhe ragten.

„Rauf hier, ein paar Minuten. Ausruhen.“

Mein Begleiter nickte dankbar.

„Aber gut festhalten“, fügte ich hinzu.

Wir kauerten uns auf die oberste Stufe.

„Meinst du nicht auch, dass der Orkan etwas nachgelassen hat?“

Er blickte mich hoffnungsvoll an.

Tatsächlich. Ich hatte es auf die geschütztere Lage hinter der Häuserzeile geschoben, doch der Sturm war eindeutig abgeflaut.

„Und? Ist der Taifun endlich abgezogen?“

Mein Bekannter war offensichtlich am Ende seiner Kräfte. Ohne Erholung, gestand ich mir ein, würde ich es auch nicht mehr all zu weit schaffen.

„Sicher“, sagte ich, um ihn zu beruhigen, „über Land schwächen sich diese Ungeheuer schnell ab.“ Das war die Wahrheit.

„Jetzt zieht „Bebinca“ ins Chinesische Meer.“

Das war auch nicht gelogen, verschwieg aber, dass wir die Atempause lediglich der Nähe des Zentrums unseres Taifuns zu verdanken hatten. Von einem sogenannten Auge des Wirbels, einem Gebiet mit Windstille und wolkenlosem Himmel, würden wir zwar nicht profitieren – das Zentrum rutschte wohl südlich an uns vorbei –, doch zu einer vorübergehenden Abschwächung des Unwetters reichte es allemal.

„Gleich lässt auch der Regen nach.“

Als hätten die Güsse nur auf ihr Stichwort gewartet, stellten sie plötzlich den Betrieb ein. Kaum noch ein Tropfen; am Himmel wurde es heller; mit etwas Fantasie konnte man sogar ein paar Sterne erahnen.

„Dann könnten wir doch gleich hier warten; bis die Überflutung zurückgeht.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Das kann hier Tage dauern.“

Gelogen. Ohne neue Sturzbäche würde es höchstens zwei Stunden dauern, bis das Wasser abgelaufen wäre, fügte ich in Gedanken hinzu. Aber einem 'Zentrum' folgte ja notwendigerweise ein neuer Wolkenwall, ausgerüstet mit Sturm und Regenfällen. Das stand uns bevor, und es würde nicht lange auf sich warten lassen.

2

Am Horizont begann es zu wetterleuchten. Der Ringwall schien rascher heraufzuziehen, als ich angenommen hatte.

„Komm“, drängte ich, „je länger wir hier oben hocken, um so mehr kühlen wir aus.“

Widerwillig folgte er mir; vermutlich nagten Zweifel an ihm, ob ich ihm auch wirklich die Wahrheit gesagt hatte.

Verglichen mit der Kühle unseres luftigen Rastplatzes fühlte sich das Wasser fast warm an.

Wir verließen den Platz; aus der Innenstadt floss weiteres Wasser zu. Bald reichte der Pegel bis in Brustnähe. Neben uns hatten sich einige Familien und ihre Nachbarn in einer Reihe im Schlamm verankert und reichten über ihre Köpfe hinweg Babys und kleine Kinder weiter; drei hochgewachsene Männer trugen sie in ein mehrstöckiges Fabrikgebäude.

Nach einer Viertelstunde zeigte das Fehlen neuen Regens Wirkung – der Wasserstand sank langsam. Dafür lieferten die näher gerückten Blitze jetzt kräftigere Donnerschläge.

Zögernd, wie nebenbei, fielen erste große Tropfen. Ich zeigte nach vorn, ich hatte mich nicht geirrt:

„Dort, die Kirche!“

Am Ende der Straße, von grell-blauen Blitzen in Licht getaucht, ragte auf einer Anhöhe der Glockenturm einer Kirche in den Tropensturm.

Vielstimmiges Gemurmel empfing uns.

Auch wir kamen noch unter, auf dem Gestühl des Hauses, vollständig durchnässt, in einem trockenen Gotteshaus.

Als die schweren Böen der Rückseite „Bebincas“ aus den Wolken brachen, verankerte der Küster die schwere Kirchentür mit einer Eisenstange.

Mein Begleiter schlief bereits.

 

 **

 

 

Manila, 3. November, 16 Uhr Ortszeit

 

Tagebuchnotizen

 

Der Sturm hat uns verlassen; jetzt erwärmt die schon tief stehende Sonne von einem klaren blauen Himmel die geschundene Stadt und ihre Menschen. Einzelne Stadtteile verfügen bereits wieder über Strom.

Im Internet berichtet „Manila Bulletin“, dass nach vorläufigen Schätzungen mindestens 43 Menschen durch die Fluten „Bebincas“ ertrunken sind.

 

Spricht man die Hauptstädter auf das erlittene Leid an, winken sie höflich lächelnd ab.

„Fliegen Sie nur zurück in ihr Land! Den Flughafen haben wir bald aufgeräumt.“

Juans Eigenheim hat erneut das Blechdach verloren. „Die neuzeitlichen Reifen taugen nichts mehr“, sagt er. Wir tranken gemeinsam einen Reisschnaps.

Auch mein Bekannter vom Meeresufer gehört weiterhin zu den Hausbesitzern. Er schwört jetzt auf vernagelte Türen. Das Dach muss er allerdings neu decken. Er sitzt inmitten der aufgequollenen Holzmöbel und wartet auf Frau und Kinder. „Vielleicht kommst du ja mal vorbei, wenn gerade kein Taifun in der Nähe ist“, meint er. Ein undankbarer Mensch.

Das Tagesgestirn versinkt jenseits der lädierten Manila-Bay hinter dem Horizont. Gold-gelbe Streifenmuster hoher Eiswolken leuchten auf, letzte Erinnerung an „Bebinca“.

Ich klappe meinen Angelhocker zusammen. 'Schneematsch', denke ich, 'ist wirklich harmlos. Und langweilig dazu.' -

 

 * *

 

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