Beate Sander: Warum ich das Singen und Lachen verlernte (Autobiografie)

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Die Autobiografie von Beate Sander, Bestsellerautorin, Kolumnístin, Börsen- und Finanzexpertin: Lebensstationen, Schicksale, Zeitgeschichte und der Weg zu neuen Perspektiven                      

 

 

Dass Beate Sander einmal erfolgreiche Autorin populärer Wirtschaftsfachbücher sein wird, war bei derart schlechten Startbedingungen nicht vorauszusehen: Rückblickend skizziert die Zeitzeugin, deren Kindheit geprägt ist von der vergeblichen Suche nach Mutterliebe, 75 Jahre Leben, Zeitgeschichte und einschneidende Lebensstationen – beginnend als drittes Mädchen in der Geschwisterreihe, das unbedingt der Stammhalter sein und Joachim heißen sollte. Sie berichtet in Streifzügen hautnah miterlebbar über Krieg und Nachkriegszeit, das Überleben der Bombardierung im eigenen Haus, Vertreibung, Einmarsch der Russen und alleinige Flucht aus der DDR.

Und sie erzählt eindrucksvoll über ihre als schwierig empfundene Jugendzeit – den Ehrgeiz, es trotz fehlender Schulabschlüsse zu etwas zu bringen – erfolgreiche Begabtenprüfungen auf dem Weg zum Lehramt – Heirat und Mutterschaft – Arbeit in Lehrplankommissionen und eigene Publikationen im Schul-, Wirtschafts- und Börsensektor – ihre unglückliche Ehe als Anstoß für neue Sinngebung mit dem Ziel, Lernen als spannendes Abenteuer statt als „Muss“ zu begreifen – ihren schweren Schlaganfall mit dem Wunder, nicht zu sterben oder schwerstbehindert zu überleben – das eigene erfolgreiche Trainingsprogramm, um entgegen der Prognosen wieder völlig zu gesunden.

Dieser biografische Roman mit ihren eingängigen Schilderungen soll dazu ermutigen, auch mit schlecht gemischten Karten gewinnen zu können, und soll Betroffene bestärken, auch bei schwerem Schlaganfall nicht aufzugeben, sich neue Ziele zu setzen, den eigenen „Unruhestand“ finanziell frei und unabhängig zu gestalten. Und selbst wer in einer von Liebesentzug geprägten Kindheit das Singen und Lachen verlernt und die Leichtigkeit des Seins einbüßt, dem eröffnen sich später und selbst noch im Alter spannende Perspektiven, wenn er Herausforderungen mutig annimmt und als Chance für Lebensqualität begreift.

 

Beate Sander: Warum ich das singen und lachen verlernte, gebunden, 302 Seiten, (Autobiografie)

€ 12,99, 978-3-86992-401-4 (Taschenbuch)

€ 9,99, EAN 9783869924021 (E-Book)

€ 24,98 ISBN 978-3-86992-108-2 (Hardcover)

 

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Leseprobe:

 

1.


Vor 75 Jahren: Die erste Lebenszeit im Drei-Mädel-Haus


Die Tagebucheinträge meiner Mutter als
Grundlage für diesen Rückblick

Vor 75 Jahren war für meine Eltern während der Schwangerschaft noch nicht zu erfahren: Würde ich der ersehnte Junge oder wieder nur ein Mädchen sein? Zwei Töchter nacheinander verstärkten den bislang unerfüllten Wunsch nach einem Stammhalter massiv. Beim dritten Male müsste es doch endlich klappen. Joachim sollte ich heißen wie mein Vater, ein früher üblicher, gern gepflegter Brauch. Ein drittes Mädchen war nicht eingeplant – schon gar nicht väterlicherseits.

So kam der ersehnte Johann-Joachim erst zwei Jahre später auf die Welt. Als drittes Mädchen in dieser Geschwisterfolge nahm ich eine schwierige Rolle ein. Ich konnte sie nie richtig spielen.

Mein Vater – für Mutti war er unser Pappi, wir Kinder nannten ihn Vati, Freunde sprachen ihn mit Arzi an – wählte mit seinem Sinn für Humor und als Ausdruck künftiger Hoffnung für mich den Namen Beate, die Glückliche. Es gibt viele Mädchen und Frauen, für die dieser schöne, freudige Erwartungen weckende Name besser passen würde.

Die Fassade unseres schmucken Eigenheims, eine Villa in der gepflegten Rostocker Gartensiedlung Georgienweg, stattete Vati kunstvoll mit einem großen Holzschild „Drei-Mädel-Haus“ aus. Darin spiegelte sich etwas Ironie und leichter Spott gegenüber Mutti wider. Nach damaliger Expertenmeinung war die Frau an dem traurigen Zustand schuld, bislang nur Mädchen zu gebären. Wir Kinder nannten sie Mutti, für gute Bekannte war sie Muzi. Sehr gern ließ sie sich mit Frau Dr. Jaenicke anreden. Diese Erhöhung durch akademische Würden entsprach nicht den Tatsachen, hatte sie doch weder studiert noch promoviert.

Als dem Leben seine guten Seiten abgewinnender Optimist, der – wie er selbst sagte – beim Schweizer Käse nicht die großen Löcher, sondern den schmackhaften Käse wahrnahm, ließ sich Vati als Stehaufmännchen nie unterkriegen. Er dichtete anlässlich meiner Geburt im Dezember 1937:

„Christrosen blühen! Weihnachtszeit!

Friede auf Erden weit und breit.

Glocken läuten! Christ ist erstanden!

Zu Weihnachten in der Krippe fanden

wir unseres drittes Töchterlein.

Drum lasst uns froh und glücklich sein.“

Mutti vermerkt in ihrem Tagebuch, dass ich Joachim heißen sollte. Die Enttäuschung, dass ich nicht der ersehnte Stammhalter, sondern schon die dritte Tochter hintereinander war, muss riesengroß gewesen sein. Ich spürte Muttis Ablehnung. Platz für Liebe fehlte. Den Frust überdeckte nur eine gewisse Dankbarkeit, ein gesundes, kräftiges Kind geboren zu haben.

Vati, ein kreativer, auffallend liebenswürdiger Mensch von mittelgroßer Statur – der Ausdruck „untersetzt“ ist passend – hatte Sinn für Humor. Seine Fäuste dienten bei Streitigkeiten nie als Waffe. Mutti, eine wunderschöne blonde Frau, kam dem Adolf-Hitler-Mutter-Ideal nahe. Sie wurde mit dem Mutterkreuz ausgezeichnet und war offensichtlich stolz darauf

Ich spürte und erlebte am Rande mit, dass Mutti im Gegensatz zum kritisch denkenden Vati den Führer verehrte, anhimmelte und bis kurz vor dem Zusammenbruch bewunderte. Erst 1944/45 änderte sich ihre Einstellung – erkennbar an einem typischen Verdrängungseffekt! Davon zeugen die von ihr herausgeschnittenen Tagebucheintragungen über die letzten Kriegsjahre. Gern hätte ich diese Aufzeichnungen gelesen, um ein genaues, wahrheitsgemäßes Bild zu gewinnen.

Wie ich dem Tagebuch entnehme, entwickelte ich mich im ersten Lebensjahr zunächst normal und altersgemäß. Ich sage mit elf Monaten Mama, Papa und ein paar andere einfache Wörter. Ein paar Monate später ist dies alles wie weggewischt. Ich spreche fast gar nicht mehr und nehme wenig von der Umwelt, so auch von Weihnachten, in mir auf. Nur am Christbaum mit den brennenden Kerzen sehe ich mich allem Anschein nach nicht satt. Mutti nennt mich „kleines Dummes“. Ich bin das Sorgenkind, später der Tollpatsch – willkommener Sündenbock für die Verfehlungen anderer. Mein Bruder Johann nutzt dies dreist aus, indem er bis zur Schmerzgrenze schwindelt. Stellt er etwas an, werde ich für diese Untaten oft genug verprügelt und eingesperrt. Als ich später Vati nach den Ursachen meiner abrupten Sprachstörungen frage, zuckt er die Achseln: „Ich glaube, du fielst als Baby mal vom Wickeltisch!“

Mein Anderssein gegenüber den beiden älteren Schwestern missfällt Mutti, bringt sie in Rage und verstärkt ihre Einschätzung, ein dummes drittes Kind zu haben. Wie peinlich! Ich entwickle mich auch körperlich nicht altersgemäß, kann mit 15 Monaten noch nicht laufen. Stattdessen krieche und krabble ich laut Tagebuch mit hohem Tempo vorwärts. Ein Kindermädchen soll es richten und sich um mich kümmern. Mit eineinhalb Jahren hole ich den Rückstand großteils auf. Ich mag Anna, unser nettes Kindermädchen. Sie ist mir zugetan.

Am liebsten bin ich bei Vati und will ihm im Garten helfen. Er nimmt mich gern mit und bringt mir vieles bei. Sobald ich richtig laufen kann, drängt es mich nach draußen. Wohin? In den parkähnlichen Garten. Die Pflanzen und deren Samen faszinieren mich. Finde ich Saatkörner, buddle ich sie ins Erdreich ein und beobachte, ob und wie sie keimen und wachsen. Passt mir etwas nicht, reagiere ich ungnädig, werde wütend und haue zornig um mich. Mein Bruder darf so etwas tun; für ein braves Mädchen ziemt sich dies nicht.

Onkel Pias aus Lüchow gibt Mutti laut Tagebucheintrag folgenden Rat: „Haue ihr tüchtig den Hintern voll. Denn das kann sie bei ihrer Natur gut vertragen. Die Kleine merkt auch ohne Verstand ganz genau, was du von ihr willst. Und du sparst dir und ihr für später viel Ärger, Kraft und Verdruss, wenn du jetzt nicht nachgibst.“ Dazu Muttis Originaltext im Tagebuch: „So, das schreibt der gute Onkel Pias, und Recht hat er. Im Übrigen nennt er dich seine Freundin und schreibt an anderer Stelle: ‚Beatchen sieht ja fabelhaft aus. So etwas imponierend Steifnackiges und Selbstsicheres von Pose bei solch einem Knirps von Mensch! Sie ist bestimmt das Stärkste von deinen Kindern.“

Mutti befolgt den Rat von Onkel Pias bravourös. Sie verprügelt mich oft, auch mit dem Kochlöffel. Manchmal drängt sie mich an die Wand und schlägt von vorn gegen meinen Kopf, sodass ich mit dem Hinterkopf an die Wand pralle – dies mit dosiertem Kraftaufwand, sodass äußere Blessuren nicht auffallen. Seelische Schäden sind nicht sichtbar und bleiben im Unterbewussten verborgen. Meist ist mein Trotz der Anlass, den sie brechen will mit der häufig wiederholten Drohung: „Wenn ich weiß sage, ist es weiß, selbst wenn es schwarz ist!“ In solchen Augenblicken ist es wieder soweit, dass zwei Gefühle gegeneinander kämpfen: die Sehnsucht nach Liebe und der aufkommende Hass, begleitet von erlittenem Unrecht.

Trotz allem hält mich meine Mutter dank ihres ausgeprägten Pflichtbewusstseins und gegen Ekel ankämpfend am Leben, indem sie mir allabendlich einen Klistier in den Hintern einführt, um den zahllosen winzigen Madenwürmer den Garaus zu machen, die es sich in meinem Gedärm angesiedelt haben. Womöglich liegt darin der Schlüssel, dass ich ständig hungrig und gierig auf Essbares bin, ohne übergewichtig zu sein. Ein Mädchen hat sich zurückzuhalten und zu bescheiden. Ein weiterer Anlass, mich abzulehnen. Ihre Abneigung mir gegenüber wächst.

Ich halte Mutti zugute, dass sie es nicht leicht mit mir hat. Nachts schüttele ich im Schlaf mit dem Kopf so stark hin und her, dass sie mich im Bett festbindet – die allerschlechteste, wenngleich gutgemeinte Reaktion auf diese Abnormität. Diese oft bis ins Erwachsenenalter reichenden Schlaf- und Verhaltensstörungen, Fachausdruck Jaktation, deute ich als Hilfeschrei meiner Sehnsucht nach mütterlicher Liebe.

Mit elf Monaten sage ich Mama und Papa, danach spreche ich lange Zeit überhaupt nicht mehr – eine typische Begleiterscheinung dieser mit Frust und Liebesentzug verbundenen jahrelang andauernden Verhaltensauffälligkeit.

Später schäme ich mich gegenüber meinem Ehemann Günther und versuche alles, diese den Beischlaf belastende Störung endlich zu überwinden. Muss er es überhaupt merken? Als Ausgleich nehme ich sein heftiges Schnarchen geduldig hin, was ich sonst kaum täte. Seit wir getrennte Schlafzimmer haben und die Kinder erwachsen sind, schüttele ich nicht mehr im Halb- oder Tiefschlaf mit dem Kopf.

Mein Anderssein regt Mutti auf. Davon zeugen ihre Tagebucheintragungen. Der Vergleich mit meinen liebenswerten, pflegeleichten älteren Schwestern fällt für mich verheerend aus. Mutti tut sich schwer, ein solches Kind innerlich anzunehmen, geschweige denn zu lieben. Meine daraus erwachsenden Verhaltensstörungen verstärken bei ihr die Blockade, mich so zu akzeptieren wie ich bin. In einer Art Rückkoppelungseffekt verstärkt sich mein widerborstiges Benehmen. Ich kann richtig garstig, pampig, aufbrausend sein – keine Rezeptur für Sympathieträger, keine Impulse für Liebkosungen.

Ich denke, mein Gefühl täuscht mich nicht, dass meine Mutter mich zeitlebens ablehnte. Dies bekam ich auch später bei meinen Prüfungsnoten zu spüren. Auf „Mit Auszeichnung bestanden“ reagierte sie wegen meines übertriebenen Ehrgeizes extrem abweisend. Deshalb log ich sie als Test nach dem nächsten Examen an. Ich hätte Pech gehabt und nur die Gesamtnote „Ausreichend“ geschafft. Nie vergesse ich, wie nett Mutti da ausnahmsweise zu mir war.

Ich litt unter solchen Ungerechtigkeiten, berichtete Mutti doch mit unverhohlenem Stolz über die beruflichen Erfolge ihres Lieblingssohnes Dieter, dem verwöhnten Nachkömmling und Nesthäkchen. Ich meine, mich daran zu erinnern, dass sie ihr sechstes Kind abzutreiben versuchte.

Insgesamt ist ihr Pflichtbewusstsein, eine gute Mutter zu sein, die sich nichts vorwerfen muss, ihre herausragende Charaktereigenschaft. Es wird sie innerlich verletzt haben, als sie spürt, dass ich mich zu „Pappi“ hingezogen fühle und immer mitgehen will, wenn er als Hobbygärtner in seinem wunderschönen großen, parkartigen Gelände – ein gartenarchitektonisches Kunstwerk – werkelt. Weder eine kleine Rodelbahn noch zwei kleine ausbetonierte Gewässer fehlen: das eine ganz flach zum Plantschen, das andere etwas tiefer ausgeschachtet für ein paar Schwimmzüge. Dies alles baute und pflegte mein Vater selbst – bevorzugt am Wochenende und in den Ferien, wenn seine Handelsschule geschlossen war.

Laut Tagebucheintrag lebe ich in einer eigenen Welt. Ich interessiere mich zwar für Weihnachtsbaum und Adventskranz, sobald die Kerzen brennen. Sonst nehme ich wenig Anteil an meiner Umwelt und spreche fast nichts. Spielsachen sind mir gleichgültig, ausgenommen ein kleines Musikinstrument, das unterschiedliche Töne von sich gibt. Mit Puppen spiele ich überhaupt nicht. Ich lasse sie achtlos in der Ecke liegen und werfe sie auch mal an die Wand – wie beleidigend für meine Mutter. Wegen dieser Abneigung meide ich selbst heute noch Aktien von Unternehmen, zu deren Geschäftsmodell Puppen zählen wie die aufgetakelte Produktreihe Barbie vom amerikanischen Spielzeughersteller Mattel.

Meinen Kindern schenkte ich nur das, was sie sich wirklich wünschten, wie Chemie- und Physik-Experimentierkästen, Mikroskop, LEGO-Bausätze, Eisenbahnbücher für Uwe, schöne, bebilderte Literatur über Bauwerke und Malerei für Elke. Ich beschaffte Papier, Pappe, Farben, Stoff- und Tapetenreste mit allem erdenklichen Zubehör zum Malen, Basteln, Gestalten, für Rollen- und Ballspiele. Den Bedarf an Puppen deckten Oma Dorchen, Günthers Mutter, und mein Mann. Zum Glück war es wenigstens KÄTHE KRUSE statt Barbie-Kitsch!

Erst mit gut zwei Jahren spreche ich wieder mehrere Wörter, weitgehend ohne Satzzusammenhang. Immerhin verstehe ich anscheinend alles. Was mich laut Tagebuch fasziniert, ist neben den Pflanzen im Garten die Musik. Den Takt dazu schlage ich wie ein Dirigent mit erhobenem Arm und vorgestreckten Fingern. Ich laufe öfters weg, sodass mich Mutti, Vati und das Kindermädchen Anna suchen müssen. Die Turnstunde mit Tante Alida gefällt mir, wobei Mutti ärgerlich beobachtet, dass meine Körperstellung drollig und ungewöhnlich aussieht. Wie elegant und anmutig bewegt sich doch meine älteste Schwester Renate – für mich die heimliche Königin! Meine Schwester Christa schlüpft in meiner Vorstellungswelt in die Rolle des dienstbaren Geistes, wozu auch ich zähle.

Wegen meines widerspenstigen Benehmens werde ich erst im Sommer 1940 „auf Probe“ mittags am großen ovalen Esstisch in den Familienkreis aufgenommen. Wie demütigend, bislang allein am Katzentisch essen zu müssen. Ich nerve schon frühmorgens und entwickle mich zum Störenfried, indem ich im Haus herumrenne, die Türen zuschlage, während meine Mutter gern länger schlafen will. Vati ist Frühaufsteher wie ich.

Noch ist die Ehe meiner Eltern intakt, später eine von mütterlichem Hass geprägte und in Scheidung endende Beziehungskatastrophe. Am Familientisch bin ich ganz brav, gehe geschickt mit Schieber und Löffel um, passe auf, dass ich nicht aufs Tischtuch kleckere. Ungefragt rede ich kein Wort und schon gar nicht dazwischen. Ich will nie wieder an den „Katzentisch“ verbannt werden und nehme die Ankündigung „auf Probe“ ernst. Welch’ Zurücksetzung und nicht verwundene Pein, über ein Jahr lang jeden Tag mitzuerleben, dass mein jüngerer Bruder Johann schon längst am großen Familientisch mitessen darf! Er lässt mich spöttelnd seine Verachtung spüren – erste Anzeichen einer Großmannssucht.

Der Name „Katzentisch“ mag mitverantwortlich dafür sein, dass ich nie eine Katze haben wollte. Immer verband ich mit diesem Tiernamen den verhassten Tisch. Ich träumte davon, selbst Gastgeberin zu sein und Mutti dort zu platzieren.

Nachdem ich als Lehrerin viele Jahre lang Erziehungskunde unterrichtete, mangelte es mir nie an anschaulichen Beispielen, wie man mit schwierigen Kindern besser nicht umgehen sollte. Keineswegs wollte ich solche Erziehungsfehler bei Elke und Uwe machen. Drum habe ich mein eigenes Verhalten fortlaufend kritisch hinterfragt.

Bei Elke beobachtete ich kurzzeitig ähnliche Entwicklungsstörungen in Richtung „Hospitalismus“ nach ihrem Krankenhausaufenthalt mit eineinhalb Jahren. Damals – ich komme auf diesen gravierende Veränderungen im Klinikbetrieb auslösenden Vorfall noch zurück – wurde mir der tägliche Besuch ausgeredet. Welch’ grobe Fehleinschätzung seitens des Krankenpflegepersonals!

 

2.


Die Wirren des Krieges


Fehleinschätzung und Verdrängung des
unermesslichen Leids so vieler Menschen

„Der Krieg begann im letzten Jahr, 1939. Obwohl er nun schon ein Dreivierteljahr im Gange ist und gerade in diesen Tagen der Entscheidungskampf im Westen begonnen hat. Es geht um alles! Auch um eure Zukunft!“

So lautet ein Tagebucheintrag meiner Mutter. Danach sind einige Seiten herausgeschnitten. Ich vermute, dies waren Aufschriebe über die Verleihung des „Mutter-Kreuzes“ und die anfängliche Verehrung für den Führer Adolf Hitler. Schön, jung, blond, viele Kinder. Sie entsprach dem Führerideal.

Vati beurteilte die Lage kritisch und war das krasse Gegenstück von einem Nazi. Er äußerte zwar öffentlich keine Missbilligung. Das konnte er sich als Unternehmer – Ferninstitut und Handelsschule – nicht leisten. Aber er trat nie in die Partei ein und behandelte die Kriegsgefangenen, die bei uns eine Weile auf dem Acker arbeiteten, so menschenfreundlich, dass es mir auffiel. Die Leute bekamen immer genug zu essen. Nach den fehlenden Seiten folgen einige Einträge von Vati, die aber vergilbt sind. Danach ist Mutti erneut an der Reihe. Sie betont, ich sei ein eigenartiges Kind sei, das kaum sprechen, aber einiges verstehen und überlegt handeln würde.

Anfangs löste der Zweite Weltkrieg noch keine großen Ängste in der Bevölkerung aus, vorausgesetzt, man zählte nicht zu den erklärten Feindbildern und war kein Jude, den Hauptopfern des eskalierenden Rassenwahns. Die Olympiade 1936 in Berlin sorgte für weltweites Aufsehen. Adolf Hitlers Macht wurde gestärkt – eingebettet in imposante monumentale Bauwerke, die nicht jedem gefielen, Gefühle an Größenwahn aufkommen ließen, jedoch allgemein beeindruckten.

Verantwortlich war Hitlers „Chefarchitekt“ Albert Speer, 1937 zum Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt Berlin ernannt und ab 1942 zum Reichsminister für Bewaffnung und Munition befördert. Albert Speer verstand es geschickt, sich nach Kriegsende reuevoll als Angehöriger der seltenen Gattung „guter Nazi“ darzustellen. So entging er der Hinrichtung beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Speer wurde im Oktober 1946 zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt. Hinter Gefängnismauern schrieb er ein Buch, um sich zu rechtfertigen und zielstrebig an seiner neuen Karriere zu basteln.

In den ersten Kriegsjahren 1939/1940 rechnete die Zivilbevölkerung mit einem raschen Sieg. Ein Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation stand nicht auf der Agenda. Noch schockierten die Menschen in der Heimat keine ausgelöschten Stadtkerne und die nicht enden wollenden Flüchtlingskolonnen. Noch fehlten die kilometerlangen Bombenteppiche, wie ich sie selbst Anfang der 1950er-Jahre in Berlin-Charlotten-burg mit dem Blick aus dem Fenster direkt neben dem Fürstenplatz sah. Hier lebten wir eine Weile. Mir läuft es kalt über den Rücken, wenn ich mir vorstelle, wie viele Menschen dort unter zusammenbrechenden Gebäuden umkamen oder verstümmelt überlebten.

Ich sinne darüber nach: Sind die Zerstörungen in Berlin so gewaltig, dass selbst sieben Jahre nach Kriegsende längst nicht alles wieder aufgebaut werden kann? Hinter diesen Ruinen, Trümmern und Geröll sehe ich die hässliche Fratze des mörderischen Krieges, wie ein Moloch alles verschlingend, Mensch und Tier, jung und alt. Wie oft habe ich mir die Bilanz dieses Kriegsgeschehens vergegenwärtigt und versucht, das Zahlenmaterial mit schrecklichen Bildern zu verdeutlichen und aufzuarbeiten: Millionen toter und verletzter, entstellter, ihrer Gliedmaßen beraubter Menschen! Bei Kriegsbeginn sah die Vorstellung völlig anders aus. Ruhm, Ehre, glorreicher Endsieg! Mich erinnert dies an einen Krebstumor, der anfangs unbemerkt wächst und nicht schmerzt, um danach seine todbringenden Metastasen im gesamten Organismus auszustreuen. Jetzt ist der Zeitpunkt verpasst, erfolgreich zu operieren.

Als sich der Zusammenbruch 1943/1944 abzeichnet, ist es zu spät, die wuchernde Krebsgeschwulst Nationalsozialismus zu vernichten und den nicht mehr zurechnungsfähigen Adolf Hitler von seinem Wahnwitz abzubringen. Mehrere erfolglose Attentatversuche unterstreichen dies.

Meine Eltern behaupteten, von der Judenverfolgung nichts gewusst zu haben – gewiss eine Ausrede. Sie haben sich herausgehalten und selbst nie aktiv mitgemacht, aber alles, was diese Grausamkeiten betraf, verdrängt. Gesellschaftsspiele mit Werbekampagnen und Titeln wie „JUDEN RAUS“ müssten doch die Zivilbevölkerung wachgerüttelt haben: „Es spielt sich unfassbar Schlimmes ab. Die Schikanen nehmen stetig zu!“ Als Schulkind spielte ich im Gedanken „NAZI raus“! Als Erwachsene denke ich mir ein „Börsen-Monopoly“ aus.

Die Leute aus der Nachbarschaft, die gewöhnlich alles beobachten und darüber tratschen, mussten doch merken, wenn aus ihrer Siedlung jüdische Mitbürger plötzlich verschwanden. Wieso fiel nicht auf, dass Geschäftsräume, Türen und Fenster von Juden verrammelt wurden oder sich fremde Besitzer dort niederließen?

Musste nicht jedermann hellhörig werden, wenn jüdische Mitbürger den auf ihrer Kleidung aufgenähten gelben Davidsstern mit der Inschrift „Jude“ trugen? Konnte es länger verborgen bleiben, wenn rund 5,6 Millionen Juden durch Vergasen, Erschießen, Verhungern, Injektionen und medizinische Versuche Opfer des Hitlerschen Rassenwahns wurden? Schätzungsweise 2,7 Millionen Menschen kamen allein in den Vernichtungslagern um. Die ersten Massendeportationen setzten bereits im Jahr 1939 ein. Da war ich noch keine zwei Jahre alt, zu jung, um Politik wahrzunehmen und zu verstehen.

Heute, 70 Jahre später, befriedigt es mich, dass der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, selbst Überlebender des Warschauer Ghettos und einer der letzten Zeitzeugen, am 27. Januar 2012 im Bundestag in einer bewegenden Geschichtsstunde die Gedenkrede zum Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz hielt.

Freilich gab es noch nicht den sekundenschnellen weltweiten Datenfluss und die überbordenden Aktivitäten einer sich zum Moloch aufplusternden und vor Intimitäten nicht zurückschreckenden Medienindustrie. Die elektronische Datenverarbeitung und das Internet waren noch nicht geboren. Die Technologie rund um das Kriegsgeschehen steckte in den Kinderschuhen.

Zurück zum Tagebuch: „Bum-Bum“, so nannte ich den Fliegeralarm, verhasst schon wegen des Lärms und des plötzlichen nächtlichen Herausreißens aus dem Schlaf. Sobald die Knallerei begann – nur ein paar hundert Meter von unserem Haus entfernt arbeitete die Flakabwehr – presste ich beide Hände vors Gesicht. Originalton Mutti: „Es ist ja auch nicht schön, so aus seinem warmen Bettchen in den Luftschutzkeller zu wandern. Und doch können wir so froh sein, dass wir solch einen Keller haben mit Betten zum Weiterschlafen – in was für Räumen wohl viele Menschen die Zeit verbringen müssen.“

Im eigenen Luftschutzkeller, den Vati klug vorausschauend, vielleicht auch von bösen Vorahnungen getrieben, zusammen mit dem darüber liegenden Wintergarten gerade noch rechtzeitig bauen ließ, überlebte unsere Familie dieses Inferno 1944 unverletzt. Ein gerade abgeschossener feindlicher Flieger warf vor dem Absturz noch all seine Bomben ab und landete einen Volltreffer auf unsere Immobilie. Das Drei-Mädel-Haus zerbarst mittendurch. Nur der Wintergarten mit unserem Luftschutzkeller hielt der explodierenden Sprengbombe und den Druckwellen stand.

Weiter geht es im Tagebuch: „Du protestierst oft so energisch, wenn wieder mal Alarm ist, mit deinen Worten Bum-Bum. Wenn doch recht bald der Krieg zu Ende wäre. Wir entbehren ja noch nichts, haben keine Not und Sorgen. Pappi hält sie dank seines Fleißes von uns fern, und der Staat tut alles, was er kann, und zum Klagen ist kein Anlass. Aber es gibt täglich neues Leid in so vielen Familien. Der Feind wirft seine Bomben unter die Zivilbevölkerung der Großstädte.“

Schätzungsweise forderte der Zweite Weltkriegs bis zu 80 Millionen Kriegstote und 50 bis 60 Millionen durch direkte Kriegseinwirkung getötete Menschen. Weltweit verloren wohl rund 110 Millionen Menschen durch Waffengewalt ihr Leben. Genaue Zahlen fehlen. Die einzelnen Angaben weichen stark voneinander ab.

Im Januar 1941, ich bin nun drei Jahre alt, beendet meine Mutter ihre Aufzeichnungen. Sie vermerkt, dass ich jetzt im Satzzusammenhang spreche. Die letzte Seite ihres Tagebuchs gebe ich ungekürzt wieder:

„Nun gibt es aber für deinen Eigensinn nicht mehr immer die Entschuldigung: ‚Sie ist noch zu dumm!’ Du nennst dich zwar selbst ‚gute Ati’, aber das bist du nicht. Mit ‚Nati’ (Renate) verstehst du dich ja recht gut, aber mit ‚Kika’ (Christa) gibt es täglich Zusammenstöße. An Pappis Geburtstag sagst du mit einem Lichtlein und Blumen im Händchen: ‚Viel Glück, mein Pappi!’ Es ist wie mit allem bisher: Du lässt dir für alles wirklich Zeit, aber dann kommt alles, und unsere Sorge wandelt sich zur Freude.“

Ich bin ein Kriegskind, das in unruhigen Nächten auch heute noch von Fliegeralarm, einschlagenden Bomben, Flucht, Folter und von den in den KZs vergasten Menschen träumt und schweißgebadet aufwacht. Wie oft stürzt bei diesen Heimsuchungen unsere Villa, mein Zuhause ein! Der ätzende Brandgeruch riecht nach millionenfachem Mord. Hungrige Ratten fallen über mich her; ich kann ihnen nicht entrinnen.

Aber ich träume auch von einer Leiter, die zum Himmel führt, und die ich mühsam Stufe für Stufe erklimme, um ganz nach oben zu gelangen.

3.


Das Bild meiner Eltern


Ich stamme aus einer einst wohlhabenden Familie – heute Besserverdiener genannt. Im Zuge der Kriegswirren verarmten meine Eltern und brauchten jahrzehntelang meine finanzielle Hilfe, sobald ich als verbeamtete Lehrerin Geld verdiente.

Mein Vater, Dr. Joachim Jaenicke, geschmückt mit einem Doktortitel ohne Plagiat und zwei Diplomen in Politik, Volkswirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre, war in Rostock ein erfolgreicher Unternehmer mit Ferninstitut und privater Handelsschule. Dieses Anwesen lag mitten im Zentrum Rostocks nahe dem Marktplatz. Wir wohnten etwas außerhalb am Stadtrand in einer schmucken Gartensiedlung, umgeben von einem größeren Waldgebiet. Hier sammelte ich Pilze, Beeren und Bucheckern und träumte mit meinem Freund Peter über unsere gemeinsame Zukunft – er als Förster – ich als Pianistin.

Über die Familie väterlicherseits weiß ich wenig. Vati sprach nur ungern darüber und wich meinen Fragen geschickt aus. Vatis Mutter starb in jungen Jahren an Leukämie. Dieser heimtückische, damals immer unheilbare Blutkrebs raffte auch seine Zwillingsschwester im Alter von zehn Jahren hinweg. Ich befürchtete noch als Erwachsene, dass meinen Geschwistern, Kindern, Enkeln oder mir selbst ein ähnliches Schicksal durch vererbte Gene drohen würde. Diese Befürchtung bestätigte sich nicht. Es dauerte lange, bis ich die Angst überwand.

Mein Opa väterlicherseits, ein Apotheker, verstarb ebenfalls früh, woran, weiß ich nicht. Mein Urgroßvater war ein reicher Gutsbesitzer. In unserem Esszimmer hing ein großes Ölgemälde mit imposantem Blattgoldrahmen. Es zeigt ihn als einen von Gesundheit strotzenden, erhaben wirkenden Titan, der in stolzer Pose auf seine stattlichen Ländereien, sein Gestüt und die ihn umwogenden Kornfelder blickt. Den Apotheker, meinen unbekannten Opa, stelle ich mir als schmächtigen, blassen, stillen, unauffälligen Mann mit verkniffenen Mundwinkeln vor – im akkurat geschnittenen weißen Medizinerkittel geheimnisvolle Rezepturen anrührend. Suchte er die Zauberformel, um die seine Familie heimsuchende Leukämie zu bekämpfen?

Vati stammt aus dem thüringischen Jena. Warum er nach Rostock zog und hier seine berufliche Existenz aufbaute, weiß ich nicht. Er war nie ein Nazi, behandelte die bei ihm zeitweilig arbeitenden Kriegsgefangenen glücklicherweise menschenfreundlich. Zweifellos profitierte er in den ersten Kriegsjahren davon, dass viele Soldaten seine Fernbriefe für Bilanzbuchhaltung, Volks- und Betriebswirtschaftslehre sowie Steuerrecht bezogen. Es wäre unfair und verfehlt, ihn deshalb als Kriegsgewinnler abzustempeln. Mein Vater mit Unternehmerblut in den Adern erkannte als Geschäftsmann die Chancen und nutzte sie. Etwas für die Bildung zu tun, ist und war zu keiner Zeit und in keinem System ehrenrührig.

Für meine Mutter gilt abgewandelt: „Bauer sucht Frau – Bäuerin sucht Mann.“ Sie stammte aus einfachen Verhältnissen, einer bäuerlichen Familie aus Lüchow bei Celle. Eine blonde, wunderschöne, grazile und charmante Frau, die es nicht nur meinem Vater angetan hatte.

Mutti hatte zwar nur einen Volksschulabschluss. Aber wer sie kannte, mit ihr sprach oder von ihr eingeladen wurde, sah sich einer gebildeten Dame mit feinen Umgangsformen und besten Manieren gegenüber. Bewandert in Literatur, Kunst und Kultur. Ausgestattet mit zielsicherem Geschmack, was gediegene Wohnungseinrichtung und modische Kleidung betraf. In ihre Familie passt sie ebenso wenig hinein wie ich in ihre Vorstellungswelt.

Mutti fand sich nie damit ab, dass mich Königshäuser, Filmstars, Schmuck und schicke Kleidung nicht interessierten. Umgekehrt störte mich an ihr, dass Äußerlichkeiten und Ambiente beherrschend waren für die Einschätzung anderer Menschen. Als ich ihr bei meinen seltenen Besuchen voller Stolz erzählte, dass ich einen großen Vortrag halten würde im Bonner Beethoven-Saal, fragte sie nicht nach Anlass und Thema, sondern nur, was ich anzuziehen gedenke.

Als mein Vater starb, galt ihr Blick allein der passenden Trauerkleidung. Nicht anders sah es aus bei der Taufe und Konfirmation meiner Kinder sowie bei Elkes Hochzeit. Die einseitige Ausrichtung auf Äußerlichkeiten und ihre übertriebene Eitelkeit entfernten uns menschlich noch weiter voneinander. Sicherlich würde meine Mutter auch unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel ablehnen, weil ihr schicke Kleidung wohl noch weniger bedeutet als mir selbst.

Zwischen Mutti und mir lagen Welten wie das trennende Gewässer in der großen symphonischen Dichtung: „Es waren zwei Königskinder.“ Am vorderen Ufer steht die Eitelkeit als Tugend, am hinteren Ufer die Eitelkeit als Untugend. Für mich gilt die umgekehrte Bewertung.

Meine Tochter Elke entsprach noch am ehesten ihrem Vorstellungsbild. Meinen Sohn Uwe, ein ausgesprochen sozialer Typ, stempelte Mutti allein wegen seiner Kleidung als „asozial“ ab. Sie bedachte ihn mit geringschätzigen Vorurteilen und lehnte ihn nicht minder ab als mich.

Umgekehrt waren Muttis Pflichtbewusstsein und ihre Verlässlichkeit zu bewundern. Ihr Perfektionismus verwandelte jedoch jede größere Feier zum Alptraum. Daher rühren wohl meine unausrottbaren Vorbehalte gegenüber Festlichkeiten mit vielen Gästen. Im krassen Gegensatz dazu motivieren mich eigene freie Reden vor Tausenden von Menschen in einer großen Halle oder Arena. Stets komme ich ohne Power Point und Spickzettel aus.

Meine Mutter verhielt sich mit ihrem „Betonkopf“ im Lebensalltag uneinsichtig bis hin zum Starrsinn. Sie wollte mich mit harten Strafen zum Spiel mit Puppen zwingen, verstärkte jedoch meine Abneigung. Typisch ist ihr schon erwähnter Anspruch: „Wenn ich weiß sage, ist es weiß, selbst wenn es schwarz ist.“ Gab ich nicht nach, winkten Schläge und Einsperren im dunklen, fensterlosen Abstellraum.

Als schlimm empfand ich ihr „Märtyrertum“, wie Vati es nannte, worunter er litt und sich mit einem Absacker tröstete. Man darf, aber muss kein Putzteufel sein. Wer freiwillig in diese Rolle schlüpft und einen Sauberkeitsfimmel entwickelt, sollte sich nicht selbst beweihräuchern. Niemand drängte Mutti dazu, ihren Haushalt perfekt zu führen, allwöchentlich sämtliche Fenster zu putzen, die Betten neu zu beziehen, täglich die Böden zu fegen, zu bohnern und die Küche nass aufzuwischen und zu schrubben.

Mutti hatte den Ehrgeiz, jedes Familienfest auf hohem Niveau auszurichten. Dabei begnügte sie sich nicht mit den Feierlichkeiten bei sich zu Hause. Gut, wenn ein solches Treiben befriedigt und das Selbstwertgefühl stärkt. Ein andauerndes Wehklagen widerspricht einem positiven Selbst- und Fremdbild. Ich ließ Mutti bei den Festlichkeiten für meine Kinder nie aktiv mitwirken, was die Spannungen verstärkte. Damit sie sich nicht einmischte, lud ich sie erst am Festtag ein.

Ganz klar: Ich stellte als Gastgeberin meine Mutter nie zufrieden. Ihr Rollenverständnis bezüglich Mädchen und Junge, Frau und Mann deckte sich mit der üblichen Einstellung vor mehr als 70 Jahren: Jungen sind etwas Besseres und verdienen bevorzugte Behandlung. Sie brauchen im Haushalt nicht mitzuhelfen, bekommen größere Essensportionen, dürfen sich prügeln, müssen aber auch tapfer sein. Bloß keine wehleidigen Angsthasen, keine Heulsusen, Petzen und Jammerlappen, die sich an Mutters Schürzenzipfel ausweinen!

Ein Alptraum mit Blickwinkel auf den eigenen Tod ist es, nach einem arbeitsamen, an Freuden, Sorgen, Ängsten und Leiden reichen Leben so menschenunwürdig enden zu müssen wie dies meiner Mutter widerfuhr. Ein solches Dahinscheiden wünsche ich selbst meinem Todfeind nicht. Wer mit 95 Jahren erst nach zehnjährigem Koma abberufen wird, verliert in diesem Jahrzehnt alles, was seine Persönlichkeit prägte: Schönheit, Anmut, Geisteskraft, die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse, Empfindlichkeiten und Wünsche zu äußern. Ich bin überzeugt, dass meine Mutter, könnte sie selbst bestimmen, ganz anders für sich entschieden hätte als meine sie zu Hause pflegende jüngere Schwester.

Bei aller Fürsorge ging es wohl letztlich um das Pflegegeld in Stufe III. Eine mobile Sterbeklinik mit wachsendem Zulauf in den Niederlanden ist die Reaktion auf die Ängste todkranker Menschen, die selbst bestimmen und der Gerätemedizin nicht länger hilflos ausgeliefert sein wollen.

Das Gottesbild meiner Eltern

Vati glaubte an Gott als Allmacht, als ein höheres Wesen, das die Natur erschuf und durch die Schöpfung für gläubige Christen wahrnehmbar ist. Dies erfuhr ich in Gesprächen; und darauf deuten einige seiner Gedichte hin. Zu seinem Vorstellungsbild passten weder der Himmel als Gottes Ort, noch die Hölle als Verließ der Verdammnis: Keine holden, lächelnden Engel als Heerschar. Keine Teufel als grausame Widersacher und Gegenspieler. Keine gottverdammten armen Sünder, schmorend in der blutroten Feuerbrunst der Hölle. Kirchen und Religionsgemeinschaften brauchte Vati zum Wohlbefinden und zur Werteorientierung nicht. Ich empfinde ähnlich.

Mutti glaubte an Gott gegenständlich und konkret. Für sie war die evangelische Kirche mit ihren Glaubensgrundsätzen wichtig. Sie ging zwar nicht übertrieben oft, aber zumindest an jedem kirchlichen Feiertag in die Kirche und bemühte sich sehr, uns Kinder zu gläubigen Christen zu erziehen. Bis zur Konfirmation waren Kindergottesdienste für uns verpflichtend. Tischgebete vor dem Mittagessen und abends beim Zubettgehen zählten zum eingeübten Brauchtum, an dem es nichts zu rütteln gab. Die Gebete stammten allesamt aus Vatis Feder. Ich weiß nicht, wo er sie aufschrieb. Sein wohl schönstes Mittagsgebet habe ich mir eingeprägt:

„Zu Ehren, was der Acker trägt,

was sich in Wald und Feldern regt.

Was Gott mit Sonnenschein und Regen,

mit Wärme, Licht und seinem Segen

aufwachsen und gedeihen lässt.

Wir falten die Hände und danken Gott,

der uns beschert das tägliche Brot.“

Die Vernichtung unserer Güter im Bombenhagel

Etwa zwölf Monate vor Kriegsende, im Jahr 1944, als eine Bombe nicht nur unser schönes Eigenheim auseinander riss, trafen Sprengbomben auch das Ferninstitut und die Handelsschule meines Vaters im Rostocker Stadtzentrum.

Nie werde ich vergessen, wie überall seine Fernbriefe, gebunden oder als Einzelblätter, durch die Straßen und Fußgängerwege flatterten, darunter die vielen mit einem Segelschiff-Dreimaster als Markenzeichen und Logo gestalteten Titelseiten. Diese Bilder als zementiertes Symbol des Kriegsschreckens brannten sich in mein Gedächtnis ein. Vatis stolzes Segelschiff auf den Weltmeeren – plötzlich verschmutzt, zertreten und vernichtet auf Rostocks Straßen und Fußwegen!

Als nach meinem schweren Schlaganfall der Tod an die Tür klopfte, richtete sich überlebensgroß mein neues Buch „Nachhaltig investieren“ vor mir auf: stolze Windräder auf dem Meer und zu Lande, Solaranlagen auf den Dächern und Feldern.

Im Zuge der Entnazifizierung musste sich Vati als Feldarbeiter verdingen. Wir wurden enteignet; und unsere Sparbücher verloren bei der Währungsreform ihren Wert.

Wir waren von einem Tag zum anderen keine reiche Unternehmerfamilie mehr. Irgendwann floh Vati nach Westberlin und hoffte, dort finanziell wieder auf die Beine zu kommen und seinem geliebten Ferninstitut neues Leben einzuhauchen. So ganz ist ihm dies nicht gelungen. Ob Berlin oder Würzburg: selten schwarze, eher rote oder gar tiefrote Zahlen. Unterkriegen ließ er sich jedoch nie.

Mehr zum Ferninstitut und den beruflichen Aktivitäten meines Vaters

In den ersten Kriegsjahren lief Vatis Ferninstitut ausgezeichnet, ohne ihn deshalb als „Kriegsgewinnler“ zu beschimpfen. Viele eingezogene Soldaten nahmen am Fernunterricht in Bilanzbuchhaltung, Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, Steuerrecht, Kaufmännischer Schriftverkehr und „Gutes Deutsch“ teil. Dies geschah in der von Zuversicht geprägten Annahme, der Krieg wäre schnell vorbei. Ein erfolgreiches Fernstudium sollte nach dem „Endsieg“ die Rückkehr in ein normales Leben und den beruflichen Start erleichtern. Diese Ziele waren nicht verwerflich. Kurz vor dem Zusammenbruch 1944 und ab 1945 ging gar nichts mehr. In den ersten Nachkriegsjahren hatten die Menschen andere Sorgen, als Wirtschaftswissenschaften zu studieren und sich in Zahlenreihen zu vertiefen.

Die Bedürfnispyramide in der Nachkriegszeit lautete:

1. Welle: Essen und Trinken,

2. Welle: Wohnung und Kleidung,

3. Welle: Freizeit und Reisen,

4. Welle: Sicherheit, Bildung und Selbstverwirklichung.

So startete mein Vater in Westberlin einen neuen Anlauf – mit mäßigem Erfolg: die meiste Zeit mehr Verlust als Gewinn. Es wäre besser gewesen, sich anfangs mit einem bescheidenen äußeren Rahmen zu begnügen. Aber das entsprach nicht Vatis Wesensart. So gut dies gemeint war: Musste er für Renate und mich einen teuren Konzertflügel mieten? Hätte zum Üben nicht ein einfaches Klavier genügt?

Sein Lebensstil zeigt gewisse Parallelen auf zum miserabel wirtschaftenden, seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse lebenden hochverschuldeten Griechenland. Ein Staat, der ohne milliardenschwere Rettungsschirme und Schuldenschnitt der Pleite nicht entrinnen dürfte. Wenn Vati schon das eine oder andere Liebesabenteuer pflegte: Musste es unbedingt allmonatlich die Frankfurter Edelhure Rosemarie Nitribitt sein, deren Leben verfilmt wurde? Billig war sie nicht zu haben.

Vati versuchte, seinen Kontostand aufzubessern mit überdurchschnittlich gut bezahlten pornografischen Beiträgen. Er schrieb aber auch seriöse Artikel für eine Wochenzeitschrift.

Als ich dem WINKLERS VERLAG in Darmstadt – geführt von den Zwillingsbrüdern Hans und Heinz Grimm sowie Vetter Rüdiger Grimm – mein erstes Fachbuch anbot, hieß es: „Wenn Sie so genial und kreativ sind wie Ihr Vater, heißen wir Sie als blutjunge Autorin herzlich willkommen. Sind Sie so unzuverlässig wie Dr. Jaenicke, dann zum Teufel mit Ihnen! Dann wird dies Ihr erstes und letztes Buch bei uns sein.“ Ich hielt jeden Termin überpünktlich ein und schrieb etliche Bücher für den WINKLERS VERLAG – eine ausfüllende und harmonische Beziehung bis zur Übernahme durch den Braunschweiger Großkonzern WESTERMANN.

Aktuell spielt sich Schlimmes ab. Der gesamte Schulbuchbereich wird im „Bildungshaus“ zusammengefasst. Dies gilt auch für meinen Verlag BILDUNG EINS. Ob ich die erbetene Einverständniserklärung unterschreibe oder das unpersönliche Schriftstück wutentbrannt im Papierkorb zerknülle, ändern wird sich dadurch gar nichts. Autoren sind keine Nutznießer, wenn die Großen die Kleinen schlucken.

Obwohl ich vor einem Dutzend Jahren gemeinsam mit dem Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Knöpfel eine erfolgreiche Sozialwesen-Schulbuchreihe für Thüringen schrieb und bei mir alljährlich immer noch ein paar hundert Euro Honorar eingehen, kennt mich bei WESTERMANN niemand. Auf der DIDACTA 2011 in Stuttgart konnte ich keine Kontakte wegen einer Neuauflage anknüpfen. Vertröstung ja – aktive Kommunikation nein! Dabei werden Schulbuchautoren händeringend gesucht. Ähnliche Erfahrungen gab es mit dem HECKNERS und WOLF VERLAG nach der Übernahme durch BILDUNG EINS, meinen jetzigen Verleger. Dessen Schulbuchbereich wandert nun ins „Bildungshaus“.

All dies bewog meinen Sohn Uwe, der mit mir gemeinsam das vergriffene Sachbuch „Schwierige Schüler – schwierige Lehrer? Neue Wege des Konfliktmanagements im Schulalltag“ verfasste, in dieser anonymen Welt kein Buch mehr schreiben zu wollen. Aber tüchtige Schulbuchautoren braucht das Land – auch mit Blick auf die PISA-Studien.

Zurück zum Ferninstitut meines Vaters und den sich zuspitzenden finanziellen Sorgen. Es ist schlecht, Rechnungen ungeöffnet wegzulegen und von wundersamen Visionen zu träumen. Dennoch musste unsere Familie nie hungern.

Es gab keine Räumungsklagen, keinen am Mobiliar klebenden Kuckuck. Mein Vater als Lebenskünstler und Stehaufmännchen zog gerade noch rechtzeitig den Kopf aus der Schlinge. Er war der Igel, nicht der Hase. Finanzielle Unsicherheit und beidseitige Seitensprünge machten die Ehe meiner Eltern zur Hölle. Dabei liebte mein Vater meine Mutter zeitlebens, während sich bei ihr Hassgefühle eruptionsartig entluden. Von diesen Hasstiraden blieben wir Kinder nicht verschont. Wir sollten für Mutti Partei ergreifen und Vati bei Familienfestlichkeiten aussperren. Zu Elkes und Uwes Taufe und Konfirmation lud ich abwechselnd ein.

Vati stellte seine Lehrbriefe selbst her. Er besaß eine Maschine, Modell „ROTOPRINT“, die mithilfe von Wachsmatrizen Tausende preisgünstiger Vervielfältigungen in flottem Tempo produzierte. Jedes mit der Schreibmaschine eingegebene Schriftzeichen durchlöcherte die Wachsmatrize als Druckträger. Hielt ich eine beschriftete Matrize gegen das Licht, so war der Text anhand jedes ausgestochenen Zeichenabdrucks gut lesbar – ebenso die mithilfe von Kohlepapier entstandene Kopie nach Beschriftung. Im Anschluss an den Vervielfältigungsprozess waren die Druckträger mit saugfähigem Papier von den schwarzen Farbresten zu säubern. Danach wanderten sie in die mitgelieferten Kartonagen. Auf dem Deckel musste die genaue Produktbezeichnung stehen – unerlässlich für rasches Wiederfinden.

Der Schwachpunkt lag darin, dass eine Korrektur bei der Texterfassung und danach nur ganz bescheiden möglich war. Es ließen sich nur einzelne Buchstaben und gleich lange Wörter mit dem lilafarbenen Korrekturlack ausbessern.

Bei Ergänzungen und Aktualisierungen ging dies nicht. Jede größere Korrektur machte es notwendig, eine neue, ziemlich teure Matrize zu beschriften. Schlich sich erst einmal der Fehlerteufel beim Tippen auf der mechanischen Schreibmaschine ein, so wuchs die Nervosität. Die Patzer mehrten sich. Also wieder eine frische Matrize und danach nochmals eine usw. Bei solchen Pannen half ich im Büro öfters aus.

Es war beschlossene Sache, dass ich dieses Ferninstitut später weiterführen würde. Eigentlich lief damals der Fernunterricht nicht schlecht. Erst mit dem Siegeszug des Internets und der Gründung zahlreicher Business-Schulen wurde es zusehends schwieriger, sich als Fernakademie mit Printerzeugnissen zu behaupten. Die zahlreichen ganzseitigen großen Werbekampagnen konkurrierender Ferninstitute sind verschwunden, mag sich dieser Markt aktuell auch wieder beleben. Die online-Angebote haben diesen Markt empfindlich getroffen und ausgedünnt. Mein Vater, mit über 80 Jahren durch einen schweren Schlaganfall ans Bett gefesselt, bekam davon kaum etwas mit.

Gut, dass sich Vati in Westberlin bereits zweigleisig orientierte und in der Privaten Handelsschule Müller in Würzburg als Wirtschaftslehrer eingestellt wurde und eine wichtige Gelderwerbsquelle fand. So konnte er in seinen studierten Fächern unterrichten und den Lebensunterhalt seiner großen Familie sichern. Vatis große Liebe gehörte aber zeitlebens seinem Ferninstitut. Er tat alles, um seinen stolzen Segelschiff-Dreimaster in Würzburg wieder flott zu machen. Letztlich misslang dies trotz großen Einsatzes und zeitlebens nicht endender Leidenschaft.

Ein Aprilscherz mit beinahe fatalen Folgen

Mir fällt dazu eine kleine Geschichte ein, die um ein Haar tragisch endete. Ich wollte mir einen originellen Aprilscherz ausdenken: Mein Vater hatte im westfälischen Rheda bei Gütersloh, dort wo der BERTELSMANN-Konzern seinen Hauptfirmensitz hat, eine Partnerin. Sie war zuständig für den Vertrieb der in Würzburg hergestellten Lehrbriefe und schrieb meinem Vater öfters Briefe. Ich fing einen ab und öffnete den Umschlag vorsichtig, um ihn nochmals benutzen zu können. Frau Pulsfort schrieb ihre Mitteilungen auf einem eher seltenen Schreibmaschinenfabrikat. Ein solches Gerät stand auch im Bürohaus Sammetinger, Vatis Geschäftspartner und mein Sponsor für Wettschreiben. So war es kein Kunststück, einen Brief aus Rheda auf einem solchen Schreibmaschinentyp nachzuahmen. Absender war diesmal Herr Pulsfort. Ich fing den Postboten ab und bat ihn, den irrtümlich in der Handelsschule eingeworfenen Brief Dr. Jaenicke auszuhändigen. Mein gefälschtes Schreiben lautete in etwa so:

 

 
 

Sehr geehrter Herr Dr. Jaenicke,

meine Frau ist schwer gestürzt, sodass sie sich um den Vertrieb der Lehrbriefe vorerst nicht kümmern kann. Ich selbst bin beruflich dermaßen eingespannt, dass es unmöglich ist, für meine Frau einzuspringen. Sorgen Sie doch bitte selbst für Ersatz. Am besten, Sie schicken Ihre Tochter zu uns, oder Sie kommen selbst nach Rheda. Es ist dringend!

Mit freundlichem Gruß

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Beim Mittagessen erzählte Vati, dass Schlimmes passiert sei: „Frau Pulsfort hat sich beim Sturz verletzt. Ich kann selbst nicht nach Rheda fahren wegen des Schulunterrichts und anderer wichtiger Termine. Du kannst ja leider auch nicht einspringen, weil deine Lehramtsprüfung ansteht. Aber ich habe eine brauchbare Lösung gefunden. Direktor Müller ist so nett, seine Sekretärin auszuleihen. Sie packt gerade ihre Sachen, um noch heute nach Rheda zu reisen.“

Erschrocken rief ich: „April – April! Der weiß nicht, was er will!“ Vati tobte vor Wut, sonst kaum seine Art. Er machte Anstalten, mich zu versohlen. Aber blitzschnell kam ihm die rettende Idee: „Ach was! Ich schicke jetzt Herrn Müller in den April. Er sollte dies dann auch mit seiner Sekretärin so machen. So verliert niemand sein Gesicht. Aber es ist höchste Eile geboten.“ All dies funktionierte in letzter Minute. Aber ich war gewarnt und für alle Zeiten belehrt. Meine Lust war vergangen, jemals noch eine Person in den April zu schicken.

Die Biografie als unerfüllter väterlicher Wunsch

Mein Vater wollte als beinahe 80-Jähriger selbst eine Autobiografie schreiben. Er kontaktierte uns und sammelte Materialien. Ich denke, sein schwerer Schlaganfall, der ihn bis zum Tod völlig hilflos an das Pflegeheimbett kettete, hinderte ihn daran, den Plan umzusetzen. Damit schloss sich auch das letzte Zeitfenster für unsere Versöhnung. Vielleicht hat mich sein Vorhaben inspiriert, dies bei genug Reife und Erfahrung selbst zu tun. Meine Sachbücher stufe ich als Übungsbecken zum Freischwimmen ein auf dem Weg zu einer guten Sprache im Bereich der Belletristik mit dem Ziel, künftig Firmenbiografien zu verfassen.

4.


Abenteuer am Meer


Ein seltenes Naturschauspiel an der Ostsee

Meine Eltern fuhren mit uns am Wochenende öfters an den nahe liegenden Ostseehafen Warnemünde zum Baden und in den Sommerferien für einige Wochen an die Ostsee. Es gab dort schöne Heilbäder wie Graal-Müritz, Ahrenshoop und Wustrow. Wir wohnten dort in einem schönen Hotel nahe dem Strand. Als wir erneut unsere Ferien im Ostseebad Ahrenshoop verbrachten, war eine Sturmflut angesagt. Mutti verbot uns eingedenk der Gefahr, dass die sich auftürmenden Wellenberge ungehorsame Kinder in den Abgrund ziehen und verschlingen würden, das Hotel zu verlassen und nach draußen zu gehen. Ich lief trotzdem weg – kaum sechs Jahre alt. Da ich recht gut schwimmen konnte, wollte ich selbst erleben, was sich da auf dem Meer zusammenbraute.

Ich lief zum verlassenen Strand und wurde Zeuge eines bemerkenswerten Naturschauspiels, wie es sich nach Aussagen ansässiger Fischer nur ein- oder zweimal binnen hundert Jahren ereignet. Auf einer Strecke von weniger als einem Kilometer kreuzten sich allem Anschein nach die Windrichtungen, sodass sich gurgelnde Strudel bildeten. Mit jeder Riesenwelle wurden Schlick und braune Algen an den Strand geworfen und seltsamerweise auch viele Bernsteine, die es sonst hier kaum gab.

Jetzt präsentierte das Meer seine sonst verborgenen Schätze und rückte freigiebig eine ansehnliche Anzahl heraus, darunter auch größere Bernsteine. Es kam darauf an, sobald die letzte Welle weg und die nächste noch nicht da war, blitzschnell nach einem Bernstein zu greifen. Da ich wie gewohnt mein Täschchen bei mir hatte, um Seesterne und Muscheln einzusammeln, konnte ich die Bernsteine gut unterbringen. So nutzte ich die kurze Zeitspanne zwischen zwei Wellenbrechern und bekam eine Menge wunderschöner Bernsteine zusammen, darunter einige mit eingelassenen Insekten. Fatal wäre es gewesen, habgierig zu sein und gleich nach zwei Bernsteinen zu greifen. Zu viel Gier ist schädlich, wie das oft hemmungslose Treiben an der Aktienbörse warnend zeigt.

Das Naturereignis währte nur mehrere Minuten. Ich denke, nach einer knappen halben Stunde war alles vorbei. Der Sturm wurde zwar stärker. Aber es gab keine sich aus zwei Richtungen vereinigenden und Strudel bildenden Wellen mehr, die diese Massen von Algen und Schlick von unten nach oben zum Strand wirbelten. Ich hatte so viele Bernsteine beisammen, dass meine Mutter für alle Töchter und sich selbst eine schöne Bernsteinkette anfertigen ließ. Trotz der Gefahr fühlte ich mich gut und spürte, Partnerin des Meeres zu sein.

Mutti erzählte, der Juwelier hätte sie betrogen und behauptet, die meisten Steine wären beim Durchbohren für die Kette in winzige Teile zerbrochen. Absolut unglaubwürdig – eine Lüge. Meine Kette besitze ich noch und trage sie, an das Abenteuer denkend, gern. Am nächsten Morgen suchten viele Badegäste das Ufer nach Bernsteinen ab, hatte doch das Meer nachts den Großteil des Strandes überflutet, sich im Morgengrauen aber zurückgezogen.

Das Meer hatte am Abend zuvor seine Schätze großzügig vor mir ausgebreitet und mir freundlicherweise etwas davon abgegeben, war danach aber nie mehr spendabel.

Gefährliche Bekanntschaft mit Strudeln

Mit den gurgelnden, einen Sog bildenden und in die Tiefe ziehenden Strudeln in der Ostsee machte ich als junge Frau unliebsame Bekanntschaft. Ich lief trotz Orkanwarnung auf eine Mole in Heiligenhafen – nicht zu verwechseln mit Heiligendamm, wo gerade das in Insolvenz geratene Fünf-Sterne-Luxushotel für Schlagzeilen sorgt. Ich ging die Mole entlang, um die tosenden, Gischt spritzenden Wellenbrecher aus nächster Nähe zu beobachten. Meine Lieblingsballade „Der Taucher“ von Friedrich Schiller mag meinen Abenteuerdrang und meine Neugierde angeregt haben. Noch heute kenne ich den Inhalt genau, durfte ich doch die beiden ersten Strophen bei einer Schulaufführung aufsagen:

„Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp,

zu tauchen in diesem Schlund?

Einen goldnen Becher werf’ ich hinab.

Verschlungen schon hat ihn der schwarze Mund.

Wer mir den Becher kann wieder zeigen.

Er mag ihn behalten, er ist sein eigen.“

Der König spricht es und wirft von der Höh’

der Klippe, die schroff und steil

hinausdrängt in die unendliche See,

den Becher in der Charybde Geheul.

„Wer ist der Beherzte, ich frage wieder,

zu tauchen in diese Tiefe nieder?“

Der Sturm packte mich und schleuderte mich zwischen Felsen und Strudel. Ich hatte selbst als geübte und durchtrainierte Rettungsschwimmerin großes Glück, dort allein herauszukommen. Immer, wenn sich eine große Welle näherte, versuchte ich, mich vom Felsgestein kraftvoll wie bei einer Wende im Schwimmbad abzustoßen. Nach einigen erfolglosen Versuchen klappte es. Meine zahlreichen Hautabschürfungen eiterten noch mehrere Wochen lang. Sonst aber trug ich keine ernsthaften Verletzungen als Bestrafung für meinen Leichtsinn davon.

Eine Ostsee-Sandbank – kein sicherer Warteplatz für Nichtschwimmer

Ich erinnere mich an ein anderes Ostsee-Erlebnis einige Monate vor dem Bernsteinabenteuer, als ich gerade anfing, mich schwimmend über Wasser zu halten. Wir waren wieder in Warnemünde, und meine älteste Schwester Renate, eine ausgezeichnete Schwimmerin, ging mit mir bis zur ersten Sandbank. Hier war das Wasser ganz flach: „Warte dort auf mich. Ich schwimme noch ein bisschen raus und bin bald wieder bei dir. Da du noch nicht richtig schwimmen kannst, darfst du die Sandbank nicht verlassen. Versprichst du mir das?“ Ich wartete eine Weile und merkte mit wachsender Angst, dass das Wasser plötzlich schnell anstieg. Von Renate weit und breit keine Spur!

Als mir das Wasser fast bis zum Hals kroch, blieb mir nichts anderes übrig, als selbst zum Ufer zurückzuschwimmen; denn stehen konnte ich nirgends mehr. Ich gelangte schwimmend ans rettende Ufer und war stolz, es geschafft zu haben.

Wenig später kam Renate zurück – aufgelöst, zitternd und bibbernd vor Angst und Schuldgefühlen. Sie dachte, ich sei ertrunken, weil sie auf der Sandbank selbst nicht mehr stehen konnte. Ich weiß noch, wie sie mich – befreit von der Zentnerlast der Schuld – glückselig in ihre Arme schloss, mich herzte und liebkoste. Einfach nur, weil ich da war – unversehrt und quicklebendig. Solch wohltuende Liebkosungen waren für mich ein neues, als einmalig empfundenes Erlebnis.

Renate bat mich, von alledem Mutti nichts zu erzählen. Ich versprach es und hielt schon eingedenk der Streicheleinheiten gern mein Wort. Künftig brauchte ich niemanden mehr, der beim Baden auf mich aufpasste. Ich konnte, noch keine sechs Jahre alt, gut schwimmen, verspürte keine Angst und liebte den Wellengang. Je höher die Wellen, umso größer der Spaß und das Gefühl von Freiheit. Ich schwamm in der Folgezeit so gern und ausdauernd, dass ich frühzeitig das Frei- und Fahrtenschwimmerabzeichen ablegte und später den Rettungsschwimmerausweis erwarb. So durfte ich als Lehrerin rechtlich mit Schülern zum Schwimmen gehen.

Im Gegensatz zu den Bergen, die mir fremd blieben und denen ich wenig abgewinne, faszinierte mich das Meer zeitlebens und verleitete mich zu leichtsinnigen Abenteuern. So auch in den USA, als ich mich im Rahmen des vom TENNIS MAGAZIN gewonnenen Hauptpreises ungewollt in ein Haifischgebiet abtreiben ließ. Welch’ Glück, von den gierigen Raubfischen nicht entdeckt zu werden und unversehrt ans rettende Ufer zu gelangen – einige Kilometer vom Startplatz entfernt. Je höher die Wellen, umso lieber schwamm ich und spürte Seelenverwandtschaft mit einer Meeresjungfrau.

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