Heinz Wetzel: Wo die Bäume im Wasser stehen

23,98
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Ein Roman von Profit und Umwelt, 
Vergangenheit und Zukunft, Liebe und Tod
 
Anna will in Kanada für ihre wissenschaftliche Arbeit über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg mehr erfahren. Doch die junge Deutsche verliebt sich in David, einen Kanadier. Von ihm erfährt sie die Geschichte von Berczy, der bei seiner Geburt Albert Ulrich Moll hieß und Ende des 18. Jahrhunderts deutsche  Einwanderer nach Kanada führte. Anna will das Unrecht englischer Kolonisatoren erkennen, das er und seine Siedler ertragen mussten und sieht darin eine frühe Parallele zu der Behandlung des peruanischen Indios und Torontoer Studenten José: Beide gelten den Behörden nur als Unruhestifter. 
 
José ist nicht nur Student, sondern er gehört auch einer Gruppe Indios an, die das Torontoer Verbindungsbüro einer Ölfirma angreifen, weil die Ölförderung den CO2-Ausstoß vergrößert und vielleicht einen Indianerstamm im kanadischen Fördergebiet schon mit Krankheiten überzogen hat. José fühlt sich solidarisch, weil auch er aus einem Ölfördergebiet – am Amazonas – kommt. Schließlich wird er von der kanadischen Polizei verhaftet. Das Drama nimmt seinen Lauf ...
 

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Der Autor: Heinz Wetzel wurde in Ziesar (Brandenburg) geboren. Im Alter von 14 Jahren kam er in das Internat der Francke'schen Stiftungen nach Halle (Saale), mit 16 floh er aus der damaligen DDR nach West-Berlin. Nach Studium und Heirat zog er mit seiner jungen Familie erst nach Frankreich, dann in die USA und schließlich nach Kanada.
 
Seit den siebziger Jahren ist er Professor an der University of Toronto. In Deutschland wurde er durch zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen und durch seinen ersten Roman Auf nach Hellas! bekannt. 
 
Heinz Wetzel: Wo die Bäume im Wasser stehen 333 S., € 23,98, ISBN 978-3-86992-215-7
 
Titelbild zum Download (300 dpi)
 
Leseprobe:
 

1    Die Ankunft

 

Als das Flugzeug aufsetzt, spürt sie den Stoß, spürt auch, dass es sich noch einmal ein wenig hebt, ganz kurz nur, um dann endgültig zu landen.

                    ‚Endlich’, denkt sie.

 Stunden zuvor hatte sie aus dem Fenster gesehen. Der Flug war unruhig geworden, und tief unten erkannte sie eine Küste, es war Labrador. Sie saß hinter der rechten Tragfläche und sah, wie sie vibrierte. Nach einer Weile war alles wieder ruhig, und sie waren lange über eine weite, graugrüne Landschaft geflogen, in der sie nur allmählich Seen und Wasserläufe ausmachen konnte, aber sie sah kein Zeichen menschlicher Besiedlung.

Dann tauchte hier und da der hellere Strich einer Straße auf, und nach und nach verbanden sich die Striche wie zu einem Netz. Später waren Wälder zu erkennen, und Seen glänzten herauf. Manchmal sah sie den Sankt-Lorenz-Strom, wie er sich breit durch das Bild wand. Nur langsam wurde er schmaler.

An seinem Ufer suchte sie Städte, die sie aus dem Atlas kannte: Baie Comeau lag am nördlichen Ufer, da, wo ihr Fenster war; auch Trois Pistoles lag dort. Bedeutete der Name vielleicht, dass Menschen sich in dieser Einöde bekriegt hatten, womöglich bis aufs Blut? Und warum? Rivière-du-Loup lag am Südufer des Stroms, sie konnte es nicht sehen. Hatten die französischen Siedler an diesem Fluss Wölfe gesehen oder sich sogar davor gefürchtet? Namen hatten sie schon immer fasziniert. Deshalb wusste sie auch, dass die Mikmaq-Indianer in Rimouski Elchen begegnet waren, vielen Elchen. Hier fühlte sie sich wohler als bei den Erinnerungen an Hass und Angst, welche die früheren Ortsnamen ihr suggeriert hatten. Von Nordwesten her mündete ein breiter Fluss in den Sankt Lorenz, der Saguenay.

Zwischen Québec City und Trois-Rivières sah sie jetzt öfter Straßen, erkannte auch kleinere Orte. Doch bevor sie nach Montréal kamen, hatte der Pilot den Sankt-Lorenz-Strom verlassen und Kurs auf Ottawa genommen. Als sie darüber hinweggeflogen waren, hatte er sich noch einmal gemeldet und seine Passagiere auf the nation's capital aufmerksam gemacht. Mit Mühe konnte sie die Parlamentsgebäude sehen, die in einer Flussbiegung standen. Aber dann glaubte sie sogar, geflößte Baumstämme zu erkennen, die den Fluss vom Ufer bis zur Mitte bedeckten.

Sie verließen ihre Flughöhe, und allmählich begann der Landeanflug auf Toronto. An den Straßen standen vereinzelt Farmen, und dann leuchtete von Westen her ein großer See herauf: Lake Simcoe. Als das Flugzeug eine steile Kurve zog, kam es ihr vor, als stehe das Wasser senkrecht vor ihrem Fenster. Sie dachte über den Namen nach und glaubte, dass der See nach einem der früheren Lieutenant-Governors von Ontario benannt war. Dann richtete sich das Flugzeug wieder auf, und bald darauf sah sie, wie sich Toronto in das Land hineinfraß. Die vielen Siedlungen ähnelten einander mit ihren kurvigen Straßen und ihren Sackgassen, die den Bewohnern ein heimeliges Gefühl geben sollten. Dennoch wirkte alles wie am Reißbrett entworfen. Indem sie die Landemanöver verfolgte, tauchte an den Köpfen der Mitreisenden vorbei durch das linke Fenster das Stadtinnere auf mit dem Fernsehturm und den Hochhäusern um ihn herum. Aus der Entfernung wirkte er wie eine Glucke mit ihren Kücken, nur dass es mechanischer aussah. Über allem lag eine gelblich-graue Schicht: die Luftverschmutzung. Hinter der Stadt leuchtete der Ontariosee.

Lange fuhren sie über das Rollfeld. Alles kam ihr weit und leer vor. Die langen, hellen Korridore im Terminal, die Laufbänder, das war wie überall. Als sie in einer der vielen Schlangen stand, die sich vor den Einreiseschaltern gebildet hatten, sah sie die Passbeamten, die mit ihren schusssicheren Westen und den Pistolen am Gurt an Pulten saßen und Computer-Terminals vor sich hatten. Über jedem war ein Metallraster, in dem das Bild einer flatternden rot-weißen Ahornfahne leuchtete. Anna mochte die Fahne, denn sie kam ihr friedfertig vor. Welche Nation hatte schon ein Blatt als nationales Symbol? Es schien ihr aber, dass die vielen Fahnen aussehen sollten als ob sie im Wind flatterten, wo sie sich doch nur in dem Gleichmaß bewegten, das der Takt der schnell wechselnden Stromstöße vorgab.

‚Schade’, dachte sie, indem sie das mit dem Anflug eines Lächelns betrachtete. Sympathisch fand sie dagegen das Völkergemisch um sich herum. Die Leute redeten in den unterschiedlichsten Sprachen und hielten Pässe in vielen Farben in den Händen. Ihren Rucksack, den sie zwischen den Beinen abgestellt hatte, schob Anna langsam weiter nach vorn.

Als sie an der Reihe war, fragte der Beamte, ein junger Mann, der aussah, als ob er aus der Karibik war, wie lange sie in Kanada bleiben wolle, und als sie antwortete, bis zu einem Jahr, fragte er, wie sie sich denn die viele Zeit vertreiben wolle.

„Material für meine Doktorarbeit sammelnˮ, sagte sie.

Da wollte er wissen, ob sie dafür von einer kanadischen Stelle Geld bekomme. Sie verneinte, und er schien beruhigt. Aber dann fragte er doch noch, was für eine Doktorarbeit das werden soll. Darauf ließ sich nicht so kurz antworten, wie er es sich in seiner Naivität vielleicht dachte. Es sei eine Arbeit über die Soldaten, die der englische König gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts bei den deutschen Landesfürsten gemietet hatte, damit sie gegen die amerikanischen Aufständischen kämpften, sagte sie, genauer über diejenigen von ihnen, die dann in Kanada geblieben und hier sesshaft geworden seien. Als er sie nachsichtig anlächelte, glaubte sie schon, er wolle sie fragen, wen denn so alte Geschichten noch interessieren. Dann hätte er einiges zu hören gekriegt, denn dass deutsche Fürsten ihre Landeskinder verschacherten, machte sie immer noch wütend. Er wünschte ihr aber nur good luck und wandte sich den nächsten Passagieren zu.

 

2          Little Italy

Anna nahm nach langem Warten ihren Koffer vom Band und gab den Zettel, den sie im Flugzeug ausgefüllt und auf den der junge Mann noch irgendein Zeichen gemalt hatte, einem Zöllner, der am Ausgang aus dem Gepäckraum auf einem hohen Hocker thronte. Als sie durch die automatische Schiebetür ging, standen viele Leute in der Halle, die jemanden abholen wollten. Manche hielten Namensschilder hoch. Anna wurde nicht erwartet.

Am Ausgang nahm sie ein Taxi. Sie wollte nach Little Italy, in den Stadtteil, wo die meisten Einwanderer wohnten. Die Frage des Fahrers nach der Adresse konnte sie kaum verstehen; offenbar stammte er nicht aus Kanada. Sie überlegte noch, woher der Mann sein könne, als er seinerseits fragte, woher sie denn käme.

„From Germanyˮ, antwortete sie.

Das reichte ihm als Freibrief zum Erzählen. Er stamme aus der Türkei, aus der Nähe von Izmir, sagte er. Nein, den Kanadiern sei es egal, wer ihnen die Arbeit macht; diskriminiert habe er sich nie gefühlt. Alle seine Kinder hätten ein College besucht, eines sogar die Universität. Die Jüngste sei noch in der Ausbildung. Alle Tore stünden ihnen offen, anders als ihm. Der Einwanderergeneration bleibe nur die einfache Arbeit; das sei überall so. Na ja, gemacht werden müsse die schließlich auch, und die Kinder könnten dann auf den Schultern der Eltern stehen. Er sagte das mit sichtbarem Stolz.

„Sind Sie zum ersten Mal in Toronto?ˮ, wollte er wissen, als er von der vielspurigen Autobahn ab- und in eine Straße einbog, die geradeaus nach Süden lief.

Sie bejahte und erzählte ihm, dass sie einige Zeit bleiben würde. Rechts und links waren Geschäfte, es gab auch Bäume; sie kamen an einem Busbahnhof und bald darauf an einem riesigen Friedhof vorbei. Oft mussten sie warten, weil die Ampeln rot waren.

‚Es sieht aus wie überall’, dachte sie etwas enttäuscht. Einmal merkte sie, dass der Fahrer sie im Rückspiegel beobachtete, wie sie sich alles ansah.

„Das ist die Yonge Streetˮ, sagte er, „es soll die längste Straße der Welt sein. Warum die Leute das glauben, weiß ich nicht; wahrscheinlich, weil auch in Kanada alles größer, schneller und schöner sein muss als anderswo. Die meisten Kanadier sind eben noch nicht in der Gegend von Izmir gewesen.ˮ Seine Augen und Zähne blitzten in einem gutmütigen Lachen.

Die Yonge Street beginne am Ontariosee und ende hoch oben in der kanadischen Arktis, wahrscheinlich in einem Iglu. Anna war unsicher, ob sie das glauben sollte oder ob er es sich gerade ausgedacht hatte. Einmal sei der damalige Premierminister Trudeau hingeflogen, aber die Eskimos hätten nur ihr Inuktitut gesprochen, nichts verstanden und gar nicht gewusst, welch hohen Besuch sie bei sich hatten. Das sei ihnen auch gleichgültig gewesen, denn gastfreundlich waren sie sowieso.

Die Yonge Street teile Toronto in eine östliche und eine westliche Hälfte, sagte er, sie werde ja sehen. Dann ging es um einige Ecken. Die Straßen waren noch immer gerade, fast wie mit dem Lineal gezogen, allmählich wurden sie aber schmaler, und die Häuser wurden niedriger; es waren Wohnhäuser.

Die kleine Wohnung, die Anna schon von Hannover aus gemietet hatte, lag im oberen Stockwerk in einem der vielen engen Häuser, die schon aus dem neunzehnten Jahrhundert stammten.

Die Wirtin begrüßte sie; ihre beiden Mädchen versteckten sich hinter ihrer Mutter und sahen neugierig auf die Fremde, die nun bei ihnen wohnen würde. Anna schleppte ihren Koffer die enge Treppe hinauf.

Oben packte sie aus. Zuerst die Manuskripte. Sie traute ihrem Laptop nicht ganz; man brauchte nur eine falsche Taste zu drücken, oder ein Virus schlich sich über das Internet ein, und schon war alles hin. Deshalb hatte sie das Wichtige schon zu Haus ausgedruckt, auch die Bibliographie und die Liste mit den Archiven und Bibliotheken, in denen sie Dokumente für ihre Arbeit zu finden hoffte. Die legte sie, zusammen mit dem Futteral, in dem sie ihre Flöte hatte, vorsichtig in ein Schrankfach im Wohnzimmer.

Das kleine Badezimmer enthielt nur eine Dusche und ein Waschbecken. Hierher brachte sie, was sie für ihre Hygiene brauchte. Im Schlafzimmer war noch ein Schrank. Mit ihrer Kleidung war Anna großzügiger und warf die meisten Sachen, wie sie aus dem Koffer kamen, einfach in die Fächer. Zum Glück gab es aber auch ein paar Bügel. Die kleinen Dornen in den Hosenaufhängern waren praktisch, denn nun konnten die Hosen nicht herausrutschen und zur Erde fallen. Sie fand sie aber auch enttäuschend, nicht weil die kleinen Druckstellen unten in den Hosenbeinen manchmal sichtbar blieben wie winzige Löcher, sondern weil sie diese Bügel aus Deutschland kannte. Da reist man nun über Land und Meer, und dann findet man immer noch die gleichen chinesischen Plastikbügel. Als alles an seinem Platz war, hatte sie Hunger. Sie ging in das kleine Einkaufszentrum in der Nähe, von dem ihre Wirtin gesprochen hatte. Mit den Kanadiern würde sie schon zurechtkommen; sie war ja nicht zum ersten Mal im Land.

Anna war ein Einzelkind, und damals zum Abitur hatten ihre Eltern ihr eine Reise nach Nordamerika geschenkt. Vater und Mutter waren aber mitgefahren. Seitdem hatte sie davon geträumt, noch einmal allein herzukommen, und nachdem sie sich bei ihrem Studium der Amerikanistik in Göttingen lange genug mit dem Land beschäftigt hatte, dachte sie, die Zeit sei nun gekommen. Diesmal kam sie mit einer festen Absicht: Sie wollte ergründen, wie aus deutschen Rekruten kanadische Bauern geworden waren, deren Kinder, vor allem dann die Enkel, sich hier so sehr zu Haus fühlten, dass sie Deutschland als ein seltsames, fernes Land ansahen. Sie hatte gelesen, dass sie schon die deutsche Sprache, die ihre Eltern ihnen beigebracht hatten, nicht mochten und dass auch der Akzent, der sich niemals aus dem Englisch ihrer Eltern oder Großeltern verlor, ihnen peinlich war.

Anna fand das Einkaufszentrum, fand auch ein Selbstbedienungsrestaurant, und nachdem sie sich Reis, Salat und Hühnerfleisch, dazu eine Banane und eine Tüte Milch auf ihr Tablett gelegt hatte, setzte sie sich an einen freien Tisch. Es schmeckte wie in Deutschland, denn wie die Kleiderbügel war auch das Restaurant chinesisch. Zwar war es nicht so blitzblank, nicht ganz so gepflegt wie zu Haus, aber das fand sie gut, denn dadurch wirkte alles etwas gelassener. Später sah sie sich die Reihe der kleinen Läden an und kaufte noch ein paar Lebensmittel. Dann war sie müde. In Hannover war Mitternacht längst vorbei.

Am andern Morgen war sie schon kurz nach vier wieder wach: Zu Haus waren sie schon lange auf den Beinen; so gesehen hatte sie länger geschlafen als sonst. Der Tag gestern war aber auch lang gewesen: Erst der Abschied von den Eltern, die sie nach Langenhagen zum Flughafen gebracht und nicht aufgehört hatten, ihr Ratschläge zu geben, bis sie durch die Kontrolle gegangen war, und dann kam das Umsteigen in Amsterdam, wo Air Canada sie von ihrem reservierten Platz vertrieben hatte, weil irgendeine Hockeymannschaft zusammensitzen wollte. Dann der lange Flug und schließlich die Fahrt in die Stadt.

Sie blieb noch eine Weile liegen, sah sich im Zimmer um und fühlte sich einsam. Sie war schon oft in fremden Ländern aufgewacht: In Europa war sie erst mit den Eltern und dann als Studentin mit Freunden herumgereist. Sie war auch in Südafrika und in der Türkei gewesen, wenn auch nicht gerade in Izmir. In Nordamerika waren ihre Eltern mit ihr über New York und Washington nach Los Angeles geflogen, und dann hatten sie sich einen Wohnwagen gemietet und waren damit die Westküste hinaufgefahren, bis nach British Columbia. Sie erinnerte sich noch gut an die hohen Berge und die Wälder mit den großen Redwood-Bäumen. Links von ihnen war immer die Küste gewesen, und jeden Abend waren sie auf einen anderen Zeltplatz gefahren. Die Größe der Plätze, die ihnen zugewiesen wurden, und die weiten Abstände zu den Nachbarn hatten sie beeindruckt. Keinen campfire talk der Rangers, bei denen es meistens um Entwicklungen in der Natur ging, die in Jahrmillionen stattgefunden hatten, ließ sie aus. Es war, als hätte sie Platz zum Atmen gekriegt – räumlich und zeitlich. An die Niagarafälle kamen sie bei dieser Reise nicht; Vater hatte gemeint, man werde das nachholen.

Bloß das nicht! Zum ersten Mal war sie allein unterwegs. Zwar kam sie sich einsam und verloren vor, aber sie fühlte sich frei. Draußen klatschten hin und wieder Autoreifen auf den Asphalt, und es war auch zu hören, wie jemand im Haus in einer ihr fremden Sprache redete. Hier ging alles seinen Gang, von dem sie erst noch ausgeschlossen war. Diesmal würde sie jedenfalls nicht durch die Weltgeschichte bummeln, um dies und jenes zu bestaunen, sie würde auch nicht mit Kumpanen am nächtlichen Lagerfeuer hocken, sondern sich so auf ihre Arbeit konzentrieren, dass sie ihr Fremdsein vergessen würde. Sie wollte auch beruflich vorwärtskommen, aber davon hatte sie noch keine genauen Vorstellungen.

Jedenfalls wollte sie nicht zurück. Es wäre auch nicht gegangen. Ihre Eltern hatten eine Art Museum aus ihrem Zimmer in Hannover gemacht, in dem die Plüschtiere, die Poster und die Ikea-Möbel an ihrem Platz blieben. Es war schon lange nicht mehr ihr Zimmer; allmählich war es ihr fremd geworden. Auch ihre Studentenbude in Göttingen hatte sie aufgegeben, zugleich mit dem Leben zwischen Seminarräumen, Bibliotheken und Discos. Eigentlich war sie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst verpflichtet, ohne den sie nicht hergekommen wäre. Ihr Vorhaben musste das Auswahlkomitee hinreichend beeindruckt haben, denn es hatte ihrem Antrag auf ein Jahresstipendium zugestimmt, was sie etwas gewundert hatte. Sie würde zwar nach ihrer Rückkehr Rechenschaft geben müssen, aber das war noch ein ganzes Jahr hin.

Mark, ihr Freund in Göttingen, hatte Betriebswirtschaft studiert und vor einem Monat seine erste – vorläufig noch befristete – Stelle gefunden. Als sie ihm nach ihrer Magisterprüfung vor anderthalb Jahren gesagt hatte, dass sie promovieren und erst noch ein Jahr nach Kanada gehen wolle, war er zuerst traurig, dann aufsässig geworden, denn er hatte sich ein geregeltes Eheleben in Niedersachsen ausgemalt. Aber ihre Abneigung gegen ein Dasein, das sich am Gängigen orientierte, war gewachsen, als sie daran dachte, dass sie schon als Referendarin jeden Morgen in die Schule gehen und auf dem Nachhauseweg vielleicht noch einkaufen und das Kind, das Mark sich wünschte, aus der Krippe abholen müsse. Sie war neugierig. Sie wollte hinaus, wollte die Welt kennenlernen, zuerst Kanada. Davon hatte sie Mark lange nichts gesagt; wahrscheinlich hätte er sie doch nicht verstanden. Nun wollte er ihrer Hybris, wie er es nannte, nicht nachgeben, und so war es eben zum Bruch gekommen.

Sie sah an die Decke und wusste noch immer nicht, ob sie in dieser fremden Stadt vor allem frei oder eher einsam sein würde. Dann dachte sie, dass beides zugleich möglich sein müsse, und als sie zu der Ansicht kam, dass diese Frage nun sowieso müßig sei, stand sie auf. Sie glaubte, dass das vor ihr liegende Jahr wie ein weit offenes Land sei, in dem sie ihren Weg suchen wollte. In Deutschland wäre er eher vorgezeichnet gewesen.

Sie schob den dunkelbraunen Fenstervorhang zurück. Im schwachen Dämmerschein erkannte sie die gerade Straße, die Häuser, die mit ihren Vorgärten dicht nebeneinander standen; schräg gegenüber stand eine Tanne, die höher war als das Haus dahinter. Sie versuchte eine Weile, das Alter der zwei- und dreistöckigen Häuser zu schätzen, deren Giebel meist der Straße zugewandt waren, und die kleine, oft verwilderte Vorgärten hatten, und war froh, als das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos die Fassaden matt erleuchtete und ihr dieses Vorhaben etwas erleichterte.

Die meisten Häuser stammten wirklich aus dem neunzehnten Jahrhundert; sie waren viktorianisch. Hölzerne Treppen führten auf überdachte Vorbauten mit tiefblau, grasgrün oder rostrot bemalten Säulen. Hüfthohe Balustraden, die von einer Säule zur nächsten reichten, ließen die Vorbauten aussehen wie Veranden. In der Morgendämmerung erkannte sie, dass die Eingangstüren von hier aus in die Häuser führten. Am Himmel stand noch immer ein Stern.

Als die Straße allmählich von einem fahlen Morgenlicht erleuchtet und die Spitze des Giebels drüben auf der anderen Seite in das erste Sonnenlicht getaucht wurde, erkannte sie die beiden aus breiten Brettern gezimmerten und mit bequemen Lehnen versehenen Sessel auf der Veranda gegenüber. Sie sah auch, dass die Giebelfassade des Hauses drüben sich aus zwei Teilen zusammensetzte, die farblich voneinander unterschieden waren. Die rechte Hälfte bestand aus unbemalten roten Ziegelsteinen, die linke war mit hellgrauer Farbe übertüncht. Eine gerade Trennungslinie lief vom Höhepunkt des Giebeldreiecks abwärts. Es war ein Zweifamilienhaus. Der linke Nachbar hatte auch den niedrigen Zaun, der seinen Vorgarten vom Gehsteig trennte, mit leuchtender, hellgrauer Farbe gestrichen, und der Garten selbst war längst nicht so verwildert wie der rechts davon mit seinen zum Teil schon vertrockneten Büschen.

Ob sich darin wohl nationale Unterschiede äußerten, ob der linke Nachbar vielleicht ein Skandinavier und der rechte ein Italiener war? Anna trat vom Fenster zurück. Aus ihren gestrigen Einkäufen machte sie sich ein Frühstück. Eine Kaffeemaschine war da, auch ein Fernseher, aber den schaltete sie nicht ein. Sie wollte schnell aus dem Haus; sie wollte wissen, wo sie war. Um halb sieben ging sie die Straße entlang. An der rechten Straßenseite waren in einer ununterbrochenen Reihe mittelgroße und kleinere Autos geparkt. Sie bog links ab und kam in eine Straße, die der ihren glich: Auch hier waren die Häuser meistens zwei- oder dreistöckig, immer waren diese Vorbauten davor, auf die ein paar hölzerne Stufen hinaufführten, und alle standen sie in einer langen Reihe hinter ihren jeweiligen Vorgärten. Oft waren die Außenwände in einem freundlichen Blau gestrichen, während die zahlreichen viktorianischen Ornamentierungen weiß leuchteten. Manchmal war das obere Stockwerk nachträglich mit einem Erker oder einem Balkon in imprägniertem Naturholz versehen. Einmal entdeckte sie in einem der oberen Erkerfenster, das schon von den ersten Sonnenstrahlen beschienen wurde, farbiges Glas. Das leuchtete rot und grün.

Immer hatte sie geglaubt, dass in Nordamerika alles größer sei als in Europa. Aber die Straßen, die Häuser und die Autos hier in Little Italy waren unscheinbar und klein. Dafür gab es die Sterilität, die sie an Hannover und Göttingen oft beklagt hatte, kaum. Als sie sich in Deutschland informiert und Little Italy auf einem Stadtplan von Toronto entdeckt hatte, hatte sie gleich hier wohnen wollen, nicht nur wegen der niedrigen Mietpreise, sondern weil sie sich von dem Namen etwas Pittoreskes versprochen hatte, das sie nun in der Wirklichkeit wiederfand. Daran konnte sie sich erstmal halten.

Sie kam auf eine größere Straße, wo schon mehr Verkehr war. Kleine Läden waren aneinandergereiht. Wenn hier geöffnet war, konnte man elektrische Apparate kaufen, sich die Haare schneiden lassen, Hochzeitskleidung mieten, man konnte mexikanisch, griechisch oder italienisch essen oder Kinderspielzeug kaufen. Sie sah sich die Schaufenster an und entnahm den Öffnungszeiten, dass man es hier etwas langsamer angehen ließ als in Hannover. Alles sah aus, als ob die Leute sich an einen Rest Menschlichkeit klammerten, den sie nicht aufgeben wollten.

Nachdem sie eine breite Allee überquert hatte, kam sie ins Universitätsviertel. Sie ging hindurch. Links ragte einmal aus grünen Rasenflächen ein hohes, hellgraues Gebäude mit schmalen Fenstern auf. Es sah aus wie eine moderne Festung. Sie erkannte es, denn sie hatte es im Internet gesehen: die Bibliothek. Dort würde sie arbeiten. Dann kam rechts eine weite Rasenfläche, an deren hinterem Ende zwischen langgestreckten Gebäuden ein Turm stand, dessen Zinnen wie Krallen in den Himmel ragten, und links befand sich die historisierende Fassade eines College, dem eine Kapelle mit großen, neugotischen Fenstern angegliedert war.

Anna ging weiter. Blumen blühten üppig, Backstein wechselte mit Kalkstein, Neorenaissance mit Neugotischem, bis sie an den Queen's Park kam, einen ausgedehnten Park mit alten Bäumen. Nach Süden hin wurde er durch das Parlament von Ontario begrenzt. Lange saß sie auf einer Bank, dicht bei der kolossalen Reiterstatue irgendeines englischen Königs und musste lachen, weil jemand dem bronzenen, gleichmäßig patinierten Pferd den Hodensack rosa bepinselt hatte.

Als sie auf der anderen Seite aus dem Park trat, waren die Universitätsgebäude noch immer nicht zu Ende: Colleges, Wohnheime und kleinere Bibliotheken waren dort, und dann ging sie zwischen zwanzig- und dreißigstöckigen Wohnhäusern hin, von denen manche noch im Bau waren. Inzwischen waren viele Menschen unterwegs, die Sonne hatte Kraft bekommen, der Berufsverkehr zugenommen, die Autos schoben sich langsamer voran. Sie kam wieder an die Yonge Street. Weil sie wissen wollte, wie der Straßenname, den sie auf einem Schild las, wirklich ausgesprochen wurde – sie wollte sich nicht auf den türkischen Taxifahrer verlassen –, fragte sie zwei Mädchen. Die kicherten, aber dann sagten sie es ihr. Es klang wie das englische Wort für jung. Als sie auf der Straße in südlicher Richtung hinunterging, erkannte sie an ihrem Ende eine Stadtautobahn; dahinter vermutete sie den Ontariosee.

 

Wieder reihten sich Geschäfte aneinander. Sie ging an Boutiquen, Restaurants, Nachtclubs und Pfandleihen vorbei; manchmal waren die Häuser klein und halb verfallen und die Auslagen verstaubt. Dann wieder neue, große Gebäude.

Am Mittag kam sie müde vom Laufen in ihre Wohnung zurück. Unterwegs ging sie noch in einen Corner Store, in dem es Getränke, Blumen und Zeitungen gab. Als sie die Stufen zu ihrer Veranda hinaufstieg, saß dort in einem hölzernen Lehnstuhl, der dem von gegenüber glich, nur dass er mit bequemen Kissen versehen war, ein alter Mann, den Krückstock zwischen den Knien, die wachen Augen auf sie gerichtet. Sie sei wohl die neue Mieterin from the old country.

„Ja, aus Deutschland.ˮ

Das kenne er etwas. Früher habe er mal ein paar Jahre in Bremen gearbeitet, im Straßenbau. Das sei aber schon so lange her, dass damals noch gar nicht an sie zu denken gewesen sei. Überall in der Stadt habe es noch Ruinen gegeben, aber jetzt sei wahrscheinlich alles ganz neu. Was sie denn hier in Kanada wolle.

„Material für meine Doktorarbeit sammeln, Dokumente, die noch viel älter sind als Sie.ˮ Er freute sich über ihre Schlagfertigkeit.

„Sowas soll es geben? Und ausgerechnet hier?ˮ

„Bestimmt. Hier hat es Deutsche gegeben, die schon lange vor Ihnen angekommen sind.ˮ

„Möglich ist das, Deutsche trifft man ja überall. Aber seit es ihnen zu Haus so gut geht, kommen bloß noch Touristen. Die Italiener oder Griechen sind da zuverlässiger. Es ist wie immer: Erst kommen die einen, die sich durchschlagen müssen, und später die andern, die es leichter haben und sich für die Arbeit ihrer Väter nur interessieren, wenn sie was Kluges darüber sagen oder schreiben wollen. Nimm mir das man nicht übel; das ist bei den Portugiesen und Italienern nicht anders als bei den Deutschen.ˮ Er sprach in einem holprigen Englisch; der iberische Akzent war deutlich.

„Sind Sie denn Portugiese? Ich habe gedacht, dieser Stadtteil heißt Little Italy.ˮ

„Heißt er auch. Meine Tochter hat einen Italiener geheiratet, der arbeitet auf dem Bau, wie ich früher. Jetzt kann sie außer Portugiesisch und Englisch noch fließend Italienisch. Bloß ich bin immer noch Portugiese.ˮ

„Dann habe ich ja mein bisschen Ferien-Italienisch umsonst aufpoliert.ˮ

„Na, wenn du mit mir sprechen willst, hilft es nicht viel; wir müssen wohl oder übel versuchen, uns auf Englisch zu verständigen. Das wird schon gehen. Aber mein Schwiegersohn freut sich bestimmt über ein paar Worte Italienisch, meine Tochter auch. Auf Wiedersehenˮ, rief er ihr noch auf Deutsch nach, als sie ins Haus ging.

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