Riesenslalom

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Kann man sein Glück in einem Preisausschreiben gewinnen? Gloria, Studentin aus Hamburg, ist misstrauisch. Doch ihr Hauptgewinn führt sie für eine Woche in ein Fünfsternehotel in die Alpen. Skikurs inklusive. Kaum angekommen trifft sie an einem Wasserfall den Mann ihres Lebens, der sich später als ihr persönlicher Skilehrer Markus vorstellt. Doch Markus ist ganz und gar nicht der, für den er sich ausgibt. Durch einen Zufall findet Gloria sein Geheimnis heraus.
Gloria riss die Augen auf und starrte ihn an. Wie meinte er das? Und was sollte das? So einfach war das Leben nicht. Das Leben bestand doch aus dem, was man nicht bekam, was man nicht war, nicht haben konnte. Und nun saß da ein dunkelhaariger Schneekönig und schlug ihr vor, alle Bedenken, all die mühsam erworbenen Kompromisse mit der Realität einfach zu vergessen und in ein Märchen-Dasein abzutauchen?

 

Die Autorin: Marina Kramper, geboren 1957, arbeitet als freiberufliche Journalistin für Reise, Auto und Sport (u.a. stern.de, Brigitte Balance etc.). Außerdem gibt sie Sportunterricht an einer Hamburger Waldorf-Sonderschule für verhaltensauffällige Kinder. Sie lebt mit Mann, Hund und zwei erwachsenen Söhnen in Hamburg. 

 

 

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Leseprobe:

Kapitel 1

 

Preisausschreiben

 

„Sie haben den ersten Preis in unserem Preisausschreiben gewonnen. Die Redaktion der ‚Exklusiv‘ sendet ‚Herzlichen Glückwunsch‘!“

Gloria starrte skeptisch auf den Bildschirm ihres Computers.

„Jeden Tag werde ich mit diesem Kram bombardiert. Soviel ‚Glück‘ kann man ja gar nicht haben. Die halten mich für total bescheuert!“ Souverän drückte sie auf die Löschtaste. „Obwohl“ – Gloria war heute in großzügiger Stimmung – „eigentlich könnte das Schicksal auch mal bei mir vorbeispazieren. Ich würde schon gerne mal etwas gewinnen!“

Ihr Blick glitt durch das Zimmer. Unaufgeräumte Kleidungsstücke warteten auf Fürsorge und lagen verstreut auf dem großen Himmelbett, das den größten Teil ihres Zimmers in der Altbauwohnung einnahm. Das Prunkstück war als Weihnachtsgeschenk ihrer Eltern vor ein paar Jahren in ihren Besitz übergegangen. Es hörte, wie alle Produkte von Ikea, auf einen aberwitzig schwedischen Namen, Gloria nannte es wegen der Matratze aber nur noch „Sultans delight“. Die schweren dunkelblauen Samtvorhänge hatte sie in einem Second Hand Laden gefunden. Sie verwandelten, wenn Gloria sie zuzog, „Sultans delight“ in ihre Traumkugel. Gloria vermutete, die blauen Verdunklungsstoffe seien einst Kinovorhänge gewesen. Sie hatten sicher schon Charlie Chaplin, Buster Keaton und vielleicht Ava Gardner auf der Leinwand gesehen und kannten sich deshalb mit Traumwelten gut aus.

Der rote Bettüberwurf war an ein paar Stellen von der Sonne ausgeblichen, den müsste sie früher oder später mal ersetzen.

Ein großer Schreibtisch, an dem sie einen großen Teil ihres Tages verbrachte, hatte mit all seinen wuchtigen Ausmaßen wahrscheinlich schon zwei Weltkriege überstanden. Gloria hatte ihn in einem alten Krankenhaus gefunden. Es schien, als hätte er dort auf sie gewartet. Das Krankenhaus wurde vor Jahren in eine Altenwohnanlage umgewandelt. Gloria war damals über den Zaun in den leer stehenden Bau geklettert, um zu fotografieren. Einsam und dekorativ prunkte der Tisch mitten in einem leeren Zimmer. Nur die Spuren an den Wänden rings herum zeugten von einem früheren Leben. Gloria hatte ihn für wenig Geld von der Krankenhausverwaltung kaufen können. Das war einfach, der Abtransport weniger. Er geriet zum Happening: Da niemand ein passendes Auto auftreiben konnte, hatte sie sich Umzugsbretter auf Rollen besorgt, die mit Montageband unter dem Schreibtisch geklebt wurden. Wie ein Schiff auf dem Trockenen schoben Gloria und ein paar Freunde das „Ding“ quer durch die Straßen.

Gloria erinnerte sich gut an das Bier, das danach geflossen war. Das Foto des einsamen Schreibtisches in dem leeren Chefarztzimmer hing seitdem in einem barocken Rahmen an Glorias taubenblau gestrichenen Wänden. Das Zimmer gehörte zu einer Zweieinhalb-Zimmer Wohnung im Hamburger Karolinenviertel, wo Gloria mit ihrer Freundin Louisa in chaotischer und trauter Zweisamkeit lebte.

Der bleigraue Hamburger Himmel versprach nahende Regengüsse. Gloria zündete eine Kerze an, die in einem hohen Glas auf dem Schreibtisch stand und kaute versonnen an ihrem Bleistift. „Hat ‚Gewinnen‘ etwas mit Schicksal zu tun?“ Sie grübelte – war sich nicht sicher. „Woher kam das Glück überhaupt? Gibt es irgendwo eine Sphäre des Glücks, und man musste nur den Schlüssel dazu finden? „Genau genommen“, dachte Gloria, „sind es drei Begriffe: Glück, Schicksal und Gewinnen. Und jetzt, “ Gloria wendete ihren Blick vom Bildschirm ab und sah aus dem Fenster, „stellt sich die Frage: Hängen die Drei zusammen oder haben sie ganz und gar nichts miteinander zu tun?“ Gloria wusste es nicht. „Ich glaube, niemand weiß das“, murmelte sie vor sich hin. „Allerdings hat Novalis, der große Romantiker, irgendwo gesagt: 'Glück ist Talent für das Schicksal'.“

Als läge ihr Schicksal dort ausgebreitet, blickte sie hinunter auf die Straße. Tatsächlich lag dort nur eine Kreuzung. Sie mochte das Karolinenviertel. Benannt war es nach der Karolinen-Straße, die die Altbauhäuser vom Messegelände trennte. Im Süden schloss sich das Heiligengeistfeld an und in Richtung Westen wurde das Viertel durch den ehemaligen Schlachthof begrenzt. Schon vor Jahren waren in die alten Läden und Kneipen Szeneklamottenläden, Restaurants, Bioläden, Imbisse und ein Kiosk eingezogen. Gloria und Louisa kannten die meisten Menschen, die dort wohnten oder arbeiteten. Oder, die dort wohnten und gar nicht arbeiteten. Den türkischen Kioskbesitzer, der bis 2 Uhr nachts geöffnet hatte und die Kassiererin vom Supermarkt, die alle Kunden mit der gleichen Strenge behandelte. Und Jens, der DJ vom „Gegenüber“, der einmal im Monat seine „Tage“ kriegte und in seinem Club so melancholische Mucke auflegte, dass man dazu nur Wodka bestellen und leise mitjammern konnte.

Das Karoviertel lag zentral am Rande der eigentlichen City und war doch ein großes und ein bisschen dreckiges Dorf. Fünf Minuten mit dem Fahrrad zur Uni und zwei Minuten über das Heiligengeistfeld nach St. Pauli, mitten ins Nachtleben. Wenn der Hamburger Jahrmarkt, der Dom, aufgebaut war, schleppten Gloria und Louisa abends Currywurst oder gebrannte Mandeln in ihre Bude oder fotografierten sich gegenseitig kopfüber in der Achterbahn oder mit angstgeweiteten Augen in der Geisterbahn.

Zwei U-Bahnlinien kreuzten sich hier, um sie mit dem Rest der Stadt zu verbinden. Nur am Samstag, da konnte man praktisch nicht vor die Tür treten. Auf der Straße wimmelte es von Touristen und anderen Kaufwilligen, aber die Läden mussten ja auch irgendwie existieren. Das konnte Gloria, da war sie ganz großzügig, verstehen.

Eigentlich hatte sie sich gut eingerichtet mit ihrer Freundin, ihrer Wohnung, ihrem Viertel, ihrem Leben. Aber in letzter Zeit fühlte Gloria sich oft leer, unausgefüllt. Als fehle ihr etwas.

Ihre Freundin Louisa hatte sie den Sommer über schmählich im Stich gelassen. Seit sie in der Mongolei auf einem Feldforschungsprojekt für ihre Abschlussarbeit an der Universität unterwegs war, ertappte sich Gloria von Zeit zu Zeit bei Selbstgesprächen. „Kein gutes Zeichen, du wirst langsam senil“, sagte ihre Schwester, der sie dummerweise die neue Angewohnheit am Telefon gestand hatte.

Gloria hatte sich fest vorgenommen, die „Louisa freie Zeit“ für die eigene Abschlussarbeit zu nutzen. Sie studierte Kunstgeschichte und ihre Examensarbeit schrieb sie zum Thema „Betende Hände, starke Schultern – Vom Kult des Körpers im Gebet. Stiftsfiguren im Naumburger Dom“. Jeder, dem sie von ihrer Arbeit erzählte, schüttelte verständnislos den Kopf. „Was ist denn an denen so besonders“, fragten die Gesprächspartner rat- und taktlos. „Ihre Lebendigkeit“, erwiderte Gloria dann begeistert. Damit war das Gespräch dann in den meisten Fällen beendet. Nur Louisa verstand sie. Und sie verstand auch Glorias Faszination für das Mittelalter. Sogar Glorias Thema beeindruckte sie.

Louisa kam wie Gloria aus dem Hamburger Westen. Der Westen bestand aus den Elbvororten. Die hießen so, weil sie sich, entlang der Elbe, westwärts Richtung Elbmündung zogen. Doch nicht nur die Elblage machte sie zu einer speziellen Spielwiese, sie lagen auch geografisch höher als der Rest der Hafenstadt. Die Endmoränen aus der letzten Eiszeit hatten sich hier ausgeruht und verpassten dem Hamburger Westen Hügel, Hänge und Schluchten. Die sahen immerhin aus, wie in einem mittleren Mittelgebirge und brachten so manchen Touristen zum Staunen und so manchen Radfahrer zum Schwitzen. Doch nicht nur die Landschaftsformation unterschied die Elbvororte vom Rest der Stadt. Auch die Bevölkerung war speziell. In den Elbvororten tummelten sich Einfamilienhäuser, die in der Sprache der Makler „Villen“ genannt wurden. Und deren Bewohner unterschieden sich ebenfalls mächtig vom Rest der Stadtbewohner. Ob das nun gut oder schlecht war, hing vom Standpunkt des Betrachters ab.

Die Nächte, die Gloria am Rechner verbringen musste, waren nicht das, was sie störte. Sie tat es sogar gern. Die Figuren am Naumburger Dom erschienen ihr oft lebendiger oder realer, als das Leben unten auf der Straße. War das, was in ihrem Viertel tagtäglich ablief, das wahre Leben? Und noch wichtiger: War das ihr wahres Leben? Bisher war es so gewesen. Lebendig, vielleicht ein bisschen inszeniert. In Szene gesetzt für Touristen und Kids aus den Vororten, die zum Einkaufen, Gucken und Piercen herkamen. Inszeniert wie die, von Gloria heiß geliebten Mittelaltermärkte, wo die Händler schöne und teure Dinge verkauften. Gloria grübelte, welche Art von Lebendigkeit denn wohl ihre Lebendigkeit wäre.

Sicher, den größten Teil ihres Lebens war sie gut gelaunt, ein bisschen frech und, was ihre auffälligste Eigenschaft war, vollkommen versponnen. Sie war nicht eigentlich weltfremd, sie lebte nur auf einem eigenen Planeten. Und ein großer Kontinent auf ihrem Planeten war das Mittelalter. Nicht das Mittelalter aus den Vorlesungen mit Grabfeldforschung und Mangelernährung, sondern das romantische Mittelalter gespiegelt in der Fantasie einer Kunstgeschichtsstudentin mit langen, leicht gewellten braunen Haaren und blauen Augen. Die hellen Augen hatte Gloria von ihrer Mutter geerbt. Die war früher mal blond gewesen. Das war dann aber auch schon fast alles, was an ihre Mutter erinnerte. Gloria sah aus wie Gloria, und ihre Augen gaben ihrem Gesicht etwas Besonderes.

Sie ging in die Küche, um sich eine Flasche Mineralwasser aus dem plastikverschweißten Sixpack, der neben dem Herd stand, zu pulen. Beim Bücken stieß sie sich die Hüfte an der Kante des Küchentisches. Jaulend massierte sie ihre Seite: „Überhaupt dieser Küchentisch!“ Vor ihr stand ein hölzernes Unikum mit einer glänzenden Oberfläche. Der Küchentisch war überaus würdevoll. Unzählige Essenseinladungen und Trinkgelage hatte er überlebt und stammte ursprünglich aus der Erbschaft von Louisas Tante Hedwig. Die restliche Kücheneinrichtung setzte sich zusammen aus Stühlen, Schränken und Regalen von Antik über die Fifties bis in die Postmoderne. Goldgerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien aus Glorias Kamera zierten die Wände. Auf ihnen sah man Landschaften, Porträts von Freunden und Szenen aus der Großstadt, wie sie eben in Großstädten zu finden sind.

Über dem Herd hing ein Hirschgeweih. Louisas Onkel, der Gatte von Tante Hedwig, hatte den Vierzehn-Ender persönlich zur Strecke gebracht. Louisas und ihr gemeinsames Geschirr bestand aus einer Mischung aus dem goldgeflammtem Aussteuergeschirr ihrer Großmütter und dem nüchternen Charme von Ikeas unvergleichlichen Sonderangeboten.

Gloria schlich mit ihrer eineinhalb Liter Flasche zurück in ihr Zimmer. Auf dem Bildschirm tauchte schon wieder eine Mail auf, die ihr einen Gewinn versprach. „Die Lifestyle und Sportredaktion der ‚Exklusiv‘ hat soeben die Preisträger des großen Wintersportpreisausschreibens ermittelt. Nur ein Teilnehmer konnte alle Fragen vollständig und richtig beantworten. Herzlichen Glückwunsch, das waren Sie! Wir werden Sie noch heute telefonisch benachrichtigen.“

Gloria betätigte ein weiteres Mal die Löschtaste und blickte wieder aus dem Fenster. Genau genommen starrte sie ins Leere. Nur ihre Gedanken tanzten Tango. „Eigentlich hab ich noch nie was gewonnen. Fehlt mir das Glück oder habe ich einfach nur Pech? Wenn ich es positiv sehe, könnte ich annehmen, das Schicksal hat mich für was anderes vorgesehen. Gibt es einen Masterplan, in dem jeder bekommt, was er verdient? Das wäre ein schöner Gedanke.“

Viele Kulturen kennen die Idee des Karmas. Gloria gefiel das. Das Karma ist so etwas wie die Wirkung der Ursache aller Taten, die man in früheren Leben und auch in diesem Erdendasein anhäuft. Und das Rad des Karmas konnte man nur stoppen, wenn man seine Fehler erkannte und sein Verhalten änderte.

Man konnte sicher nicht alles, was einem passierte, auf Karma zurückführen, dachte Gloria. Karma, wie sie es verstand, konnte aufgelöst werden, aber es konnte auch passieren. Einfach so. Anders konnte sie sich Naturkatastrophen, Überschwemmungen, Kriege und Erdbeben nicht erklären.

Sie riss sich von diesen Gedanken los, stemmte sich mit einem Ruck vom Schreibtisch hoch und wanderte, vor sich hin trällernd, zurück in die Küche, um sich Tee zu kochen. Das Handy schreckte sie auf. Tom, ihr Nachbar, hatte ihr kürzlich das „Star Wars Thema“ als Klingelzeichen aufgespielt und sie schaute sich noch jedes Mal verschreckt um, wenn jemand sie anrief. Genau genommen war sie noch gar nicht auf der Welt gewesen, als sich Luke Skywalker und Han Solo als Anführer der Rebellen mit der „Macht“ umgaben, aber schließlich war sie ja auch noch nicht geboren, als die Gebrüder Grimm Schneewittchen aus der Taufe hoben oder als Jane Austen ihre tugendhafte Heldin Elisabeth Bennet den arroganten Mister Darcy anschmachten ließ.

„Hallo, mein Name ist Karin Meier, ich bin die Assistentin der Lifestyle Redaktion der Exklusiv. Ich wurde gebeten, mit ihnen Kontakt aufzunehmen.“ „Hören sie“, erwiderte Gloria, „wenn ich eine alte Frau wäre, hätte ich jetzt wahrscheinlich meinen dritten Herzinfarkt bei diesem Bombardement. Falls sie mir auf diese Art und Weise ein Abo verkaufen wollen,“ – Gloria hatte sich gerade Milch in ihren Tee geschüttet – „muss ich sie leider enttäuschen, ich bin nicht interessiert. Aber nehmen sie es nicht persönlich, ich habe gar nichts gegen das Magazin. Wenn ich beim Friseur oder Zahnarzt vorbeischaue, blätter´ ich es ganz gerne durch. Ich will nur nichts kaufen und nichts bezahlen, wenn sie verstehen.“ Fast konnte Gloria es hören, wie die Dame am anderen Ende ihre Augen verdrehte. „Wie sollte das nur werden, wenn wir alle Video-Telefone mit Blickkontakt haben? Trainieren wir uns bis dahin unsere Gefühlsausbrüche ab?“

Während Gloria mit einer Hand den Hörer ans Ohr presste und mit der Anderen die Milch zurück in die Kühlschranktür quälte, blitzte ein Bild in ihrem Gedächtnis auf.

Natürlich hatte sie an einem Preisausschreiben teilgenommen! Gloria sah sich am Schreibtisch sitzen und Bilder von ihrer Kamera auf den Rechner kopieren. Dabei war sie auf den Sportseiten der „Exklusiv“ hängen geblieben. Ein Skifahrer im hautengen Rennanzug hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Ohne Sinn und Sachverstand löste sie die Fragen mit der Sicherheit eines Zufallsgenerators. Warum sie dann tatsächlich auf „Senden“ gedrückt hatte, blieb das Geheimnis des Momentes.

„Wir möchten ihnen wirklich kein Abo verkaufen. Sie haben in unserem Preisausschreiben ‚Geschichte des Skilaufens‘ den ersten Preis gewonnen. Wie sie ja vielleicht dem Text entnommen haben, wurde das Preisausschreiben gemeinsam von unserer Lifestyle- und Sportredaktion ausgeschrieben. Ein achttägiger Skiurlaub in einem Fünf-Sterne-Luxushotel inklusive Skibekleidung und einem vom Fremdenverkehrsverband gesponserten Skikurs sind in dem attraktiven Package inkludiert. Außerdem trainiert in dem Ort die deutsche Skinationalmannschaft. Es wird sie sicherlich freuen, dass sie Markus Landner persönlich kennen lernen werden.“

„Wer sagt mir denn, dass alles stimmt, was sie da sagen, und ich nicht bei der Radiosendung ‚Verarsche am Telefon‘ gelandet bin?“

„Nun“, so die pikiert klingende Stimme, „wir pflegen unsere Leser im Großen und Ganzen nicht zu verarschen, aber sie bekommen auf jeden Fall in den nächsten Tagen Post. Dort finden sie meine Angaben schriftlich bestätigt. Das sollte Ihre Bedenken zerstreuen. Sie haben doch an diesem Preisausschreiben teilgenommen?“

„Oh ja, ja, natürlich. Das hab ich und bitte, nichts für ungut, ich wollte nicht unhöflich klingen.“

Sie hatte tatsächlich bei einem Preisausschreiben gewonnen! Den ersten Preis sogar! Acht Tage Hochgebirgsaufenthalt erster Klasse mit Skikurs incl. Skibekleidung und einem Treffen mit Deutschlands Medaillenhoffnung Nummer Eins im Riesenslalom. „Do legst di nieder“ entfuhr es ihr, während sie die Nummer wählte, um ihre Mutter anzurufen.

 

Kapitel 2

 

Abflug

 

Die Reiseunterlagen kamen mit der Post. „Wie altmodisch“, dachte sie, als sie den dicken DIN A4 Umschlag aus dem Postkasten ruckelte.

„Im Lotto gewonnen?“ Tom aus der Wohnung nebenan schob gerade sein Mountainbike in den Hausflur, wo er es mit drei martialischen Schlössern an das Treppengeländer kettete. Tom und Gloria waren Nachbarn und Freunde. Ihre Freundschaft bestand aus gelegentlicher Hilfe sowie gemeinsamen „Weinproben“, bei denen sie Tante Hedwigs Rotweinpokale klirren ließen. An besonders inspirierten Abenden spielten sie sich beim Bechern des Weines gegenseitig Szenen aus ihren Lieblingsfilmen vor. Für besondere schauspielerische Leistungen oder den Mut zur absoluten Blödheit gab es dann Extra-Punkte.

Gloria liebte Filme. Wenn ein Film es in die Liga ihrer Lieblingsfilme geschafft hatte, dann konnte sie ihn fünf, sechsmal im Jahr anschauen, ohne sich zu langweilen. Ohnehin fühlte sie sich im Kino wie im Inneren eines Tanks voller Träume: Es war dunkel, warm, man hatte etwas zu essen und schwamm in einem Teich voller Bilder, die außerhalb der Realität vor sich hin blühten wie Seerosen.

Tom hätte seinen Teil der Freundschaft gerne ein bisschen anders verstanden. Er war in Gloria verliebt und mit der Sturheit eines Steinbocks hielt er an dieser Tatsache fest. Das Thema „Liebe“ war, zumindest was Gloria betraf, abgefrühstückt. Irgendwann nach einer durchzechten Nacht waren sie weinselig gemeinsam hinter Glorias dunkelblauen Vorhängen verschwunden und erst wieder aufgetaucht, als die Sonne im Westen Hamburgs in der Elbe versank. Für Gloria war es ein nur ein großer Spaß gewesen, Tom hingegen wäre lieber heute als morgen wieder mit ihr zwischen den Laken des Himmelbettes verschwunden. Gloria hatte ihm damals allerdings ziemlich unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er für sie ein ganz besonderer Freund sei. Und er solle nicht böse sein, aber ihre Gefühle für ihn seien wie eine warme, laue Sommerbrise, nur der Sturm in ihrem Herzen, der stelle sich nicht ein.

Was immer diese kryptischen Worte bedeuten sollten, Tom nahm es als ein deutliches „nein“, fügte sich in sein ungeliebtes Schicksal und schmachtete Gloria hin und wieder aus den fernen Gestaden seiner Nachbarwohnung an. „Du blockierst dich damit für alle anderen Frauen auf der Welt“, hatte Louisa ihm schon oft vorgerechnet. Aber vielleicht war Tom zu faul oder zu einfach zu bequem. „Dann verehre ich sie eben aus der Ferne“, vertraute er Louisa an. Die behielt diese blöde These lieber für sich. Sie wusste, dass Gloria nicht glücklich darüber war, aus der Ferne angeschmachtet zu werden.

„Tom, auch wenn ich es selbst kaum glauben kann. Ich habe in einem Preisausschreiben gewonnen und fahre umsonst und gratis acht Tage in die Berge.“

„Na, dann lass Dir bloß nicht jeden Abend eine Kaffeemaschine und eine Heizdecke aufschwatzen.“

„Das scheint etwas anderes zu sein. Klingt richtig seriös. Wurde vom Internetportal einer großen Zeitung und einem Tourismusbüro ausgeschrieben. Aber stimmt schon, ich bin auch misstrauisch. Kennst du jemanden, der schon mal was gewonnen hat? Ich nicht.“

Gloria stieg die Treppe hinauf in den dritten Stock. „Ach, übrigens Tom, leihst Du mir deinen Daunenparka? Den Schwarzen mit dem Fell um die Kapuze? Hier steht, dass wir das deutsche Skiteam beim Training auf dem Gletscher besuchen. Ich bekomme dort Skistunden.“

„Du und Skifahren?“, Tom blickte so ungläubig, als hätte Gloria ihm berichtet, dass sie einen Kurs in Spitzenklöppelei belegen will.

„Was ist daran so ungewöhnlich? Ich war als Kind ein paar Mal mit meinen Eltern und Louisa in den Bergen und weiß immerhin, wie man einen Berg runterkommt“, schnappte sie zurück und öffnete die Wohnungstür.

Gloria schmiss ihre Tasche auf den Boden, öffnete den schweren Umschlag und breitete die gesammelten Werke vor Tom auf dem Küchentisch aus. Fotos von schneeweißen Bergen unter blauem Himmel warben für Reinfeld, den Skiort mit dem einzigartigen Gletscherskigebiet. „Von Anfang Oktober bis Mitte Juni könne man hier die Bretteln sausen lassen“, las sie und staunte. Es war Mitte September und noch konnte sie sich nicht vorstellen, dass der kurze Sommer bald wieder in die graue Jahreszeit übergehen würde. Die Reise war für Ende Oktober geplant. Gloria überschlug im Kopf die kommenden Wochen. „Das passt. Ab dem 15. Oktober hab ich Semesterferien. Und dann ab in die Berge... ‚Edelweiß‘ heißt das Hotel, geht’s noch dicker?“

Nachdem sie den Prospekt dreimal gemeinsam studiert hatten, und Tom sich wieder in seine eigenen Gemächer verzogen hatte, rief Gloria ihre Mutter an, um die Einzelheiten von ihrem Gewinn zu erzählen und sich für die Reisewoche im Oktober ordnungsgemäß abzumelden.

Auf eine Vermisstenmeldung bei „XY Ungelöst“ konnte sie verzichten, und ihre Mutter brachte so was fertig. „Nein, Mama, das scheint kein Schwindelunternehmen zu sein. Es ist eine, na ja, seriöse Zeitung. Die ‚Exklusiv‘, die liest du doch auch immer beim Friseur. Siehst du! Und nein, ich verliebe mich nicht in meinen Skilehrer. Und ja, ich kenne die Toni Sailer Filme, und auch das Skilehrersyndrom ist mir bekannt.“

Tom war gerade über den gemeinsamen Balkon in die Küche zurück geklettert und betrachtete erneut die ausgebreiteten Panoramafotos. Unter dem Arm trug er ein schwarzes Bündel, aus dem an einigen Stellen Pelzbesatz herausguckte. „Du Mama! Ich muss jetzt Schluss machen. Ja, ich hab Besuch. Tom, ja der Tom. Nein, nicht mein Tom. Der Tom von nebenan gehört sich ganz und gar selbst.“ „Leider!“ murmelte Tom in seinen Dreitagebart und beugte die Nase wieder ganz tief in die Hochglanzprospekte. „ Ja, er gießt die Blumen und holt die Post raus. Du hast ja meine Handynummer. Ruf mich doch einfach in meiner Edelweißsuite an, ich servier dir alle Berg- und Talgeschichten exklusiv – noch bevor sie in der Zeitung stehen.“

Gloria setzte Wasser auf, stellte zwei Becher auf den Tisch und zog den Parka an. „Ich sehe aus wie ein rasiertes Murmeltier mit Restfell“, teilte sie Tom stolz mit. Die Jacke schien extrem warm zu sein, deshalb behielt sie das pelzige Ungetüm gleich an und schlüpfte dazu in ihre schwarzen Moonboots, die sie für 15 Euro in einem Outlet erstanden hatte.

„Perfekt! So hält dich garantiert jeder für eine Einheimische.“ Tom schenkte sich Kaffee ein und betrachtete abwechselnd Gloria und die Fotos. „Scheint ja alles zu stimmen mit deiner Alpenreise. Von Kaffeemaschinen, Heizdecken und Werksbesichtigungen steht hier jedenfalls nichts. Auch nicht im Kleingedruckten. Falls die dich doch wegen unpassender Garderobe oder dem Erschwindeln von Leistungen aus dem Hotel werfen, ruf an. Ich werde vor Gericht für dich bürgen.“

„Danke für Dein Vertrauen in meine Zukunft!“

Es war ja nicht so, dass ihr der Gedanke nicht auch schon im Kopf herumgespukt hätte. Was, wenn sie quasi unwürdig wäre, diese Reise zu gewinnen, wenn es nur jemanden hätte treffen dürfen, der wirklich Ahnung vom Skisport hat? Aber alle Preisausschreiben, die ihr bisher in den Medien begegnet waren, entsprachen eher dem Niveau von Bergtrollen: Was hängt man sich zum Dekorieren an die Wände? A: Bilder oder B: Geschirrtücher. Und für die richtige Lösung bekam man dann 5000 Euro. Da sollten sich diese Sportler nicht so anstellen!

Drei Tage vor Antritt der Reise klingelte Gloria an Toms Wohnungstür.

„Mein Flieger geht Freitagmittag ab Hamburg. Bringst du mich zum Flughafen? Ich zahl Dir den Sprit.“

Tom ließ sich anstandslos und ohne Widerstand zum Chauffeur umfunktionieren.

„Schließlich“ so redete er sich seine unerfüllte Liebe schön, „haben Freunde für so was da zu sein“.

Gloria schleppte die große Reisetasche auf Rollen aus der Abstellkammer und wuchtete sie auf die dunkelrote Bettdecke. Mit dem Packen musste sie sich nicht lange aufhalten. Da ihre Garderobe überwiegend aus Jeans, T-Shirts und Kapuzenpullovern bestand, war die Auswahl nicht allzu groß. Toms Daunenparka würde sie während des Fluges anziehen. Sonst wäre die Tasche voll.

„Schließlich durfte den Preis auch eine Frau gewinnen, die keine Abendgarderobe besitzt.“ Ein bisschen komisch fühlte sich das schon an, aber Jeans-Couture in allen Variationen musste reichen.

Am Freitagmorgen chauffierte Tom sie mit seinem alten Volvo quer durch die Stadt zum Flughafen. „Was sagt man denn in so einem Fall? Hals und Beinbruch? Soll ja hin und wieder vorkommen beim Skifahren.“

„In dem Fall hänge ich noch eine Alpen-Reha hintendran. Ein bisschen ‚Zauberberg‘-Sanatorium auf Kosten der Krankenkasse.“

Sie gab Tom ein Küsschen auf die stoppelige Wange und rollte mit ihrer Tasche Richtung Air-Berlin-Schalter davon.

„Sie reisen alleine?“ Die Bodenstewardess mit dem neckischen Tuch um den Hals betrachtete sie von oben bis unten, als wäre „allein Reisen“ eine ansteckende Krankheit. Oder vielleicht kam ihr das auch nur so vor, denn allzu oft war sie noch nicht alleine gereist. Früher mit Mutter, Vater und Schwester im Auto an die Ostsee oder nach Österreich und später dann, als die Pauschalreisen mit Billigfliegerangeboten den Reisemarkt überschwemmten, mit Mutter, Vater und Schwester nach Andalusien in ein Hotel am Strand. Und natürlich fuhr sie sonst mit Louisa in den Urlaub. Deren Eltern, Omas, Tanten oder Onkel, allesamt sehr vermögend, besaßen zahlreiche Ferienwohnungen oder Häuser an Nord- und Ostsee. Mit den entsprechenden Freunden und dem passenden Wagen waren sie auch schon mal in einem wunderschönen, alten Haus am Gardasee gelandet.

„Kann ich bitte die Bordkarte sehen?" Die Frau an der Sicherheitsschleuse riss Gloria aus den Gedanken. „Gehen sie bitte durch zu Eingang Fünf.“

Obwohl sie eigentlich alles in den Korb geworfen hatte, was nur annähernd nach Metall aussah, piepste Gloria unter der Schranke vor sich hin, wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Arme hoch, Griff in die Achseln und Stiefel aus. Gloria verkniff sich ihre Scherze. Dies war nicht die richtige Zeit für lockere Sprüche über Polizeistaatverhalten. Sie wurde schließlich pünktlich im „Hotel Edelweiß“ erwartet!

Der Flug verlief ruhig. Für alle Fälle und gegen aufdringliche Sitznachbarn hatte sich Gloria „Ohropax“ mit an Bord genommen. Tatsächlich schlief sie ein. Der Flugbegleiter mit dem üppig gegeltem Haar berührte sie sanft an der Schulter. „Wir befinden uns bereits im Anflug auf Innsbruck und landen in zwanzig Minuten. Wenn sie sich bitte wieder anschnallen und die Rückenlehnen senkrecht stellen würden?“

Gloria überlegte, wie oft der Haargel-Stewart diesen Satz wohl schon gesagt hatte. Aber war das nicht überall so? Auch ein Arzt, so nahm sie jedenfalls an, versteckte sich hinter „wie geht’s uns denn“. Gab es überhaupt einen Beruf, der jeden Tag anders war? Wenn ja, dann beschloss sie hier an Bord der Air Berlin Boing 727, dass sie ihn unbedingt und sofort nach ihrer Rückkehr ergreifen wollte. Bergsteiger kam leider nicht in Frage, Gloria hatte Höhenangst. Oder, wie bei Donald Duck, Schlangenbeschwörer? Hauptsache keine tägliche Routine und solange man seinen Urlaub auch gewinnen konnte, war Geld schließlich nicht alles.

Brav wartete sie gemeinsam mit den anderen Passagieren an den Gepäckbändern auf ihre Reisetasche. Die Aufregung kroch ihr langsam den Rücken herauf wie eine Horde Ameisen. Sie war gespannt wie ein Flitzbogen, als sie ihre Tasche in Richtung Ausgang zog. In der Ankunftshalle des Innsbrucker Flughafens stand, wie in ihren Unterlagen angekündigt, ein Mann mit einem laminierten Schild. „Frau Leichsner“ war hier deutlich zu lesen. Nun gab es kein Zurück! Die Sache wurde amtlich. Das Radar des „Hotel Edelweiß“ hatte sie erfasst.

Der Chauffeur griff nach Glorias Reisetasche und dirigierte Frau und Tasche quer durch die Halle in Richtung Ausgang. Ein BMW X5 in silbergrau wartete dort. Auf den

Türen prangte ein großes Edelweiß. Die Tasche verschwand im Kofferraum, und Gloria fand sich auf dem ledernen Rücksitz wieder. „Ich bin im falschen Film“, schoss es ihr durch den Kopf, während der schwere Wagen sich in den Verkehr einfädelte.

Die Landschaft wechselte von Stadt zu Vorstadt. Die Einfamilienhäuser verwandelten sich in Bauernhöfe und am Straßenrand standen mehr Kühe als Autos.

Ihr Chauffeur sah aus wie der frühere Nationaltorwart Oliver Kahn in Uniform. Gloria taufte ihn still auf „Olli“. Olli hielt während der Fahrt angenehmerweise den Mund, sie konnte ihren Gedanken nachhängen.

„So ganz koscher ist es ja nicht, was ich hier abziehe“, dachte sie etwas bange und drückte sich in die Ledersitze, aber jetzt war es wohl eindeutig zu spät, die Notbremse zu ziehen. Sie saß in einem fetten SUV, der Blick durch die Fenster zeigte beeindruckende Bergspitzen und die sahen nicht so aus, als würden sie mit einem Augenzwinkern verschwinden. „Ähh, wie heißt dieser Berg?“ Wahllos deutete sie auf einen der grauen Riesen. Ihr war klar, dass ihre Frage eher eine Übersprungs-handlung war als Wissensdrang. „Woss woas denn I, I bin a Wianer“, antwortete Olli mit soviel wienerrischer Schmiere auf den Stimmbändern, wie es nur ein Wiener hinbekommt. Gloria musste lächeln. Die Bedenken über die erschummelte Reise wurden kleiner.

„Vielen Dank, Sie haben mir wirklich sehr weitergeholfen.“ Olli schüttelte den Kopf. Zur Not konnte sie ja immer noch Hals über Kopf aus dem Hotel verschwinden. Ab in den Linienbus wie das Brautpaar am Ende des Filmes „Die Reifeprüfung“. Gerichtlich belangen würde man sie wohl nicht, schließlich hatte sie nichts unterschrieben. Oder reichte das Anklicken des Kästchens „ich stimme zu“ schon für eine Anklage wegen Betruges und Falschaussage?

Olli riss sie aus ihren Gedanken: „Des is des Fitznertal und doart liegt das ‚Hotel Edelweiß‘, soviel i woaß“. Na schön, der Chauffeur war schon mal ein Scherzkeks, da konnte sie nur hoffen, dass alle anderen auch mit Humor gesegnet waren.

 

 

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