Literatur, die bewegt!
Evelyn Lenz wurde 1953 in Berlin geboren und studierte an der FU Germanistik und Skandinavistik. Heute unterrichtet sie Informatik und Deutsch für Ausländer. Schon früh begann sie, Gedichte, später Kurzgeschichten zu schreiben. Die Inhalte sind überwiegend Erlebnisse in fremden Ländern und Erfahrungen mit Menschen unterschiedlicher Kulturen und ihrem zwischenmenschlichen Umgang miteinander. Mit ‚Suche ins Ungewisse‘ legt sie ihr Romandebüt vor.
Evelyn Lenz: Suche ins Ungewisse, Broschur, € 19,98, ISBN: 978-3-86992-090-0
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Leseprobe:
Ihr Mathematiklehrer hatte nach Ellens Meinung nicht die geringste pädagogische Fähigkeit. Er war bestimmt ein Genie in seinem Fach, aber er verstand es nicht, dieses Wissen so zu präsentieren, dass die Schüler es auch verstanden. So wurde während seines Unterrichts "Galgen" und "Käsekästchen" gespielt oder man unterhielt sich, wieder andere alberten herum. Wenn sie ihn baten, es doch nochmals zu erklären, keiner hätte etwas verstanden außer den beiden Mathegenies, dann fing er mit den gleichen Worten wieder an. Er war keinesfalls unsympathisch. Ein weicher Typ, dunkle Haare und warme braune Augen. Auch seine Stimme war eher zaghaft und nicht sehr kräftig. Er hatte deshalb den Spitznamen "wif" erhalten, der vom englischen Wort "wife" abgeleitet wurde. Viele Lehrer hatten in ihrer Klasse einen Spitznamen bekommen. Er bemühte sich ja, ihnen etwas beizubringen, indem er seine Erklärungen wiederholte. Vielleicht konnte man es wirklich nicht anders ausdrücken. Jedenfalls war man nicht aggressiv gegen ihn, man ließ ihn machen und die Schüler machten eben etwas anderes. Auf dieser Basis lief es ganz gut. Irgendwie klappten die Klassenarbeiten dann doch noch, es gab nur ein- oder zweimal "mangelhaft", das "sehr gut" war ja auch jedes Mal vertreten, natürlich bei den beiden Mathe-Genies, die anderen schafften mittlere Ergebnisse, also blieb doch bei den meisten etwas hängen.
Gott sei Dank hatte Ellen als Tischnachbarn einen der beiden Besten, er spielte mit ihr Käsekästchen und hörte mit einem Ohr zu. Wenn dann etwas Wichtiges kam, unterbrach er das Spiel: "Moment mal, das muss ich eben aufschreiben, das ist wichtig", um danach mit ihr weiterzuspielen. Ellen fand Michael gar nicht arrogant, wie die anderen behaupteten. Vielleicht lag es an seinen hellblonden Haaren, die er in längeren Strähnen glatt nach hinten kämmte, immer wenn sie ihm ins Gesicht fielen, strich er sie mit gespreizten Fingern zurück. Aalglatt fiel manchem dazu ein. Aalglatt hieße kühl, so empfand Ellen ihn nicht. Er war korrekt und selbstbewusst, er sagte eben seine Meinung. Er bemühte sich auch nicht, in seiner Kleidung im Trend zu sein. Da waren sie sich ähnlich. Ellen wäre zwar auch gern modern angezogen gewesen, aber ihre Eltern konnten ihr diese Wünsche aus finanziellen Gründen nicht erfüllen. So kaufte sich Ellen eben weiter geschnittene, billigere Jeans und nähte sie sich selbst ab, damit sie hauteng saßen und somit modern waren.
Michael bot sich an, am Nachmittag mit ihr Mathematik zu üben. Er hatte erkannt, dass ihr aus der Grundschule anscheinend etliche Kenntnisse fehlten, die sie jetzt für die 'höhere' Mathematik benötigte. Das Fehlende wollte er privat mit ihr nachholen.
Ellen war verunsichert, wollte er ihr nur in Mathe helfen oder hatte er noch andere Interessen? Sie sah ihn als netten hilfsbereiten Klassenkameraden an, aber als mehr nicht.
Sie war furchtbar aufgeregt, als er das erste Mal zu ihr nach Hause kam. Ein Problem war natürlich immer, dass es zu einer Zeit sein musste, in der ihr Vater noch auf der Arbeit und ihre Mutter mit Marion, ihrer kleinen Schwester, möglichst unterwegs war, damit Marion nicht alle paar Minuten hereinkam, um zu fragen, was sie da machten. Ellen hatte kein eigenes Zimmer, in das sie sich zum Lernen zurückziehen konnten. Gerade deshalb war sie besonders aufgeregt, da sie wusste, dass sie mit ihm allein sein würde. Ob er diese Situation vielleicht ausnutzen und sie bedrängen würde?
Michael war erstaunt, dass sie kein eigenes Zimmer hatte und sie im Wohnzimmer blieben. Er kam gleich zum Punkt. Gezielt stellte er eine Frage zur Bruchrechnung. Sie hatte tatsächlich keine Ahnung von diesem Thema, das nur ganz kurz in der Grundschule durchgenommen worden war, aber auch von der Mengenlehre war bei ihr nicht viel hängen geblieben. Also erklärte ihr Michael erst einmal die Begriffe, was ein Zähler und Nenner ist. Er konnte es nicht glauben, dass solche wesentlichen Dinge nicht in der Grundschule behandelt worden waren. Es war klar, dass Ellen ohne diese Kenntnisse nicht in der Lage war, mit unbekannten Größen zu rechnen, wenn sie nicht einmal Bruchrechnen mit bekannten Zahlen beherrschte.
Er lobte sie, als sie seine Erklärungen verstand und umzusetzen wusste. "Ich verstehe das nicht. Ich dachte, alle Schulen hätten den gleichen Unterrichtsplan. Du bist gar nicht so dumm, man kann dir eigentlich keinen Vorwurf machen, du musst dich ja total überfordert fühlen, weil dir schon die grundlegenden Dinge in Mathe fehlen. Aber das kriegen wir schon hin", er legte seine Hand auf ihre. Sie entzog sie ihm langsam wieder, ihre Hand wurde unter seiner ganz feucht. Er meinte schüchtern mit einem etwas schiefen Lächeln: "Oh, deine Hand ist ja noch kälter als meine." Auch Ellen rang sich ein eher verunglücktes Lächeln ab, schnell schaute sie auf ihre Armbanduhr, damit er nicht ihre erröteten Wangen sah.
"Ach ja, die Zeit ist schnell vergangen. Ich werde jetzt mal gehen. Wir sehen uns morgen in der Schule. Ich komme gern wieder. Du brauchst nur einen Ton zu sagen." Auch Ellen erhob sich und begleitete ihn zur Tür. Sie vergaß nicht, sich zu bedanken und ihm dabei die Hand auch zum Abschied zu reichen.
Am nächsten Tag hoffte sie inständig, dass er in der Schule kein Wort über ihre Privatnachhilfe sagen würde. Jedoch begrüßte er sie mit einem freundlichen "Hallo" wie immer, zwinkerte ihr aber so unauffällig zu, dass es bestimmt kein anderer gesehen haben konnte.
Als die Mathematikstunde begann, versuchte sie diesmal zuzuhören, um zu sehen, ob sie aufgrund der Nachhilfestunde gestern etwas mehr verstehen würde. Sie blickte verstohlen zur Seite, auch Michael lächelte sie ermunternd an. Dann flüsterte er ihr zu: "Wenn du immer noch nicht viel mehr verstehst, spielen wir wie immer, was meinst du?" Nach einer Weile verständnislosen Zuhörens stupste sie ihn an: "Ich glaube, wir können eine Runde spielen." "Aber gern doch! Wir haben ja den Nachmittag zum Lernen, wenn du magst." Er zeichnete schon die Striche für die fehlenden Buchstaben zum zu erratenden Wort auf. "Galgen" beherrschte sie weit besser als Mathe.
Ein paar Mal kam Michael noch zu Ellen nach Hause und schaffte es tatsächlich, ihr so viel beizubringen, dass sie die nächste Mathematikarbeit mit einer besseren Note bestand, was bedeutete, dass sie diesmal keine der beiden Fünfen hatte.
Einmal hatte sie sich darauf eingelassen, zu ihm zu gehen. Seine Mutter hatte sie freudig begrüßt: "Ah, du bist also Ellen. So lerne ich dich auch endlich mal kennen."
Es kam Ellen vor, als würde die Mutter sie als Michaels Freundin ansehen. Das wollte sie auf keinen Fall. Er war ja nett und hilfsbereit. Aber als Freund?
Die Mutter reichte Kuchen und Tee ins Zimmer und entschuldigte sich, sie würde nicht noch einmal stören. Ellen war die ganze Situation peinlich. Sie saßen nach Ellens Meinung viel zu eng auf Michaels Bettcouch. Bei ihr zu Hause saß sie immer im Sessel und er auf der im rechten Winkel danebenstehenden Couch. Ellen war so nervös, dass sie sich nicht richtig auf das konzentrieren konnte, was Michael ihr zu erklären versuchte. Er war geduldig und nett wie immer. Aber diese Mutter schob Ellen in eine Rolle, die ihr gar nicht passte. Michael bemerkte ihre Nervosität. "Ich glaube, in deiner gewohnten Umgebung bei dir zu Hause kannst du dich besser konzentrieren. Wenn du willst, komme ich gern das nächste Mal wieder zu dir." "Ich denke auch." "Wollen wir vielleicht ein Stück spazieren gehen? Das wird heute nichts richtig mit dem Lernen, habe ich das Gefühl. Ich kann dich ja nach Hause begleiten." "Ja, das ist nett von dir." Er half ihr in die Jacke.
Er ist ja eigentlich direkt ein Gentleman, dachte Ellen.
Als sie auf dem Weg durch den Park nebeneinandergingen, nahm er ihre Hand.
„Nein, nicht schon wieder“, dachte Ellen in Panik. Sie fühlte, wie ihre Hand nicht nur feucht, sondern nass wurde. Sie ihm zu entreißen wäre ihre spontane Reaktion gewesen, aber das hätte ihn bestimmt verletzt und das wollte sie auch nicht. Sie litt Qualen. Wie sollte sie sich verhalten? Sie hielt eine Weile aus, dann fand sie einen Vorwand, ihm die Hand zu entziehen, indem sie auf ein Haus deutete: "Wohnt hier nicht Regina?" "Ich glaube schon." Das folgende Schweigen war unerträglich. Hatte er ihre Angst bemerkt?
Irgendetwas musste sie sagen: "Geht ihr eigentlich gemeinsam morgens zur Schule, wenn ihr in so geringer Entfernung voneinander wohnt?"
"Nein, warum sollten wir? Wir haben doch gar nichts miteinander zu tun. Sie ist nur eine Klassenkameradin, die zufällig in der Nähe wohnt. Bei dir wäre es etwas anderes, da würde ich sogar im Winter auf dich draußen warten."
Ach du meine Güte, auch das noch! Jetzt wollte Ellen lieber gar nichts mehr sagen. Sie schielte zur Seite. Michael blickte versonnen nach vorn. So konnte sie ihn etwas länger betrachten. Er war ein Stück größer als sie und schlank, die Hände hatte er nun in seinen Taschen verborgen. Sein Profil war etwas scharfkantig, hässlich war er nicht. Aber eben nicht ihr Typ!
Als hätte er bemerkt, dass sie ihn taxierte, schaute er sie erst von der Seite an. Dann blieb er stehen, fasste sie behutsam mit beiden Händen an den Schultern, drehte sie zu sich und blickte ihr mit seinen klaren blauen Augen direkt in ihre mindestens ebenso blauen. Sie war etwas erschrocken über seine Reaktion, rührte sich aber nicht.
In sanftem Ton fragte er: "Was ist heute bloß mit dir los? Habe ich irgendetwas Falsches gesagt oder getan?"
Sie konnte seinem offenen Blick nicht standhalten und schaute nach unten. "Nein, nein, das hat nichts mit dir zu tun", stammelte sie. Er ließ seine Arme sinken und seufzte hörbar. Sie wagte, ihm wieder ins Gesicht zu sehen, sein Blick war ruhig geblieben. Jetzt hatten seine Augen allerdings einen traurigen Ausdruck.
„Mist“, dachte sie, „was mache ich jetzt nur? Ich wollte ihn doch auf keinen Fall verletzen. Mann, ist das alles kompliziert!“
Sie wünschte sich weit weg. Nervös rieb sie die Lippen aufeinander. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
In ihrem Blick schien jetzt Verzweiflung zu liegen, denn er fasste sie sacht am Arm "Ach, was soll's. Komm, wir gehen lieber weiter. Manchmal ist alles eben schwierig. Du weißt aber, dass ich dich niemals verletzen könnte, oder?" "Ja", murmelte sie mit gesenktem Blick. Beide liefen sie mit den Händen in den Taschen schweigend nebeneinander, bis sie vor ihrer Haustür ankamen. Sie gaben sich zum Abschied die Hand, die sie länger als sonst hielten, und blickten sich tief in die Augen.
Ellen war am Abend nervös und mochte nichts essen. In was hatte sie sich da bloß hineinmanövriert! Sie zog sich auf die Toilette zurück, den einzigen Ort, an dem sie einen Moment ungestört verweilen konnte. Sie hatte hinter sich abgeschlossen, was in ihrer Familie sehr ungewöhnlich war. Es gab keine verschlossenen Türen in dieser Wohnung.
Jemand drückte die Klinke herunter. "Was ist denn los Kind?", fragte ihre Mutter ängstlich. "Du hast dich doch noch nie eingeschlossen. Öffne doch bitte die Tür." Ellen atmete tief durch und schloss die Tür auf. "Was hast du denn für Sorgen? Du hast auch nichts gegessen."
"Verliebt ist unsere Tochter", tönte Vaters Stimme aus dem Wohnzimmer.
"Eben gerade nicht", antwortete Ellen trotzig, "Woher willst du das überhaupt wissen?"
"Na ja, das ist doch die typische Reaktion, sich zurückziehen und nichts essen wollen."
"Du musst es ja wissen", antwortete Ellen mürrisch. Sie ließ sich in einen Sessel fallen.
Das Gespräch war für sie beendet, ihr Vater wusste wieder alles besser.
"Ellen, komm mir doch mal beim Abwasch helfen", rief ihre Mutter aus der Küche. Ellen ging und nahm das Handtuch zum Abtrocknen.
"Woher weiß man denn, ob man verliebt ist?", fragte sie ihre Mutter. "Na ja, man denkt dauernd an ihn. Wenn man die Augen schließt, sieht man ihn vor sich, und irgendwie kribbelt es im Innern."
"Nein, so ist es bei mir nicht. Ich finde ihn ganz nett, aber ich habe Angst davor, dass er mehr von mir will und ich möchte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Ich weiß nicht richtig, wie ich ihn finden soll. Aber solche Bemerkungen von ihm machen mir Angst."
"Welche Bemerkungen denn? Und wer ist es denn?"
"Ach der, der mir bei Mathe ein bisschen hilft"
"Ja, und was hat er gesagt?"
"Nicht viel"
"Aber du hast doch gerade was von Bemerkungen gesagt?"
"Na ja, es sind nicht so sehr Bemerkungen, vielleicht eher sein Verhalten. Er ist wirklich sehr geduldig und kann mir die Sachen gut erklären." Plötzlich platzte sie heraus: "Aber ich ärgere mich einfach darüber, dass seine Mutter mich als seine Freundin betrachtet."
"Wie kommst du denn darauf?"
"Heute war ich das erste Mal bei ihm und da grinste sie mich schon so vielsagend an und dann klopfte sie an und schaute wieder so tiefgründig und reichte uns Kuchen und Tee rein. Sie betonte, dass sie uns dann aber nicht mehr stören würde. Als ob wir sonst was vorhätten zu tun! Das Verhalten dieser Frau hat mich total durcheinandergebracht, ich konnte mich überhaupt nicht aufs Lernen konzentrieren."
"Und? Habt Ihr gelernt?", fragte ihre Mutter lauernd.
"Nein", schrie Ellen aufgebracht, "Jetzt fängst du auch so an. Alle denken was anderes." Sie warf das Handtuch auf den Stuhl und drückte sich in einen Sessel im Wohnzimmer.
"Hat er dich geküsst?" kam die Frage von ihrem Vater, der auf der Couch lag und sich angeblich einen Film im Fernsehen ansah.
Das war zu viel. "Lasst mich doch bloß alle in Ruhe. Ihr wisst ja überhaupt nichts", sie lief schluchzend ins Schlafzimmer und warf sich aufs Bett der Mutter.
Wie sollte sie sich bloß morgen Michael gegenüber verhalten? Darauf hätte sie gern eine Antwort gehabt. Sie wollte ihn nicht plötzlich zum Feind haben, wenn sie ihm offen sagte, dass sie ihn nicht als Freund wollte. Oder hatte sie sein Verhalten überhaupt falsch ausgelegt? Vielleicht waren es ja gar keine Annäherungsversuche? Dann würde sie ja total bekloppt dastehen, wenn sie ihm sagte, dass sie keine nähere Freundschaft mit ihm wollte. Vielleicht waren seine Berührungen ja ganz zufällig und völlig normal. Vielleicht würde er das bei jedem anderen Mädchen auch so tun? Und sie bildete sich nur ein, dass diese nur ihr galten und es etwas Besonderes war? Aber was hatte er da im Park gesagt? Sie wüsste doch, dass er sie niemals verletzen könnte? Sagt man das zu irgendeiner Frau? Und dieser Blick dabei! Wie sollte sie das nur auffassen? Mein Gott, wie sollte sie bloß den morgigen Tag überstehen?
Und wenn sie einfach nicht zur Schule ginge?
Quatsch, was sollte das denn bringen? Damit schob sie doch nur alles auf. Sie würde morgen ganz normal, wie immer mit ihm umgehen.
"Ellen, du lässt aber das Zupfen sein, nicht wahr? Du willst doch hübsch aussehen, jetzt, wo du einen Verehrer hast." Ihre Mutter stand in der Tür.
"Ist ja schon gut", brummelte Ellen. Ein paar Haare hatten aber wieder dran glauben müssen. Und dann lauter, indem sie zur Mutter blickte: "Und dann lass den Unsinn, sag das mit dem Verehrer nicht noch mal."
Am nächsten Morgen beschloss Ellen, Michaels Verhalten ihr gegenüber einfach noch eine Weile zu beobachten, dann würde sich schon eine angemessene Reaktion einstellen.
Michael begrüßte sie wie immer mit einem freundlichen "Hallo", dabei fasste er leicht an ihren Oberarm. War das normal? Hatte er sie schon mal in der Schule so berührt? Vielleicht hatte sie früher auf solche Kleinigkeiten überhaupt nicht geachtet. Sie musste mal wieder in die normale Alltäglichkeit zurück. Sie fing ja schon an zu spinnen.“
Sie setzte sich und packte ihre Sachen für die Stunde aus.
"Hallo Ellen, wir müssen nachher unbedingt reden, es ist wieder mal an der Zeit, dass wir was gemeinsam unternehmen", Tanja hatte ihr von hinten die Hand auf die Schulter gelegt und sich zu ihr hinuntergebeugt. "Ja klar, du hast recht, ich habe die letzten Tage Mathe geübt, du weißt doch, mein großes Problem."
"Ach, da kann dir doch Gerlind helfen, die macht das bestimmt gern, dann könnt ihr hinterher noch quatschen." "Stimmt ja, da habe ich gar nicht dran gedacht. Momentan schnalle ich das wohl, aber zur nächsten Mathearbeit bräuchte ich sicher ein bisschen Hilfe."
Ellen blickte zur Seite zu Michael. Hatte er das Gespräch mit angehört? Er räusperte sich und meinte: "Na, dann wird meine Hilfe wohl überflüssig? Schade. Aber du weißt, ich bin jederzeit für dich da." Sie lächelten sich an.
Ellen war aus dem Schneider, er war ihr nicht böse und sie spielten während der Mathematikstunden weiterhin ‚Galgen‘ oder ‚Käsekästchen‘.
Die neue Lehrerin
Gundula veränderte etliches an der Schule. Sie unterrichtete Sport und Deutsch und solchen Unterricht hatten sie vorher wirklich noch nicht erlebt. Erstens durften die Schüler sie mit Vornamen anreden, das war etwas völlig Neues. Sie fragte sie als Schüler höflich, ob sie sie auch mit Vornamen und 'Du' anreden dürfte. Denn ab der zehnten Klasse hatte man die Schüler als junge Erwachsene behandelt und mit 'Sie' angesprochen, jedenfalls die neuen Lehrer. Die alten, die sie schon jahrelang unterrichteten, waren einfach beim 'Du' geblieben. Gundula hatte mit einem total neuen Sportunterricht begonnen. Sie lief mit ihnen durch den Park, damit die Runden für den Tausendmeterlauf nicht so langweilig waren. Dann zeigte sie Gymnastikübungen, von denen jedes Mal nach dem Laufen ein anderes Mädchen aus der Gruppe welche vorturnen sollte. Sie verteilte Listen, auf denen genau festgelegt war, welche Fertigkeiten zur Erlangung einer bestimmten Zensur erforderlich waren.
Außerdem baute sie die Übungen wunderbar auf. Ellen konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie ihren ersten Salto unter der Begeisterung von Gundula vollbrachte. Nach klar aufeinanderfolgenden Schritten war eigentlich jeder in der Lage, einen Salto zu vollführen. Gundula hatte eine Bank aufgestellt, von der man in eine von vier Mitschülerinnen gehaltene Matte einen Purzelbaum schlug. Dann sollte man eine Luftrolle versuchen, also sich mit den Händen nicht mehr abstützen. Man brauchte keine Angst zu haben, man fiel ja in die Matte. Diese wurde immer etwas höher gehalten. Wenn man die Rolle schaffte, ohne die Matte zu berühren, war es ein Salto. Der nächste Schritt war, diesen ohne Matte auszuführen. Man wusste inzwischen, in welche Höhe man zunächst springen musste, um den Purzelbaum zu schlagen. Bei Ellen hatten alle gestöhnt, als sie die Luftrolle so schnell und kleingerollt machte, dass sie mit voller Wucht auf der Matte landete, die die anderen durch den Aufprall fast fallen ließen.
Gundula ging mit den Schülern in die gemischte Sauna. Das war etwas ganz Revolutionäres. Draußen spielten sie dann nackt Volleyball. Zuerst waren alle etwas scheu, aber je häufiger sie in die Sauna gingen, desto mehr verflog die Scham und alle sahen es als etwas ganz Natürliches an. Die zuerst wahrscheinlich verstohlenen Blicke auf das andere Geschlecht blieben nachher ganz aus. Es war nichts Besonderes mehr. Sie kannten sich inzwischen.
Auch im Deutschunterricht führte Gundula einen neuen Stil ein. Sie zeigte ihnen, wie man über bestimmte Themen diskutierte, jeder musste mal die Diskussionsleitung übernehmen und darauf achten, dass die Reihenfolge der Meldungen eingehalten wurde. Sie lernten, Protokolle zu schreiben. Wer zu ängstlich war, sich an den Diskussionen zu beteiligen, konnte seine mündliche Note dadurch aufbessern, dass er mit zwei anderen eine Gruppenarbeit zu dem Thema ablieferte.
Auch das Arbeiten in kleineren Gruppen führte sie ein. Dazu brachte sie dann von der Uni Studenten mit, die die Gruppen leiteten. Die in diesen Arbeitsgruppen bearbeiteten Themen wurden dann allen in der Gesamtsitzung vorgestellt.
Ellen war der Meinung, dass diese Frau entscheidend dazu beigetragen hatte, dass die Schüler ihre Umgebung kritischer betrachteten. Sie lasen sogar Marx. Als Empfehlung. Nicht direkt im Unterricht. Sie brachte ihnen bei, sachlich zu argumentieren, schriftliche Begründungen zu schreiben. In keiner Weise nur aufmüpfig abzulehnen, sondern immer vernünftige Argumente zu liefern und vor allem Vorschläge für anderes Vorgehen. Bis zum Schulrat war ihre Klasse gegangen. Sie wollten andere Lehrinhalte, hatten es durchgesetzt, den Biologie- und Chemieunterricht als Projekte durchzuführen, indem sie Wasserproben aus unterschiedlichen Gewässern Berlins entnahmen und diese jeweils mit chemischen und biologischen Methoden analysierten. Es standen sogar Berichte über ihre Wasseranalysen in der Zeitung.
Die erste Liebe
Beim Volleyballtraining fand Ellen ihre erste große Liebe.
Gundula, die neue Sportlehrerin, hatte mit ihnen das Training begonnen und eine Mannschaft aufgebaut. Sie verstand es sehr gut, das Interesse bei ihren Schülern zu wecken. Da sie selbst in einer Mannschaft spielte, lud sie die Schüler ein, bei den Tournierspielen zuzusehen. Danach wurde über das Spiel diskutiert. So konnten sie auch beim Zusehen noch etwas dazulernen.
Während des Trainings spielten sie in gemischten Mannschaften. Das führte dazu, dass die Mädchen ebenfalls lernten, die harten Schmetterbälle der Jungen anzunehmen und als vollwertig in der Mannschaft angespielt zu werden, um ebenso zu schmettern.
Ellen erinnerte sich noch ganz genau an den Abend im Januar 1970, als sie zum ersten Mal Sven sah. Als Tanja, Gerlind und sie zum Training kamen, standen drei Jungen vor der Tür und fragten, ob hier das Training zum Volleyball stattfände. Sven war ihr sofort aufgefallen. "Habt ihr den großen mit den langen blonden Haaren gesehen? Mann ist der süß! Mir ist ganz schlecht. Jetzt traue ich mich gar nicht mehr raus. Wenn ich mich vor dem blamiere", sagte sie zu den anderen beiden in der Umkleidekabine.
"Quatsch, warum solltest du dich blamieren?", erwiderte Gerlind "Wenn die heute zum ersten Mal zum Training kommen, können sie ja nicht sehr viel besser sein als wir. Also hab dich nicht so, sei nicht albern. Auf geht's."
Ellen versuchte ihn einfach zu ignorieren, sie konzentrierte sich mehr denn je auf die Übungen. Und dann mussten ausgerechnet sie beide sich den Medizinball zuspielen. Bei der Übung wurden die Finger gestärkt. Man lernte, den Ball richtig in der Hand aufzunehmen und zu dirigieren, ohne sich die Finger zu verknacksen. Dann ging es mit einem normalen Ball weiter. Wenn sie einen schwierigen Ball trotzdem noch bekommen hatte, lobte er sie "Mensch toll, Supereinsatz." Es schien, als könne er schon alles, dabei waren sie doch heute das erste Mal hier beim Training. Sie wagte es, ihn zu fragen: "Sag mal, warum bist du denn schon so gut?" "Oh, meinst du, es ist gut?", fragte er zurück "Na ja, aus dem Sportunterricht", bekam sie dann eine Antwort mit einem Grinsen. "Wieso? Habt ihr denn auch bei Gundula Sport?" "Na klar, die hat doch Volleyball hier an die Schule gebracht. Oder hast du so was bei einem anderen Lehrer schon gehabt?" Das stimmte.
Ellen schmetterte gern, dabei schlug man den Ball möglichst hart in das gegnerische Feld, damit die anderen ihn nicht mehr erreichen konnten. Sie setzte sich immer voll ein, versuchte jeden Ball noch zu erreichen, indem sie sich nach vorn warf. Meistens erreichte sie ihn noch, konnte ihn "noch fischen", wie es im Volleyballjargon hieß. Ihre Knie waren oft recht ramponiert, früher gab es noch nicht die dicken Knieschoner. Man fiel ungeschützt auf die Knie, entsprechend sahen die dann aus, geschwollen und grün und blau. Aber Ellen wollte ganzen Einsatz zeigen, sie wollte gut sein. Als Stellerin spielte sie nicht so gern, da musste sie vorn am Netz genau den Ball zu beiden Seiten stellen, damit diejenigen dann schmettern konnten. Aber alle mussten schließlich mal auf jeder Position spielen, das war ja eigentlich das Schöne an diesem Spiel.
Oje, jetzt musste sie ihm stellen. Aber er hatte ihr einen so klaren Ball zugespielt, den sie ihm hoch vor dem Netz zurückgab, dass er ihn so hart auf die andere Seite schlagen konnte, dass niemand ihn erreichte. Das klappte ja wunderbar mit ihm. Er zwinkerte ihr zu und hielt anerkennend den Daumen hoch. Ja, das galt für sie beide.
Sie beobachtete ihn mit seinen langen blonden Haaren, um die er ein Stirnband trug, damit sie ihm nicht ins Gesicht fielen. Er sprang gerade hoch, um über dem Netz einen Ball abzuwehren. Sie stand auf der Position schräg hinter ihm. Mann, hatte der eine durchtrainierte Figur! Sie ertappte sich dabei, dass sie auf seinen knackigen Hintern guckte.
Nach dem Training waren sich die drei Mädchen einig, die drei neuen Jungen waren ihnen sehr sympathisch. Als sie geduscht und angezogen aus der Umkleidekabine kamen, standen die drei Burschen vor der Tür und warteten auf sie.
"Hallo, wir dachten, wir könnten noch gemeinsam was trinken gehen. Ihr habt hoffentlich noch ein bisschen Zeit?" Und ob sie die hatten. Die drei stellten sich mit ihren Namen vor. Ellens Auserwählter war Sven, die beiden anderen hießen Fred und Gerd.
Sie gingen in eine nahe der Schule gelegene Kneipe. Wieder ergab der Zufall, dass Sven und Ellen nebeneinandersaßen und so kamen sie ins Gespräch. Leise drang aus der Musikbox das Lied "My sweet Lord" zu ihnen herüber. Sven bemerkte sofort, dass sie vor sich hin lächelte und sagte: "Ich finde das Lied auch toll." Nun galt das Lächeln ihm. Sie erfuhr, dass die drei in dieselbe Klasse gingen. Aber nicht in die Parallelklasse, denn dann wären sie sich ja schon begegnet. Der Raum der Parallelklasse lag nämlich im Flur neben ihrem Klassenraum und da war es klar, dass man sich in der Pause sah. Sie waren im darunter befindlichen Stockwerk untergebracht und tatsächlich eine Klasse unter ihnen im Jahrgang. Das bedeutete, dass sie im Durchschnitt ein bis zwei Jahre jünger waren als sie. Schade, dachte Ellen, denn Sven gefiel ihr, aber sicher würde er keine Freundin wollen, die älter war als er. Für diesen Abend verabschiedeten sie sich mit der Beteuerung, dass sie sich schon auf nächste Woche zum Training freuten.
In dieser Nacht träumte Ellen von Sven. Ob es ein richtiger Traum war oder Wunschvorstellungen im Halbschlaf, konnte sie am nächsten Morgen nicht mehr sagen. Jedenfalls hatte sie das Gefühl zu schweben, entweder vom Träumen oder von zu wenigem Schlaf, sie wandelte wie auf Wolken, als sie zur Schule ging.
Sie wollte ihn sehen und würde in der Hofpause nach ihm suchen, das stand fest. Natürlich hatte sie allein nicht den Mut, sie hoffte auf die Unterstützung ihrer Freundinnen, es sollte ja nicht so aussehen, als liefe sie ihm hinterher.
Tanja und Gerlind begleiteten sie die Treppe hinunter, als drei Burschen ihnen gerade die Treppen hinauf entgegenkamen. Alle sechs lachten über diesen „Zufall“ und gingen gemeinsam auf den Hof. Sven und Ellen fanden schnell ein Gesprächsthema und liefen ein bisschen über den Platz, während die anderen vier an einer Stelle stehenblieben. Sven begleitete Ellen am Ende der Pause noch bis vor die Klasse, während die anderen sich schon unten an der Treppe getrennt hatten.
Ellen strahlte.
Gerlind und Tanja knufften sich in die Seite und grinsten.
Als der Unterricht zu Ende war und sie das Gebäude gemeinsam verließen, stand er draußen unten an der Eingangstreppe und wartete auf sie. Wie ein Prinz stand er da, bestimmt ein Meter achtzig groß, die langen bis zur Schulter reichenden Haare flatterten leicht im Wind, hautenge Jeans, lockeres Shirt über den Hosen, die Winterjacke offen. Selbst darin konnte man seine breiten Schultern erkennen. Ein Prinz mit einer Traumfigur!
Er kam wirklich auf sie zu. Ihr stockte der Atem. Sie schluckte den ihr plötzlich im Hals steckenden Kloß hinunter und brachte ein "Hallo" heraus. Die beiden Freundinnen winkten ihr zum Abschied zu. Sie erwiderte schwach das Winken und blieb vor Sven stehen. Seine Augen leuchteten grün in der Sonne. Tatsächlich, er hatte grüne Augen mit einem ganz leichten bräunlichen Schimmer darin. Bisher hatte sie die Farbe seiner Augen gar nicht erfassen können, sie war ganz von seinem tollen Körper fasziniert gewesen. Auch beim Sport hatte sie ihn deswegen bewundert und er sah so toll aus, wenn er ein Band um seine Haare legte.
"Hallo Ellen, darf ich dich ein Stück begleiten, ich habe noch keine Lust nach Hause zu gehen." Sie war zwar etwas verwirrt, antwortete aber: "Oh, ja klar." Langsam liefen sie die Straße entlang. Sie brauchten für den Weg, den sie sonst allein in zehn Minuten zurücklegte, eine halbe Stunde. Immer wieder blieben sie stehen, um gestikulierend über Volleyball zu reden.
Als sie vor ihrer Haustür ankamen, meinte er "Oh, hier wohnst du also, sind wir also schon da. Na ja, um die Ecke ist es ja nicht gerade. Nächstes Mal kommst du mal mit zu mir. Ich wohne nur ein paar Straßen weiter von der Schule entfernt." Sie ging darauf nicht ein. "Tanja wohnt viel weiter. Sie muss die U-Bahn nehmen."
"So? Aha, ich werde dann mal zurückgehen. Schönen Tag noch und bis morgen"
"Ja, tschüss" Sie blieb noch stehen und er drehte sich tatsächlich um und winkte ihr zu. Sie winkte lächelnd zurück.
Als ihre Mutter nach Hause kam, stürmte sie ihr entgegen. "Hallo Mutti, ich glaube, jetzt bin ich verliebt. Er hat mich heute nach der Schule nach Hause gebracht. Oh Mann, mir ist ganz anders."
"Wer denn? Woher kennst du ihn denn?"
"Vom Volleyball gestern Abend."
"Wie? Und dann weißt du schon, dass du in ihn verliebt bist?"
"Oh ja, der ist mein Traumtyp"
"Hattest du denn eine so genaue Vorstellung von deinem Traummann?"
"Nein, eigentlich nicht, aber er ist ein Traumtyp."
"Nun bleib mal erst ganz ruhig und warte ab, was daraus wird. Der erste Eindruck kann verdammt täuschen und dann tut es umso mehr weh."
"Ach, Mutti, mach mir nicht alles kaputt. Ich bin sooo glücklich."
"Ja, ja, ist ja schon gut, hilf mir jetzt lieber Kartoffeln zu schälen."
"Sag bloß nichts Vater, der spottet dann nur wieder."
Sie konnte kaum schlafen in der Nacht, dauernd sah sie, wie Sven da stand und auf sie wartete.
Sie lief fast im Dauerlauf zur Schule am nächsten Morgen. Vielleicht würde sie ihn ja schon vor dem Unterricht sehen. Fast bis zum Klingeln wartete sie im Stockwerk zu seinem Klassenraum an der Treppe, um ihn nicht zu verfehlen. Obwohl sie schon zehn Minuten früher als sonst da gewesen war, kam er nicht. Enttäuscht ging sie in ihr Klassenzimmer.
Natürlich sahen ihr ihre beiden Freundinnen sofort an, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Tanja, die rechts neben ihr saß, flüsterte ihr zu: "Lief gestern etwa irgendwas schief?" Sie schüttelte nur mit dem Kopf. Auf den Unterricht konnte sie sich kaum konzentrieren.
Endlich in der kleinen Pause umringten sie die beiden. "Nun los, erzähl schon, was ist passiert?" "Oh, gestern war toll. Er hat mich nach Hause gebracht." "Und?"
"Was und? Wir haben über Volleyball gesprochen."
"Und? Weiter?" Gerlinds Nase war plötzlich ihrem Gesicht gefährlich nah. "Nichts weiter“. Sie drückte die beiden Köpfe ihrer Freundinnen ganz dicht zu sich ran und flüsterte "Ich glaube, ich bin verliebt" "So, glaubst du?" Sie grinsten vielsagend.
"Aber warum bist du dann traurig? Hat er dir eine Abfuhr erteilt?" fragte Gerlind in ihrer wieder mal so direkten Art.
"Quatsch, dann hätte er wohl kaum auf sie gewartet, gestern", entgegnete Tanja und schüttelte dabei bekräftigend ihre lange rötlichblonde Lockenmähne.
"Nun sag doch endlich", beharrte Gerlind, es dauerte ihr zu lange, sie liebte präzise Auskünfte. Mit ihrer mathematischen Logik konnte sie hier keine vernünftige Schlussfolgerung ziehen. In ihrer ganzen Art und mit ihren kurz geschnittenen dunkelbraunen Haaren und ebenso dunklen Augen wirkte Gerlind immer so kühl und irgendwie eher männlich.
"Ich habe mich heute Morgen so beeilt und ihn trotzdem nicht getroffen"
"Wart ihr denn verabredet?" war Gerlinds prompte Frage.
"Nein, ich wollte ihn nur..."
"Na, also, in der Hofpause wird er schon da sein, das wirst du sehen", damit setzte sie sich wieder auf ihren Platz, der Lehrer hatte den Raum schon betreten.
Kaum hatte es zur großen Pause geläutet, liefen die drei auch schon die Treppe hinunter. Entgegen kam ihnen ... Sven. "Oh, hallo", grüßte er sie "Ihr habt es aber eilig. Wohin wollt ihr denn?" "Na auf den Hof, wohin denn sonst?", antwortete Gerlind schlagfertig. "Na, dann gehen wir", er zuckte mit den Schultern und fasste Ellens Hand, um mit ihr die letzten Treppenstufen hinunterzurennen. "Wo warst du denn?" fragte ihn Ellen geradeheraus. "Wann? Wo?" "Na, heute Morgen" "Wieso?" Ellen wurde rot, "Ich habe dich heute gar nicht kommen sehen" Mist, jetzt hatte sie verraten, dass sie schon auf ihn gelauert hatte. Mann, war sie blöd!
"Heißt das, du hast schon vorm Unterricht auf mich...?" "Ach, da seid ihr ja", die anderen Jungen und Mädchen waren zu ihnen getreten.
"Ich, hmm", er zog Ellen beiseite, "die anderen müssen das ja nicht unbedingt hören. Ich, äh, habe kaum geschlafen, ich, hmm habe so lange wachgelegen, meine Eltern haben wieder gestritten, na ja und außerdem musste ich so viel denken, ich meine, hmm, an dich denken. Tja, und da habe ich heute Morgen verschlafen."
Ellens Herz fing wie wild an zu pochen, sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Gleichzeitig fasste jeder die Hand des anderen, und während sie ein Stück liefen, murmelte sie: "Mir ging es auch so, ich habe auch an dich denken müssen und deswegen schlecht geschlafen. Nur, dass ich trotzdem überpünktlich hier war." Sie lächelten sich an und er legte wie selbstverständlich seinen Arm um ihre Schulter. Sie fühlte sich so vertraut mit ihm, als würden sie sich schon ewig kennen.
Wann er sie dann das erste Mal geküsst hatte, daran konnte sich Ellen nicht mehr erinnern. Aber sie war sich sicher, dass es nicht allzu viel später geschehen sein musste, dazu waren sie zu verliebt ineinander und sie hatten keinerlei Hemmungen und kümmerten sich kein bisschen darum, was die anderen über sie dachten.
Die sechs trafen sich nun regelmäßig in den Hofpausen und zum Training. Sie verabredeten sich, um gemeinsam zu den Tournierspielen der Sportlehrerin zu fahren. Später nahmen sie selbst an Tournieren teil, da konnten sie nicht als gemischte Mannschaft spielen. Die Mädchenmannschaft bestand auch gerade aus sechs Mädchen, da durfte keines mal ausfallen, dann gab es sofort Strafpunkte, weil sie nicht als komplette Mannschaft antraten.
Sie trafen sich immer, um gemeinsam zu den Spielen zu fahren. Die Mädchen fuhren mit zu den Spielen von den Jungen und umgekehrt. So wuchsen sie allmählich zu einer richtigen festen Gruppe zusammen. In der Woche trainierten sie jetzt sogar zweimal und die Tournierspiele fanden an den Wochenenden statt. Niemanden störte das. Ganz im Gegenteil, man freute sich darauf und sie waren auch alle gern zusammen. Häufiger trafen sie sich auch privat. Da Sven wirklich nicht weit von der Schule wohnte, gingen sie öfter zu ihm. Er hatte nur eine ganz kleine Kammer als Zimmer. Aber gemütlich war es dort. Sie saßen auf seinem Bett, das fast den ganzen Raum einnahm. Hinter und über dem Bett waren Regale angebracht. Unter dem Fenster eine breite Platte als Schreibtisch. Mangels Platz drängten sich die meisten auf dem Boden. Fred brachte oft seine zwölfsaitige Gitarre mit. Er konnte nicht nur gut spielen, sondern hatte auch eine schöne Stimme. Sie lauschten ihm einfach nur oder sangen gemeinsam.
Svens Mutter klopfte fast immer an die Tür und reichte ihnen dann Tee und Kekse oder Kuchen oder warme Eierkuchen hinein. Sie war ziemlich dick und Sven hatte wohl ihre Augenfarbe geerbt, ihre waren grüngrau. Irgendwo war in Ellens Kopf 'die Dicken sind gemütlich'. Genau den Eindruck machte sie. Sven sagte dann mal nur zu Ellen: "Ja, und faul. Sie kocht selten und die Bude sieht manchmal aus."
Sven hatte sich auch eine Gitarre gekauft. Ellen liebte es, ihm zuzuhören, wenn er übte. Er kreierte seine eigenen kleinen Liedchen, die er ihr dann vorspielte. Ellen brachte ja fast jeden Spätnachmittag nach den Hausaufgaben bei ihm zu. Dass er seine nicht machte, auf die Idee kam sie nicht.
Gerd brachte später noch seinen Freund Rolf mit, Andrea kam auch zum Training, sie ging in dieselbe Klasse wie Rolf, beide aus der neuen Klasse von Sven, der durch die Wiederholung des Schuljahres nun auch mit neuen Leuten zurechtkommen musste. Er hing aber an seinen alten Freunden und verbrachte nach wie vor seine Freizeit mit ihnen. Die Mischung aus Freunden der alten und neuen Klasse war gut für ihn.
Wenn Sven und Ellen allein waren, malten sie sich aus, dass sie demnächst vier Pärchen sein würden. Sie sahen Tanja und Rolf zusammen, Fred und Andrea, Gerlind und Gerd. Aber so, wie sie sich das erdachten, funktionierte es leider nicht. Rolf hatte versucht, sich Tanja zu nähern. Sie hatten sich ein paar Mal allein getroffen. Aber Tanja fand ihn nur nett und dann doch zu dominant. Oder steckten wieder mal eher ihre Eltern dahinter, die nicht wollten, dass sie einen Freund hatte, bevor die Schule abgeschlossen war? Ellen war fest davon überzeugt. Ob Tanja es zugeben würde, dass die Eltern es verboten, wagten inzwischen beide zu bezweifeln. Gerlind und Gerd waren beide viel zu kühl, um aufeinander zuzugehen. Gerlind war so schlagfertig und verhielt sich zurückhaltend und distanziert, dass wohl jeder Junge Angst hatte, ihr näher zu kommen. Vielleicht steckte auch ein wenig die Befürchtung dahinter, ihr unterlegen zu sein. Sie war ja, wie man so schön sagte, eine Intelligenzbestie. Sie wusste eben alles und das kann schon abschreckend wirken. Nicht nur Respekt einflößend. Na ja, vielleicht war sie nun auch nicht gerade ein Typ, auf den Jungen buchstäblich flogen. Die dunklen vollen Haare trug sie immer in einem kurzen fast Jungenhaarschnitt, ihre lange Nase steckte im Gesicht und darauf eine schwere Brille.
Ellen konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie es bei ihr selbst war. Sie hatte sich immer als graue Maus empfunden, die keinem Jungen auffiel. Wenn sie nicht einmal einer bemerkte, wie sollte sie dann einen kennenlernen, der in Gesprächen und im Umgang mit ihr ihre wahren inneren Werte wahrnehmen sollte? Das hatte ihre Mutter immer gesagt. Es käme nicht auf eine hübsche Larve an, die inneren Werte seien wichtig. Doch Ellen hatte sich immer gefragt, wie die jemals einer erkennen sollte. Es stand einem ja nicht ins Gesicht geschrieben, dass man ehrlich und gutmütig war, eben einfach liebenswert. Aus lauter Angst, verletzt zu werden, trug sie vielleicht sogar ein ganz anderes Gesicht zur Schau. Vielleicht sagte ihr ganzer Körper, nähert euch bloß nicht, ich kann keine Verletzung ertragen. Ihre Haltung und Gesichtsausdruck schreckte vielleicht ebenfalls schüchterne Jungen eher ab. Dass nur ganz dreiste es überhaupt wagten, sie anzusprechen barg dann gerade die Gefahr, völlig falsch eingeschätzt worden zu sein und dann durch plumpe, freche Bemerkungen schon gleich die erste Verletzung zu erfahren.
Ach ja, ihre ersten Erfahrungen, als sie mal in die Kirchendiskothek zum Tanzen gegangen war. Da war sie wohl zwölf oder dreizehn. Sie hatte sich ganz besonders hübsch heraus geputzt für ihre Begriffe, aber kein einziger Junge hatte sie zum Tanzen aufgefordert. Ganz deprimiert war sie dann nach Hause gegangen und hatte fürchterlich geweint, als ihre Mutter sie dann auch noch fragte, ob sie sich gut amüsiert hatte. Wie konnte man sich gut amüsieren, wenn man als Einzige sitzen geblieben war und alle anderen tanzten und sie, die auch Lust zum Tanzen gehabt hatte, war dazu verdammt gewesen zuzusehen, weil keiner sie gefragt hatte, ob sie mit ihm tanzen wollte? Damals war es noch so, dass man als Paar tanzte und man als Mädchen vom Jungen dazu aufgefordert wurde.
Ellen seufzte, sie hatte ja nun seit einigen Monaten ihren Sven. Arme Gerlind!
Tja, und was Fred und Andrea anbelangte, da erfüllten sich die Spekulationen. Das hatten alle sofort gespürt, dass es bei den beiden ‚funkte’. Sie waren auch ein Paar. Vielleicht war das der Grund, dass sie vier gemeinsam zu den Volleyballspielen fuhren. Oder lag es eher daran, dass Fred schon vorher ein guter Freund von Sven war? Auf diese Weise war Ellen dann auch öfter mit Andrea zusammen als mit Gerlind und Tanja. Zuerst waren sie immer mit Tanja mitgefahren, die ihr eigenes Auto besaß, das sie von ihren Eltern zur bestandenen Führerscheinprüfung kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag erhalten hatte. Später, als Ellen dann selbst ihren Führerschein hatte, bekamen sie den alten VW, der noch die kleine Heckscheibe eingebaut hatte, von Svens Mutter geborgt. Dann fuhren Andrea und Fred bei ihnen mit.
Gerd war, wie man so sagte, ein smarter Typ. Er war sportlich, fast athletisch. Beim Volleyball sah man seine Muskeln. Als Ellen ihn fragte, ob er außer Volleyball noch anderen Sport trieb, stellte sich heraus, dass er noch im Tennisklub war. Tennis, das war ja ein Elitesport, dort kostete es schon immer eine stattliche Summe für die Mitgliedschaft. Ja, Gerd war tatsächlich anders als sie alle. Es war schlecht an ihn heranzukommen. Er erschien Ellen wirklich arrogant. Wenn man mit ihm sprach, war er allerdings immer nett. Aber irgendetwas schien immer als Wand zwischen ihnen zu stehen. Sie konnte es sich nicht erklären.
Rolf war da ganz anders, er war wirklich ein Kamerad. Er schien Ellen ganz schnell durchschaut zu haben, ohne das ausnutzen zu wollen. Wie war das zu verstehen?
Am besten durch ein Beispiel: Wenn sie gemeinsam essen gingen, fiel es Ellen sehr schwer, für sich ein Gericht auszuwählen. Sie war nicht geübt darin, es war eher eine Seltenheit, dass sie mit ihren Eltern essen gegangen war und wenn, dann hatte Vater eine Familienplatte bestellt, sodass sie gar nichts auswählen musste. Nun kam dazu, dass sie einmal schaute, was könnte ihr schmecken und zum anderen aber auch, was nicht so teuer war und so geriet sie in die Zwickmühle. Rolf half ihr da ganz einfach aus der Patsche. „Nimm doch einfach das“ und schlug ihr etwas vor, was einen mittleren Preis hatte und ganz gut klang. Einmal hatte sie endlich etwas gefunden, nachdem alle anderen schon bestellt hatten und dann gab es ausgerechnet dieses Gericht nicht mehr. Das machte sie so sauer, dass sie gar nichts mehr essen wollte. Woraufhin Rolf sie zu beruhigen versuchte: "Elli, guck einfach, was ich bekomme, dann kostest du mal und dann können wir das immer noch für dich nachbestellen, okay?" Damit war sie dann einverstanden. Es war furchtbar, Entscheidungen treffen zu müssen, schon bei solchen Kleinigkeiten schien Ellen damit überfordert.
Sie waren inzwischen eine feste Clique. Es war schön, die anderen zu haben. Deshalb verstand sie später ganz und gar nicht die garstige Bemerkung ihres Vaters: "Merkst du denn nicht, wie du rumgereicht wirst?" Darüber hatte sie lange nachgegrübelt, sie hatte auch mit Sven darüber gesprochen. Bis ihr dann klar geworden war, dass ihr Vater nicht die geringste Ahnung davon hatte, was eine Freundesgruppe bedeutete und was da ablief. Der hatte eine völlig falsche Vorstellung. Glaubte er also, dass da jeder mit jedem etwas sexuell trieb? Am schlimmsten hatte sie aber getroffen, dass er von ihr annehmen konnte, dass sie es mit jedem Jungen in der Gruppe machen könnte. Er hatte wohl was von Gruppensex gehört und nun dachte er, da sie von ihren Freunden, also mehreren Jungen sprach, könnte das nur eine solche Gruppe sein. Sie war wahnsinnig enttäuscht von ihrem Vater.
Diese Bemerkung zerstörte irgendwie das Vertrauen zu ihm.
Sie hatte eigentlich als Kind ein gutes offenes Verhältnis zu ihrem Vater gehabt. Mit ihm war sie in einem Tischtennisverein, er hatte sich bemüht, ihr schwimmen beizubringen, mit ihm war sie auf die Eisbahn gegangen. Er war ihr Verbündeter gewesen. Als sie einmal für irgendetwas bestraft werden sollte als Kind, hatte er mit seinem Hauslatschen auf den Tisch gehauen und zu ihr gesagt, dass sie dann jedes Mal aufheulen solle, damit Mutter denkt, jetzt bekommt sie ihre Abreibung. Und nun diese Bemerkung, die ihr zeigte, dass er sie überhaupt nicht kannte und ihr so etwas zutraute.
Wie war das noch, als sie und Sven die erste Hürde gegenüber den Eltern überwanden? Das war noch ganz am Anfang der Beziehung, da waren Andrea und Rolf noch gar nicht in ihrer Gruppe.
Als Ellen an einem Sonntag wieder bei Sven war, ging die Tür auf und Svens Vater kam ins Zimmer, setzte sich am Fußende aufs Bett. "Sagt mal, ihr beide, wie lange kennt ihr euch jetzt schon? Zwei Monate?" Sie beide nickten und murmelten: "Ja, so ungefähr." "Das ist ja schon eine ganz schön lange Zeit. Ich finde, dass ich mal Ellens Eltern kennenlernen sollte."
"Wozu das denn?" platzte Sven heraus.
"Na, ich finde es ganz normal, dass sich auch die Eltern kennen, wenn ihr so etwas wie eine Freundschaft habt."
"Ich kann mich nicht erinnern, dass du dich je dafür interessiert hast, die Eltern meiner Freunde sehen zu wollen", antwortete Sven mürrisch und trotzig zugleich.
"Na, ich denke, bei einer Freundin ist das etwas anderes. Ellen, frag doch deine Eltern bitte, ob sie am Freitagabend mal eine halbe Stunde Zeit haben, uns, ich meine mich und meine Frau, zu empfangen."
"Wie geschwollen. Was soll denn der Quatsch?", Sven war richtig sauer. "Lass mal, ich weiß schon, was ich tue. Ellen, du bist doch morgen bestimmt wieder hier? Dann kannst du mir Bescheid sagen, ob es deinen Eltern recht ist." Ellen schluckte: "Hmm, okay." "Gut, das war’s. Bis morgen dann."
Beide saßen ziemlich bedrückt auf dem Bett. „Was hatte das zu bedeuten? Hatte das was mit Klassenunterschieden zu tun?“ schoss es Ellen durch den Kopf. Auf solche Ideen konnte sie jetzt nur kommen, weil sie ja bei Gundula im Unterricht derartige Themen behandelten. Ellen hatte Sven natürlich erzählt, dass ihre Eltern Arbeiter waren, keine studierten Leute. Ging das jetzt gegen sie, war sie nicht standesgemäß für den Sohn studierter Eltern oder ging es gegen ihre Eltern, die keine Gelegenheit hatten, weiter zur Schule zu gehen oder gegen ihre ganze Familie?
Ellen merkte, dass sie sauer wurde, sie fühlte sich beleidigt, diskriminiert und sie merkte, dass sie in Gedanken ihre Eltern verteidigte. Nicht jeder bekam eben die Möglichkeiten zu studieren. Auch Sven hatte ihr natürlich etwas von seinen Eltern mitgeteilt, zum Beispiel, dass sein Vater ein ziemlich hohes Tier in einer großen und bekannten pharmazeutischen Firma war.
Sven hing seinen eigenen Gedanken nach, bis er Ellens Gesichtsausdruck wahrnahm und sie nun fragte, was ihr durch den Kopf ging.
"Hast du deinem Vater erzählt, dass meine Eltern Arbeiter sind?"
"Ja, neulich hat er mal gefragt, was denn dein Vater von Beruf ist. Ich hab ihm gesagt, dass er Betonbauer ist und deine Mutter Schneiderin. Er fragte noch, ob du dann den ganzen Tag allein bist, wenn beide Elternteile arbeiten gehen."
"Was will der bloß? Denkt der, ich bin verwahrlost? Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Schon mit zwölf war ich nach der Schule allein und hatte meinen eigenen Schlüssel. Inzwischen ist Mutti ja sogar zu Hause. Seit Marion geboren wurde, arbeitet sie doch in Heimarbeit."
Sie hörten noch ein bisschen Musik. Sven hatte ein tolles Tonbandgerät, ein Stereogerät, und er hatte stundenlang schöne Musik, die sie noch gar nicht kannte. Dann begleitete Sven Ellen ein Stück auf dem Nachhauseweg. Meistens trennten sie sich an der großen Kreuzung, im Dunkeln wollte er nicht, dass sie allein die kleinen Straßen langging, sie sollte die Hauptstraße nehmen. Man wisse ja nie. Es war ein schönes Gefühl, jemanden zu haben, der sich sorgte, dass sie auch gut nach Hause kam. Manchmal brachte er sie auch den ganzen Weg, dann nahmen sie die Abkürzung durch die Nebenstraßen.
Ellens Vater war auf der Couch eingeschlafen, wie fast jeden Abend. Nach dem Essen wollte er zwar immer noch ein bisschen fernsehen, aber meistens schlief er sehr schnell dabei ein.
Sie erzählte erst einmal ihrer Mutter, dass Svens Vater sie kennenlernen wollte, ob es am Freitagabend passen würde. "Oh, da muss ich Vati fragen, ob er da ist. Du weißt ja, wie oft ausgerechnet am Freitagnachmittag noch Beton gekommen ist und er musste bis in die Nacht die Decke schütten. Willi", sie schüttelte ihn sacht an der Schulter. Vater schreckte hoch: "Was? Ja? Schon wieder Schlafenszeit? Bin ich wieder eingeschlafen?" "Ja, ja, aber es ist was anderes, Svens Eltern wollen zu uns kommen, um uns kennenzulernen." "Was, wieso das denn? Hat unsere Kleine was angestellt?" Er setzte sich benommen auf. "Ich weiß nicht, was er will. Vielleicht ist er einfach nur neugierig, wer oder wie wir sind." Mutter hatte sich auf den Sessel neben der Couch gesetzt. Ellen stand noch im Eingang zum Wohnzimmer.
"So, hmm, will uns begucken, oder was? Wann denn? Freitagabend. Was heißt denn das überhaupt? Am Abend. Um acht oder um sechs oder was? Hat er nichts Genaueres gesagt, Ellen?" Mutter wandte sich um zu Ellen.
Ellen war ratlos. Hatte er eigentlich eine Zeit genannt?
"Wann bist du denn zu Hause, Vater?"
"Na, Freitag doch schon früher. Wenn die nicht wieder mal auf die Idee kommen, kurz vor Feierabend noch Beton zu liefern. Ist nicht sechs eine gute Zeit? Nicht zu früh und nicht zu spät?"
"Ja, finde ich auch. Was der wohl will?", Ellens Mutter wiegte den Kopf und nahm einen nachdenklichen Gesichtsausdruck an.
"Hast du nicht gesagt, dass die studiert sind? Vielleicht wollen sie sehen, ob ihr Söhnchen aus studiertem Haus auch den richtigen Umgang hat? Man kommt sich ja vor, als soll man hier überprüft werden, ob man zum Stand passt", der Ton klang schon leicht verärgert. Vater reagierte also auch nicht gerade erfreut.
"Na, reg dich mal nicht auf, Vaterken", beschwichtigte ihre Mutter sofort. "Wir warten erst mal den Freitag ab, was der überhaupt will. Vielleicht will er uns ganz harmlos nur kennenlernen, weil die Kinder zusammen sind."
Ellen ging am nächsten Tag nur widerstrebend zu Sven. Am liebsten hätte sie sich mit ihm irgendwo getroffen. Aber sein Vater wartete ja auf eine Antwort, also überwand sie sich, ging aber ungewöhnlich spät. Es war schon fast sechs Uhr abends. Sie war sehr unruhig und lauerte direkt darauf, dass die Tür aufging und der Vater streng fragte: "Na, welche Nachricht überbringst du mir?" Sven schien genauso nervös. Sie redeten kaum und hörten einfach nur Musik, wobei sie sich umarmend auf dem Bett lagen.
Das Erscheinen des Vaters im Türrahmen war dann fast wie eine Befreiung von einer schweren Last. Noch bevor der Vater fragen konnte, platzte Ellen heraus: "Freitag um 18 Uhr ist okay." Dabei war sie wie eine Rakete hochgeschnellt und saß nun aufrecht.
"Wie? Ach so, ja. Hast du also schon gefragt." Der Vater schien verwirrt. „Was ist denn mit dem los“, fragte sich Ellen. Er hatte ihr doch gestern aufgetragen zu fragen und heute Bescheid zu geben und nun tat er so, als hätte er gar nicht erwartet, dass sie ihm heute die Antwort überbringen würde.
"Aha, du bist ja sehr zuverlässig" hörte sie ihre nicht gestellte Frage von ihm beantworten. "Natürlich", rutschte es ihr empört heraus. "Hmm, na gut, sehr schön, dass es klappt." Er drehte sich um und schloss die Tür.
"Na, der ist ja eigenartig. Hat der also gedacht, ich würde kneifen und den Wunsch, meine Eltern kennenzulernen, gar nicht überbringen? Ich bin zuverlässig, sagt der, als ob ihn das erstaunen würde. Seid ihr nicht zuverlässig? Ich meine, wenn man mir was aufträgt, dann erledige ich das auch. Das finde ich ja schon wieder direkt empörend, dass er an meiner Zuverlässigkeit gezweifelt hat. Findest du nicht?"
"Ach, weißt du, ich kann vieles einfach nicht mehr ernst nehmen, was mir die so manches Mal auftragen."
"Wie? Was die dir auftragen?"
"Ach, die reden manchmal wochenlang nicht miteinander und dann soll ich meiner Mutter was von ihm ausrichten, oder sie hat eigentlich damit angefangen, mir aufzutragen, was ich meinem Vater den nächsten Tag sagen soll. Das ist schon ziemlich bescheuert. Irgendwann habe ich mich einfach geweigert und zu ihr wie auch zu ihm gesagt, dann sollen sie sich gefälligst Zettel schreiben, wenn sie nicht mehr miteinander reden wollen, aber mich da rauslassen. Ich musste nämlich immer die Reaktion ertragen, die eigentlich jeweils für sie oder ihn gedacht war."
"Das ist ja furchtbar. Die ticken, glaube ich nicht ganz richtig. Das wollen erwachsene Menschen sein? Nee, da sind meine Eltern ganz anders. Die haben sich schon ganz schön angeblafft. Einmal hat mein Vater den Aschenbecher gegen den Schrank geworfen."
"Ach, was glaubst du denn. Angeschrien haben sie sich lange genug. Meine Mutter hat dann Geschirr geworfen. Da hat mein Vater gebrüllt, 'du bist ja hysterisch, mit dir kann man nicht mehr reden, du bist ja reif für die Anstalt. Schluss damit.' Ja und dann sprach er einfach nicht mehr mit ihr. Er tat so, als gäbe es sie überhaupt nicht."
"Und wie ist es jetzt?"
"Das weiß ich gar nicht so genau. Interessiert mich auch nicht. Aber er will ja mit ihr zu deinen Eltern. Dann muss er ja wohl mit ihr reden, damit sie überhaupt mitgeht."
Am Freitag, kurz bevor seine Eltern eintreffen sollten, kam Sven. Sie zogen sich ins Schlafzimmer zurück, in dem das Doppelstockbett stand. Ellen schlief oben, ihre kleine Schwester unten, weil sie immer noch nachts in Muttis Bett wollte. Sie war jetzt gerade fünf Jahre alt geworden. Schon stand sie bei ihnen: "Das ist aber mein Bett." "Ja, ich weiß, lass uns doch mal einen Moment hier sitzen. Wir können ja wohl schlecht beide da raufklettern." "Warum denn nicht? Ist doch lustig." Sie kicherte und verschwand wieder.
Ellen hörte, wie ihre Mutter aufgeregt fragte: "Muss ich ihnen was anbieten? Gegessen werden sie wohl schon haben. Oder erwarten die Essen?"
"Lass man, wenn wir was zu trinken anbieten, reicht das", meinte Vater.
Als Svens Eltern eintrafen, gingen Ellen und Sven ein Stück spazieren, da konnten sie ungestört reden. So kalt war es ja draußen nicht mehr, es war schon fast Frühling.
"Dein Vater will uns bestimmt auseinander bringen", brachte Ellen bedrückt hervor. "Das wird er aber nicht schaffen", antwortete Sven entschlossen. "Wie lange werden die wohl reden?" fragte Ellen nervös, als ob Sven die Antwort wüsste. "Lass mal, der kann nicht alles einfach nur bestimmen, meine Mutter versteht uns, die ist auf unserer Seite", sprach Sven ihnen beiden Mut zu, wobei er ihre Hand nahm. Ihre Nervosität trieb sie nach etwa zwanzig Minuten zu Ellen nach Hause. Svens Eltern waren tatsächlich gerade gegangen.
"Na, was ist dabei herausgekommen?" platzte Ellen voller Ungeduld heraus. "Na gut, setzt euch mal kurz hin", bat Ellens Mutter. "Also Svens Eltern geben dir, mein Kind, die Schuld daran, dass Sven so schlecht in der Schule geworden ist, dass er das Klassenziel, wie es so schön heißt, nicht erreichen wird." und zu Sven gewandt: "Du wirst wohl sitzenbleiben. Es war im Übrigen eher dein Vater, der meinte, die intensive Freundschaft zu Ellen ist verfrüht, du bist noch nicht reif genug für solch eine feste Beziehung und außerdem dürfe die schulische Leistung darunter nicht leiden."
Ellens Vater mischte sich ein: "Ich finde ja auch, dass ihr noch ein bisschen jung seid. Ich meine, Mädchen, du bist ja nun gerade mal fast siebzehn. Mutti, was sagte Svens Vater, wie alt war der Junge doch gleich?" "Fünfzehn, aber bald sechzehn" hatte Ellens Mutter sofort parat. "Nun ja, für die ersten Erfahrungen mit Mädchen finde ich das eigentlich okay", räumte Ellens Vater ein. "Aber dein Vater hat da eben seine eigenen Vorstellungen. Ich meine, in unserer Zeit war es ganz anders, da fing man eben später an." "Ja und, was hat das nun zu bedeuten? Ich meine, hat er was gesagt, dass er verbietet, dass wir uns weiterhin sehen? Oder was?" fragte Ellen ungehalten.
"Äh, das hat er so direkt nicht gesagt", brachte ihr Vater zögernd hervor. "Er wünscht, dass sein Junge bessere schulische Leistungen erbringt. Aber ich meine, damit hast du ja eigentlich nichts zu tun. Sven" sprach er diesen nun väterlich an "kümmere dich doch einfach ein bisschen mehr um die Schule. Ellen macht doch, soweit ich das mitkriege, auch immer ihre Hausaufgaben, bevor sie zu dir geht. Dann ist er doch zufrieden, hmm", er zwinkerte ihm zu. Sven nickte nachdenklich. Dann platzte es aus ihm heraus: "Die haben natürlich kein Wort davon gesagt, dass sie fast täglich bis in die Nacht streiten, nicht wahr?"
Ellens Eltern tauschten vielsagende Blicke. Daher wehte also der Wind. "Vielleicht solltet ihr Euch in den nächsten Wochen nicht jeden Tag sehen", schlug Ellens Mutter vor und der Vater fiel ein "und du büffelst schön für die Schule, mein Junge. Für dieses Schuljahr ist es wohl schon zu spät?" Sven huschte ein Lächeln über das Gesicht.
Ellen war bedrückt. Wollte Svens Vater, dass sie sich nicht mehr treffen? Dann fand er bestimmt auch Wege, dies zu verhindern. Vor dem hatte sie mehr als Respekt, ja sie musste sich eingestehen, dass sie ein bisschen Angst vor Svens Vater hatte. Sie war jedenfalls immer froh, wenn Sven sagte, dass er nicht da ist.
Am nächsten Tag in der Schule fragte sie Sven, was der Besuch der Eltern für Konsequenzen hätte, ob sie sich jetzt nicht mehr sehen dürften? Oder ob es wirklich ausreichte, wenn sie sich nicht täglich sahen.
Sven nahm sie in den Arm: "Das können sie uns doch nicht verbieten. Wenn ich dich nicht hätte, könnte ich ja mit niemandem über meine Probleme reden. Die beiden machen doch die Schwierigkeiten. Die sind so mit sich beschäftigt, dass sie uns Kinder doch nur nebenbei wahrnehmen."
Sven hatte einen älteren Bruder, der schon nicht mehr im Hause wohnte, und einen jüngeren, der oben im ersten Stock sein Zimmer bewohnte.
Die Eltern stritten fast jeden Abend, wenn der Vater nach Hause kam. Weil die Frau wahrscheinlich vor lauter Frustration wieder mal nicht sauber gemacht und nichts zu Essen gekocht hatte, sondern den ganzen Tag auf der Couch gelegen und gelesen und herumgefuttert hatte.
An einem Nachmittag, Ellen konnte sich gar nicht mehr erinnern, wo Sven war, erzählte die Mutter Ellen ein bisschen über sich. Sie hatte auch studiert, an der Uni hatte sie ihren Mann kennengelernt. Sie heirateten, dann ging sie arbeiten und verzichtete freiwillig auf das Weiterstudieren, weil einer ja für den Lebensunterhalt sorgen musste. Als sie wieder anfangen wollte, nachdem der erste Sohn fast in die Schule kam, hatte ihr Ehemann einen guten Posten erhalten und ihr damit untersagt, etwas anderes zu tun, als im Hause für die Familie zu sorgen. Dieser Zustand hielt nun seit über fünfzehn Jahren an und sie hatte das Gefühl, das Leben sei an ihr vorübergegangen. Er sonnte sich in seiner guten Stellung und inzwischen schämte er sich ihrer. Er nähme sie zu den ganzen Veranstaltungen, Einladungen, Bällen nicht mit. Sie sei abgestempelt, wahrscheinlich hatte er sogar eine nette gut aussehende Kollegin, die ihn überallhin begleitete. Von Scheidung war die Rede.
Das war wohl eher der Grund, weshalb Svens Leistungen abfielen. Ständiger Streit zu Hause. Vielleicht konnte er sogar seine Mutter verstehen.
Die erste Hürde hatten sie also überstanden. Sie waren dem Rat von Ellens Mutter gefolgt und hatten sich nur jeden zweiten Tag getroffen. Sven zeigte seinem Vater seine Hausaufgaben, damit dieser beruhigt war. Um das tun zu können, musste er häufig bis in die Nacht aufbleiben, denn sein Vater kam immer öfter erst mitten in der Nacht nach Hause, wahrscheinlich, um Streit mit seiner Frau zu vermeiden, in der Hoffnung, dass sie schon schlafen würde und ihr selbst die abendlichen oder vielmehr nächtlichen Auseinandersetzungen zu viel wurden.
An einem Sonntagmittag betrat Ellen, wie gewöhnlich von hinten durch den Garten kommend, die Küche, als sie Svens Vater am Herd stehen sah. Offensichtlich war er dabei, Essen zu kochen.
Sie erschrak und blieb an der Tür stehen. Der Vater drehte sich um: "Ach du bist es Ellen. Komm doch rein." Er lächelte freundlich und machte eine einladende Handbewegung. "Magst du nachher mit uns essen? Ich glaube, die Jungen brauchen mal ein richtiges Mittagessen. Sven ist drin. Ich sag dann Bescheid, wenn es fertig ist."
Ellen beeilte sich, in Svens Kammer zu verschwinden. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, flüsterte sie mit einer leichten Kopfdrehung nach hinten, und indem sie mit dem Daumen ebenfalls nach hinten zeigte: "Dein Vater ist ja da."
"Ja, ja", kam gleichmütig von Sven, „der hat plötzlich eine häusliche Ader entdeckt oder sein Familiensinn ist irgendwie zurückgekehrt. Gestern war er auch schon hier und hat gekocht. Wir durften dann abwaschen."
"Und wo ist deine Mutter?" "Na, wo schon? Im Zimmer auf der Couch." "Ohne Krach?" "Er hat wohl beschlossen, sie einfach zu ignorieren. Er hat auch schon zum gemeinsamen Frühstück getrommelt."
"Und sie?" "Wir haben auch für sie gedeckt, aber sie hat nichts angerührt. Sie blieb auf der Couch liegen und tat, als schliefe sie."
"Das kann ja heiter werden, er hat mich zum Mittagessen eingeladen."
"Du wirst es überstehen", erwiderte Sven kühl.
Ellen war etwas befremdet, deswegen brauchte er sie doch nicht so abzufertigen. "Was hast du denn? Ich kann doch nichts dafür."
"Na ja, ist doch wahr, was der sich nun wieder einfallen lässt. Wir sitzen wieder zwischen den beiden. Am besten, man hält sich neutral, wenn er morgen tagsüber weg ist, jammert sie einem sonst wieder die Ohren voll, dass er es also geschafft hat, uns auf seine Seite zu ziehen. Da bleibt einem ja weiter gar nichts übrig, als lieber gar nichts zu sagen und nichts zu tun, dann kann keiner von ihnen hinterher was reden."
"Und wenn wir nicht mitessen?"
"Ach Hunger habe ich schon. Gestern, das hat ganz lecker geschmeckt. Hätte ich meinem Alten gar nicht zugetraut, dass der überhaupt kochen kann. Komm erst mal her. Kriege ich heute gar keinen Begrüßungskuss?"