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Jesse: Licht und Schatten II

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Der Jahrhundertmaler Claude Monet und alle bekannten und berühmten Wegbegleiter seiner Zeit werden in diesem raffinierten Werk wieder zum Leben erweckt.

Der Maler Claude Monet – Impressionist der ersten Stunde – erwacht wieder zum Leben. Auch seine Freunde und Feinde kommen hervor aus ihren ruhmreichen Mausoleen – oder aus ihren vergessenen Gräbern, – gesellen sich ihm zu und machen sich mit Monet, dem ›Prinz der Impressionisten‹, noch einmal auf den gemeinsamen Weg zu dem größten Abenteuer ihres Lebens.

Der Leser sitzt mit Monet und seinen Zeitgenossen aus Kunst, Literatur und Politik am selben Tisch; er hungert mit und er tafelt mit; er zecht mit und er streitet mit; er hasst mit und er liebt mit; er sieht Monet beim Malen über die Schulter; er erleidet die Ängste, die Ungewissheit und die Verunglimpfungen der frühen Jahre mit, er erlebt aber auch den späten Durchbruch Monets zu Ruhm und Reichtum mit.

 

Mit Rezepten der altfranzösischen Küche, wie Claude Monet sie genießen konnte – zum Nachkochen.

 

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Dr. Reiner Jesse: Nach seinem ›ersten Leben‹ als Facharzt für Herz- und Gefäßkrankheiten und nach seinem ›zweiten Leben‹ als Maler begann der Autor 2007 (geb. 1941) sein ›drittes Leben‹ – als Schriftsteller.

 

›Licht und Schatten‹ ist – nach mehreren Buchveröffentlichungen – nun sein erster Roman, ein Roman um das dramatische Leben des Malers Claude Monet als Mensch und als Künstler in einem bewegten Jahrhundert.

 

Nicht unbedacht hat der Autor gerade dieses Sujet gewählt. Zum einen sind ihm Krankheit, wie sie das Leben des Protagonisten in seinem letzten Lebensjahrzehnt verdunkelte, als Arzt bestens bekannt; zum anderen hat er sich als Maler vornehmlich von Monet und dessen ›wunderbarstem Auge‹ stets tief bewegt gefühlt. 

 

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Jesse: Tau in Ihren Augen I

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Der einzigartige Roman über das kurze, abenteuerliche und dramatische, von Drogen und Lungentuberkulose verdüsterte Leben des Ausnahmekünstlers Amedeo Modigliani in der Pariser Bohème von Montmartre und Montparnasse

Der naive, wohlerzogene und äußerst gebildete jungen Amedeo Modigliani wächst zunächst von seiner Mutter behütet in der Pariser Bohème von Montmartre und Montparnasse auf. Doch Alkohol, Drogen und sexuelle Exzesse wurden ihm wenig später zum Verhängnis, führten zu einem dramatischen sozialen und charakterlichen Verfall der Persönlichkeit, von dem die künstlerische Entwicklung und der künstlerische Aufstieg in olympische Höhen unbeeinflusst und unbeschadet blieben.

Ein Roman, in dem der Leser in die Pariser Bohème jener bewegten Jahre entführt wird und in dem er nicht nur die Maler Pablo Picasso, Maurice Utrillo, Henri Rousseau, Chaim Soutine und Moise Kisling, nicht nur die Bildhauer Constantin Bráncusi und Jacques Lipchitz, sondern auch die Literaten Max Jacob, Guillaume Apollinaire und Gertrude Stein hautnah miterleben wird – ganz so, als wäre er seinerzeit dabei gewesen: Die exzessive Dramatik eines ungewöhnlichen Künstlerlebens in einer Magma aus Leidenschaften – anschaulich, emotional und spannend.

 

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Der Autor: Dr. med. Reiner Jesse, geb. 1941, hat sich neben seiner beruflichen Tätigkeit als niedergelassener Kardiologe stets für Malerei und Kunstgeschichte interessiert. In Ausstellungen zeigte sich desgleichen seine eigene malerische und grafische Begabung. Seine besondere Liebe gilt der Malerei des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts in Frankreich. Die auf diesem Gebiet gewonnen, geradezu professionellen kunsthistorischen Kenntnisse spiegeln sich in seinen biografischen Künstlerromanen wider, und zwar nicht nur insoweit kunsthistorische Ereignisse betroffen sind, sondern auch was das Einfühlungsvermögen in die individuellen Charaktere der Protagonisten und deren anschauliche sprachliche Darstellung angeht.   

 

Reiner Jesse: Der Tau in ihren Augen, 815 Seiten, Broschur, € 17.98, ISBN 978-3-86992-050-4

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Leseprobe:

Prolog

 

Modigliani

Haschisch und Brandy

Vor vierzig Jahren veranstaltete die couragierte Pariser Kunsthändlerin Berthe Weill, bei allen Künstlern des Montmartre beliebte Mäzenatin hoffnungsvoller Talente, für den damals 34-jährigen italienischen Maler Amedeo Modigliani eine erste Ausstellung. Um das Publikum zu animieren, die Bilder des unbekannten Künstlers anzusehen, hängte Berthe Weill vier einladende Mädchenakte Modiglianis ins Schaufenster. Schneller noch als das Publikum wurde aber der Polizist auf diese Bilder aufmerksam, der an jenem Morgen im 9. Pariser Arrondissement seinen Streifengang machte. Er musterte sorgfältig die dargestellten eleganten, langgestreckten Mädchenkörper und entschied, dass diese Bilder sofort entfernt werden mussten, wenn nicht die gesamte Ausstellung geschlossen werden sollte. Die Publicity, die ein solcher Polizisten-Entschluss dem Maler Modigliani immerhin einbrachte, hatte aber im Jahre 1918 noch durchaus andere Folgen, als ähnliche Maßnahmen heute bewirken würden.

Unter Berufung auf das Polizisten-Urteil brachte der einzige Sammler, der überhaupt ein Bild aus der Ausstellung erworben hatte, seinen Kauf wieder zu Berthe Weill und verlangte die Rückzahlung der Kaufsumme. Schweren Herzens zahlte ihm Mme. Weill seine 250 Francs wieder in die Hand – einen Betrag, der etwa 200 Mark deutscher Vorkriegswährung entsprach.

Als in diesem Frühjahr die Pariser Galerie Charpentier im eleganten Faubourg Saint-Honoré ihre erste umfassende Ausstellung von Modigliani- Bildern vorbereitete – sie zeigt hundert von den insgesamt etwa 350, die Modigliani malte –, schloss sie vorsorglich einen Versicherungsvertrag ab, dessen Wert nach Meldungen französischer Zeitungen höher ist als für irgendeine Pariser Kunstaustellung zuvor. Die Galerie Charpentier versicherte die von ihr aus aller Welt entliehenen Bilder mit 4 Milliarden Francs, das sind 40 Millionen Mark. Kaum eines der hundert ausgestellten Bilder wäre heute, wenn überhaupt, zu einem Preis unter 100 000 Mark verkäuflich.

Nun ist der Wertzuwachs der Modigliani-Bilder keine singuläre Erscheinung. Auch Bilder etwa von Vincent van Gogh (SPIEGEL 50/1957) oder Pablo Picasso (SPIEGEL 52/1956), die zu Modiglianis Lebzeiten für geringste Summen zu kaufen gewesen wären, erreichen heute auf dem Kunstmarkt ähnlich hohe Kurse. Bereits zwei Jahre nach Modiglianis Tod kaufte ein amerikanischer Forscher alle ihm erreichbaren Modigliani-Bilder und zahlte etwa dreitausend Mark pro Stück; im Jahre 1929 entrichtete ein englischer Sammler den damals als Sensation empfundenen Preis von etwa 35 000 Mark für ein Aktbild von Modigliani.

Den Kunsthändlern, Museumsdirektoren und Sammlern sind Modiglianis Bilder seit langem teuer. Dass aber die Bewunderung für Modigliani nun nicht weiter auf den vergleichsweise kleinen Kreis der Kunstkenner beschränkt bleibt, sondern dass es – 38 Jahre nach dem Tod des Malers – zu einer Art Modigliani-Renaissance kommt, ist ein durchaus einzigartiges Phänomen: Am Morgen des Tages, an dem Charpentier seine Ausstellung eröffnete, standen nicht weniger als 8 000 Besucher bereits vor dem noch verschlossenen Eingang Schlange.

 

DER SPIEGEL 21/1958

                                   

                       

 

 

 

 

Erster Teil

 

Helena und Aphrodite

Cagnes-sur-Mer – Nizza

1918

 

 

Kapitel 1

  

Der 28. Juni 1918 war ein herrlicher Sommertag wie man ihn nur träumen konnte. An einem solch sonnigen Tag, dem ›Veitstag‹, hatte vor vier Jahren der Serbische Nationalist Gavrilo Princip in Sarajewo die Schüsse in die Körper des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand von Habsburg und dessen Gemahlin Sophie Chotek peitschen lassen. Jene Schüsse, die von einer uneinsichtig und gnadenlos regierenden Vorsehung dazu bestimmt waren, in überstürzter, schicksalhafter Folge den Ersten Weltkrieg auszulösen. Vier Jahre wütete nun schon dieser Krieg; vier bittere, mörderische Jahre. Unmengen von Blut hatte die französische Erde getrunken. Junges, kostbares Blut: französisches Blut, deutsches Blut, englisches Blut, zuletzt auch amerikanisches Blut. ›Blutsäufer‹ nannten die französischen Soldaten ihren General Georges Robert Nivelle nach der Rückeroberung des Fort Douaumont bei Verdun und nach der Doppelschlacht an der Aisne und in der Champagne. ›Blutpumpe‹ nannten die deutschen Soldaten die Schlachtfelder an der Marne, von Ypern und von Verdun. –

In Südfrankreich waren die Greul des Krieges weniger zu spüren. Die Gefahr, man könne in Kampfhandlungen einbezogen, mit Bomben belegt und von deutschen Truppen besetzt werden, war im Süden Frankreichs kaum gegeben. Diese Gefahren allerdings hatten jüngst die Einwohner von Paris fürchten müssen; jedenfalls hatte solche Befürchtung panikartig um sich zu greifen begonnen, ob begründet oder unbegründet, das mochte dahingestellt bleiben. Nicht wenige Franzosen waren daher aus dem Norden und aus der Île-de-France in den Süden Frankreichs geflohen. Wer immer konnte, der setzte sich ab in den vom Glück begünstigten ›Le Midi de la France‹. Glücklich die, die sich eine solche Flucht leisten konnten!

Zu diesen Glücklichen zählte der aus Livorno stammende Maler Amedeo Modigliani, der seit 1906 in Paris lebte. Der Krieg war allerdings nicht der einzige Grund für Modiglianis Flucht gewesen. Ein längerer Aufenthalt im Süden sollte auch der Besserung seines Lungenleidens dienen. Noch in seiner Geburtsstadt Livorno – 1895, im Alter von elf Jahren – war Amedeo an einer Rippenfellentzündung erkrankt, die nicht hatte ausheilen wollen. Die Erkrankung hatte sich bereits drei Jahre später erneut zurück gemeldet, und zwar in Form einer heftigen Lungenentzündung, die schließlich als Tuberkulose erkannt worden war. Seit dieser Zeit waren die Lungen des hochbegabten, frühen Genies geschwächt. Die chronische, unheilbare Lungentuberkulose – tückisch und unversöhnlich – hatte Amedeo Modigliani bereits in seinen jungen Jahren wiederholt darnieder geworfen. Das Klima der grauen, großen Stadt Paris und auch der grünen, ländlichen Île-de-France – ungeachtet meist warmer Sommer – mag wohl durch Kühle und Feuchte im Herbst und im Frühling, besonders aber nicht selten durch Eiseskälte, schneidenden Wind und anhaltenden Schnee im Winter einer Besserung oder gar einer erhofften Heilung im Wege gestanden haben. Beheizte Ateliers hatte Amedeo Modigliani sich nicht leisten können. Alkohol und Drogen hatten wohl ein wenig helfen können, Kälte und Hunger zu ertragen. Die Pariser Kälte und den Hunger eines erfolglosen, unbekannten Malers und Bildhauers recht und schlecht zu überleben, das hatten Branntwein und Absinth, Haschisch und Opium wohl über einige Jahre möglich gemacht, – mag sein! – nicht unbedingt jedoch das fragwürdige Schicksal, mit Lungentuberkulose leben zu müssen und diese vielleicht sogar überleben zu können; eine Angst und Schrecken verbreitende Seuche, die noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht selten das ganze Leben und den ganzen Menschen dahinraffte und endlich wie ein gieriges Raubtier mit Haut und Haar auffraß, oft tückisch und schleichend im Zeitmaß der Jugend, nicht selten aber in jedem anderen Lebensalter, wild und ungestüm und rasch wie im Augenblick eines flüchtigen Lidschlags. –

Von einem längeren Verweilen unter dem klaren Himmel des Südens – unter dem Amedeo schließlich geboren war – von einem Verweilen in der Sonne und in dem milden Klima der Côte d´Azur wagte man nun auf Besserung oder gar auf Heilung der angegriffenen Lungen zu hoffen. Dieser Hoffnung hatte der Hausarzt der Familie von Monsieur Léopold Zborowski Ausdruck verliehen, eines Kunsthändlers an der ›Académie des Beaux-Arts‹, der sich Amedeos Wohlergehens angenommen hatte. Auch eine gesunde, ländliche Umgebung würde der geschwächten Gesundheit des Künstlers gut tun. Hier bestand kaum die Versuchung und nur schwerlich die Möglichkeit, die Nacht zum Tag zu machen, wie dies Amedeo Modigliani in den belebten Straßen um die place du Tertre auf dem Montmartre und um das ›Café de la Rotonde‹ in Montparnasse zur Gewohnheit geworden war. Die Côte d´Azur lag weit entfernt von jenem rauschhaften Taumel, von jenem mehr der Nacht als dem Tag zugehörigen, von jenem endlosen Fest der Sinne, das den heraufdämmernden Morgen in seinem fahlen, nüchternen Licht hasste – hasste wie alle jene Wesen den Morgen hassten, die diesem Fest verfallen waren und sich den Träumen der Nacht mehr als den Notwendigkeiten des Tages hingegeben fühlten; – hingegeben wie ein jeder eben, der ein rechter Pariser Künstler in der berüchtigten Bohème von Montmartre und von Montparnasse sein wollte. – Von jenem ausschweifenden Leben also – manche wagten in der Tat dieses Leben sogar ›lasterhaft‹ zu nennen – von jenem ausschweifenden Leben also, das Amedeo Modiglianis geschwächter Widerstandskraft, unter der zerstörerischen Mithilfe von Alkohol, Haschisch und zahllosen erotischen, entkräftenden Abenteuern Vorschub geleistet hatte und einer Gesundung im Wege stand – von einem solchen Leben also lag die Côte d´Azur weit entfernt. Weit genug, wollten Amedeo Modiglianis Freunde meinen, jedenfalls stand dies zu hoffen. Dies jedenfalls war nicht nur die Hoffnung des Arztes, es war auch die feste Überzeugung von Léopold Zborowski. Léopold Zborowski, ein seit 1910 in Paris ansässiger polnisch-jüdischer Dichter und Kunsthändler aus Warschau, hatte Amedeo Modigliani vor zwei Jahren durch die Vermittlung des Malers Moise Kisling kennengelernt, der mit Modigliani befreundet war. Zborowski fühlte sich von den Bildern Modiglianis nicht nur persönlich außerordentlich angezogen und verzaubert; sie entsprachen nicht nur seinem Form- und Farbempfinden, nicht nur seinem Verständnis von einer neuen, von einer in die Zukunft weisenden Bildniskunst. Er erkannte auch die ganz eigene, unvergleichliche, in der Tat eigenwillige Gestaltungskunst Modiglianis, die keiner der aktuellen avantgardistischen Stilrichtungen – wie etwa dem Kubismus, dem Fauvismus oder dem Expressionismus – im strengen Sinne entlehnt und anzugehören schien. Und Zborowski witterte, dass mit dieser Kunst, deren Bedeutung noch kaum einer der Kritiker und Galeristen von Rang und Namen zu ahnen oder zu sehen vermochte, in nicht allzu ferner Zeit blendende Geschäfte zu machen seien. Zborowski hatte ohne zu Zögern den unbekannten Italiener – diesen Niemand Amedeo Modigliani! – gewissermaßen unter Vertrag genommen. Er war nicht nur Modiglianis ausschließlicher Galerist geworden. Er zahlte dem Maler auch eine monatliche Rente von 500 Franc und hatte ihm ab dem Sommer 1916 seine Wohnung in der rue Joseph-Bara Nr. 3 als Atelier zur Verfügung gestellt. Natürlich hatte der geschäftstüchtige Zborowski sich ausbedungen, dass Modigliani auch regelmäßig arbeite – nicht nur hin und wieder wie bisher, wenn er gerade einmal nüchtern war – und dass er für die Aufwendungen zu seiner Unterhaltung mit seinen Bildern seinen Wohltäter wenn auch nicht gänzlich schadlos halten, so doch wenigstens symbolisch entlohnen würde. Léopold Zborowski war eben als jüdischer Geschäftsmann wesentlich begabter denn als polnischer Dichter! – Léopold Zborowski war es auch gewesen, der Amadeo Modigliani zu einem längeren Erholungsaufenthalt an der Côte d´Azur überredet hatte. Amedeo war nur schwer zu überzeugen gewesen, sein geliebtes Paris zu verlassen und Zborowski in den Süden zu folgen. Deutsche Bomben auf Paris, die Gefahr einer Besetzung der Hauptstadt durch deutsche Truppen: sei´s drum! Amedeo waren diese möglichen Gefahren in Wirklichkeit gleichgültig. Der Maler konnte sich nicht vorstellen, außerhalb seiner vertrauten und geliebten Bohème in Montmartre und in Montparnasse zu leben. Die Gewohnheit, sein croissant ausgiebig in Absinth zu tauchen, bevor er das Gebäck als Nahrungsmittel missbrauchte, sich allemal für eine Flasche Calvados´ oder Pommeaus oder irgendeines Branntweins anstelle einer warmen Mahlzeit zu entscheiden, – wenn mangels Franc in seiner Tasche nur eine der beiden Alternativen zur Wahl stand, – sich tags und nachts mit irgendjemand zu prügeln oder mit leicht zu erobernden Schönheiten und mit mademoiselles aus dem Rotlichtmilieu in den Cafés oder in den nächtlichen Straße zu tanzen, derlei liebgewordenen Gewohnheiten zu frönen war ihm allemal lieber, als sich im milden Klima des Südens ausreichend Schlaf, frische Luft und gesunde Ernährung zur Wiederherstellung seiner Gesundheit gefallen zu lassen. Rücksicht auf seine Gesundheit? Seine Gesundheit – was spielte die schon für eine Rolle! Wenn es nicht anders gehen wollte, dann musste seine Gesundheit eben in den Straßen und in den Cafés von Montmartre und von Montparnasse seinem Werk geopfert werden! Schließlich erschuf er sein Werk aus den Ingredienzen der zwar sündhaften, verruchten, zugleich aber von allen Zwängen befreienden und zu außerordentlicher Kreativität stimulierenden Pariser Bohème, und nicht aus der Quelle ausreichenden Schlafes, frischer Luft und bekömmlicher Ernährung in ländlichen, langweiligen, wenngleich keuschen und der Gesundheit förderlichen Regionen, wie etwa in der Normandie oder im ›le midi‹. Endlich war es Léopold Zborowski auch nur gelungen, Amedeo Modigliani zu diesem Aufenthalt an der Côte d´Azur zu überreden, als er dem Maler versprach, auch dessen jüngste erotische Eroberung, die zwanzigjährige Jeanne Hébuterne, sowie Modiglianis Malerfreund Chaim Soutine mit in den Süden einzuladen. Und als Amedeo Modigliani sich immer noch starrköpfig gebärdete und von seiner Pariser Bohème nicht lassen wollte, da lockte ihn Zborowski mit der Begleitung von Lunia Czechowska.

Modigliani schätzte Lunia Czechowska nicht nur als Modell. Trotz seines leidenschaftlichen Verhältnisses mit Jeanne Hébuterne und ungeachtet der vor Gott und den Menschen geschlossenen Ehe der Czechowska mit einem durchaus ehrenwerten, leider jedoch an die Front abkommandierten Jugendfreund Zborowskis, warb Amedeo seit langem insgeheim um die Gunst der schönen, sensiblen, geheimnisvoll tiefgründigen, zugleich aber lebhaften und verführerischen Polin Lunia Czechowska. Vier Porträts hatte er bis zu diesem Tag von Lunia gemalt: vor einem Jahr drei Brustbilder der Lunia Czechowska, zwei mit weißer Bluse und eines mit schwarzem Kleid noch in Paris, und in diesem Jahr, kurz nach der Ankunft in Cagnes-sur-Mer, ein Portrait. Alle in Paris entstandenen Bildnisse waren von düsterem, bläulichem Kolorit. Sie zeigten Lunia mit nach rechts gewandtem Gesicht, einmal sogar im Halbprofil; eine Perspektive, wie sie Amedeo Modigliani bei seinen Porträts eher selten wählte. Das an der Côte d´Azur entstandene Porträt hingegen war auf Türkis und warmes, rötliches Umbra gestimmt und entfaltete einen wesentlich helleren, belebteren Fleischton. Das Gesicht war dem Betrachter frontal zugewandt, die Lippen leicht geöffnet, so als würde Lunia gerade aufseufzen, allerdings mit trotzig und sperrig sichtbaren, aufeinandergepressten Zähnen (1). Wollte der Maler mit diesem in seltsamer Prätention und Deutlichkeit ausgeführten Zahngatter auf die Zurückweisung seiner Leidenschaft durch die schöne Polin hinweisen? Vielleicht! – Wahrscheinlich aber wusste er dies selbst nicht genau. –

Es war unübersehbar: Modiglianis Palette hellte sich unter der südlichen Sonne auf, seine Farben wurden strahlender und durchsichtiger; so wie seine Hoffnung sich aufhellte, vielleicht nun doch die Gunst Lunias gewinnen zu können. – Dennoch: bisher war seinem Werben um die Gunst der schönen Lunia Czechowska kein Erfolg beschieden gewesen. Die schöne Polin hing offenbar ihrem Ehemann treu an, auch wenn dieser an der Erfüllung seiner ehelichen Pflichten durch ein widriges Fatum verhindert war. Sie hatte die Erwartungen des feurigen Künstlers auf eine heiße, leidenschaftliche Liebesnacht hartnäckig abzuweisen gewusst. Vielleicht aber würde sich der Erfolg nun an dem blauweißen Gestade der Côte d´Azur, unter den Kronen der Palmen und unter den Amedeo vertrauten Gestirnen der samtblauen südlichen Nacht einstellen, so wagte Amedeo jedenfalls zu hoffen. –

Auch die zu einer verhaltenen Schwermut neigende, an äußerlichem Reiz der schönen Lunia Czechowska allerdings nachstehende Hanka Zborowska, die sich als angebliche Ehefrau Léopold Zborowskis gerne ›Anna Zborowski‹ rufen ließ, hatte für Amedeo eine Versuchung dargestellt, dem Drängen seines Freundes und Wohltäters nachzugeben und dessen Einladung in den Süden zu folgen. Allerdings blieb es ein Geheimnis, ob Anna wirklich die angetraute Ehefrau Léopold Zborowskis oder nur dessen Geliebte und Lebensgefährtin war. Amedeo sah in diesem Geheimnis durchaus eine Versuchung, auch um die Gunst der etwas verschlossenen Polin Anna Zborowski zu buhlen. Zwei Bildnisse hatte Amedeo von der geheimnisvoll- kühlen Anna vor einem Jahr geschaffen. Das eine der Bildnisse fiel durch seine lichte, auf Gelb und Rot gestimmte Farbigkeit auf. Anna wandte in dem Porträt dem Betrachter ihr Antlitz frontal zu, sah ihn aber nicht in die Augen, sondern hielt ihren Blick nach links gerichtet. Ein ornamental ausladender, plissierter Kragen in strahlendem Weiß umrahmte den schlanken Hals, der allerdings nicht so auffallend überhöht war, wie dies Amedeo ansonsten bevorzugte (2). Das andere der Bildnisse zeigte Annas schlanken, eleganten Körper bis zu den Knien als uniforme Fläche, verhüllt von einem langen, schwarzen Gewand. Ihre Gestalt zerschnitt diagonal von links oben nach rechts unten die Bildfläche, lehnend auf einem Diwan, lang hingestreckt, zerbrechlich und ätherisch, wie schwebend. Das Gesicht am oberen linken Bildrand war im Vergleich zum Körper eher klein und im Halbprofil nach links gewandt, das beruhigende Oval von gescheiteltem, dem Kopf streng anliegendem, schwarzem Haar umrahmt. Von ebenderselben lichtlosen Schwärze wie Kleid und Haar waren auch die mandelförmigen Augen ohne Pupillen und ohne Lichtreflexe. Dennoch wirkten die Augen nicht tot, nicht wie ausgestochen, sondern eigenartig lebendig und interessiert. Obgleich die Augen leer schienen, wirkte ihr Blick nicht wie auf ähnlichen Porträts Modiglianis nach innen gerichtet. Das in hellem Gelb leuchtende Oval des Gesichtes wurde von einem schlanken, überhöhten, ebenfalls als hellgelbes Oval gestalteten Hals getragen, dessen vertikale Form sich in den seitlich auf der Diwanlehne gelagerten, ineinandergefügten, überschlanken und überlangen Händen wie in einer horizontal gefestigten Abstützung vor einem chromoxydgrünen Kissen wiederholte (1). Gegen die Schwärze der Gestalt schien der Hintergrund von einer dunkelrot und rußgrün wabernden Glut erfüllt; ein verhaltenes, geheimnisvolles, dennoch aber leidenschaftlich brennendes Glühen, das hinter der ruhigen Schwärze der unbewegten Gestalt eine sehnsuchtsvolle erotische Zuwendung des Malers zu seinem Modell verraten mochte. –

Amedeo Modigliani liebte Frauen über alles. Mehr als die anderen Maler von Montmartre und von Montparnasse war er dem Zauber und der Verlockung schöner Frauen verfallen. Aber Amedeo liebte Frauen nicht in jenem esoterischen Sinn, den man einem Künstler mit sublimiertem Geschlechtstrieb bereit ist im Allgemeinen zuzubilligen. Nein, Amedeo bedurfte der Frauen wie ein Hungriger der Nahrung: er verzehrte sie förmlich, er verzehrte ihr Fleisch, ihre Glieder, ihre Scham. – Er verzehrte sogar ihre Augen! – Amedeo Modigliani verzehrte die Frauen und verbrauchte sie wie eine Speise. Er war ein zivilisierter Kannibale, der in einem der Kunst huldigenden Ritus aus Genuss und Trance, aus Zerstörung und Neubildung seinen Hunger nach weiblichem Fleisch stillte – nach Frauen, – nach schönen Frauen, nach verführerischen Frauen, – nach reifen Frauen, nach wissenden Frauen, – aber ebenso nach unschuldigen Mädchen, – nach scheuen Mädchen, nach furchtsamen Mädchen, nach erschrockenen Mädchen, – nach erweckungsbedürftigen Mädchen. – Er streichelte ihre pfirsichfarbene Haut, er versenkte sich in den Duft ihres Haares, er schmiegte sich in die Biegung ihre schlanken Hälse – in die schwanengleichen Beugen ihres Nackens. Er wühlte sich in die feuchte Wärme und in den Geruch ihrer Achselhöhlen und ihrer Scham. Köstlicher als alle seine Malerfreunde verherrlichte und überhöhte Amedeo Modigliani Frauen. Ohne Frauen und ohne Liebschaften vermochte Amedeo nicht zu leben und nicht zu arbeiten. Flüchtige Amouren gehörten für Amedeo Modigliani – für »unseren ›Modi‹, den letzten wirklichen Bohémien«, wie der deutsche Maler und Freund Ludwig Meidner ihn einmal genannt hatte – zum Leben und zum Arbeiten. Frauen und Rausch waren für Amedeo Modigliani Leben. Alles andere war der Tod. – Das Fleisch schöner Frauenkörper, Alkohol und Haschisch: das waren für Amedeo das Leben und zugleich der Tod, das Feuer und zugleich das Wasser, die Glut und zugleich die Asche, die Hitze und zugleich die Kälte, die Erde und zugleich der Himmel. Das war der Urgrund, aus dem ihm seine Gesichte zuwuchsen. Was diese archaischen, animalischen Gesichte aber zu Kunstwerken überhöhte, das war Amedeo Modiglianis analytischer und kontrollierender, planender und ordnender Intellekt, wie nur selten bei einem Künstler gepaart mit Affekt und mit Sensibilität. Ein kühler Verstand und ein heißes Herz führten seine Hand. –

Paul Dermée nannte Amedeo Modigliani einen ›Königsohn, einen Geistesprinzen, einen Aristokraten im Pullover‹ –

 

 

 

Kapitel 2

 

Ein das Herz und alle Sinne erfreuender und kräftigender Sonnentag war dieser Veitstag des Sommers 1918, der vor vier Jahren solch unsägliches Leid in die Welt geboren hatte. Frieden und Licht lagen an diesem Tag über dem prächtigen Anwesen Auguste Renoirs ›Les Collettes‹ in Cagnes-sur-Mer. Von reinstem, tiefstem Blau war der hohe Himmel im Zenit, unter dem an jenem Nachmittag noch eine zitronenhelle, gleißende Sonnenfackel brannte. Hinter den Kronen der Palmen, die in Orange und Goldgrün wie Flammengarben loderten, lag tief unten das azurblaue Meer, ruhig und weit hingebreitet vor dem wie von einem Zauber geblendeten Auge, bis in unendliche Fernen, in denen Wasser und Himmel in einer anderen, fliederfarbenen, ungewiss dunstigen und verschleierten Welt miteinander verschmolzen. Die Landschaft um Nizza schien in ein zitronenfarbenes Licht getaucht – oder war das Licht von einem sehr hellen, silbernen Blau? Man wusste nicht zu sagen, ob es ein zitronengelbes oder silberblaues Licht war. Dieses Licht durchdrang und erhellte selbst die türkisfarbenen Schatten. In diesem Licht wirkte sogar das Laub der Olivenbäume, zu anderer Zeit von dumpfgrauer Farbe, silbrig hell und wie durchsichtig.

Auguste Renoir, weltbekannter Altmeister der Impressionisten, saß in einem Rollstuhl auf der dem Meer zugewandten, von einer Markise beschatteten Terrasse seines Hauses; eng neben ihm, in einem bequemen Korbsessel, sein Nachbar und Malerfreund Anders Osterlind. Renoir hatte gearbeitet. Auf der Staffelei stand noch sein Gemälde ›Ruhe nach dem Bad‹ (1). Die beiden großen Frauenakte im Vordergrund waren bereits vollendet. Mit der Silhouette des lockeren Laubes im Mittelgrund war Renoir allerdings noch nicht zufrieden gewesen; im Licht dieses Sommertages waren ihm die Blätter zu grün und die Zweige zu schwer und zu undurchsichtig erschienen. Mit zart gewischten Tupfern von Kobalt und Oker hatte er über das Laub eine vorsichtige Retusche gelegt und auf das zitronengelbe und blaue Licht eingestellt, wie es an diesem Tage alles durchdrang, was sich dem Auge des Malers darbot. Renoir hatte seine Arbeit unterbrochen, als sich Anders Osterlind zu einem nachbarlichen Besuch eingefunden hatte. Die Palette hatte er auf einem Klapptisch neben seinem Rollstuhl abgelegt. Von seinem ältesten Sohn Pierre hatte er sich den Pinsel aus den Fingern der rechten Hand binden lassen. Osterlind war Zeuge dieser erschütternden Geste geworden. –

Der 77-jährige Renoir litt seit sechsundzwanzig Jahren an einer rheumatischen Gelenkentzündung. Die chronische, fortschreitende Erkrankung hatte seinem Rückgrat und seinem Gehvermögen schwer zugesetzt. Mit gekrümmten Rücken und mit eingesunkener Brust saß Renoir daher im Rollstuhl; ein abgemagertes Häufchen Elend, dem jede Bewegung Schmerzen bereitete. Was dem Maler am meisten zusetzte war aber, dass das teuflische Rheuma – »diese Erfindung der Hölle‹«, wie er seine Erkrankung nannte – dass das teuflische Rheuma zu einer Verkrüppelung seiner Hände geführt hatte; dieser begnadeten Hände und Finger, die doch neben seinem Auge sein kostbarster Besitz als Maler waren. – Es war ein unfassbares Wunder, dass Renoir trotz seiner Schmerzen und seiner Behinderung noch malen konnte. Aber er musste malen; ohne zu malen konnte er nicht leben. Jedenfalls vermochte er sich kein Leben ohne seine Malerei vorzustellen. So vollbrachte Renoir das Wunder – trotz seiner Schmerzen und in ständigem Kampf mit seiner Behinderung! – die Schönheiten der Welt auch in seinen späten Bildern zu feiern. Krankheit und Schmerz, Leid und Tränen vermochten seine unvergleichliche Palette von hellen, freudvollen Farben, glitzernden Edelsteinen verwandt, nicht zu trüben; vermochten seinen Gesang, der sich wie das Lied der Lerche jubelnd aus den sonnigen, farbigen, klaren Himmeln über die von ihm neu und rein erschaffene Welt hernieder senkte, nicht zu verderben oder gar verstummen zu lassen. Nein: gleich der unverzagt empor steigenden und unermüdlich jubilierenden Lerche, konnte Auguste Renoir nicht davon ablassen, in den Sonnenhimmel empor zu steigen und seinen Gesang zu trällern bis in seine letzte Stunde. –

»Wenn mir nicht nur die Kraft und Beweglichkeit meiner Finger genommen wäre, wenn mir auch mein Augenlicht genommen wäre, dann wäre ich besser dran. Dann könnte ich leichter leben! Dann müsste ich nicht unter Schmerzen mit einem an meine rechte Hand gebundenen Pinsel malen! … Da ich nun aber mit meinen wachen Augen immer noch sehen kann, muss ich mit meinen verkrüppelten Händen malen, was ich sehe! ... Vielleicht sehe ich aber gar nicht mehr, vielleicht sind auch meine Augen längst vertrocknet und blind … vielleicht träume ich nur, wer weiß?! … Aber auch Träume müssen gemalt werden …«, gestand er oft klagend seinen Söhnen und seinen Freunden, »… Degas war da besser dran, der war tatsächlich blind, der sah wirklich nichts mehr, oder er sah kaum noch was … jedenfalls hat es nicht mehr zum Malen gereicht. Monet ist auch besser dran, der sieht auch fast nichts mehr, jedenfalls sieht er keine Farben mehr … keine Farben! … wie herrlich! … Monet malt zwar riesige Bilder mit Seerosen, aber das werden allenfalls bequeme Zielscheiben! Zielscheiben zum Üben für die französischen Soldaten, oder Ziele für die deutschen Granaten! … Wenn es sein müsse, dann wolle er sich vor seinen Seerosen, vor seinen ›Nympheas‹ vom Feind niedermetzeln lassen, hat Monet mir geschrieben …«

Renoir konnte den Pinsel nicht mehr aus eigener Kraft halten. Also ließ er sich seine Pinsel von seinen Söhnen mit einer Art breitem Gummiband an die Finger der rechten Hand binden. Auch seine Paletten richteten ihm seine Söhne Pierre und Jean zu, ebenso wie die Leinwände und die Staffeleien. Sie kümmerten sich auch rührend um die Bereitstellung sonstigen Arbeitsgerätes. Pierre Renoir war zwar schon zu Beginn des Krieges schwer verwundet worden, hatte sich aber bislang von seiner Verwundung einigermaßen glimpflich erholt.

Ungeachtet der warmen Witterung war Renoir mit einer dicken, grüngrauen Tweedjacke bekleidet. Zusätzlich hatte Pierre ihm ein grünbraun kariertes Plaid um die Schultern gelegt. Auf Grund seines chronischen Rheumatismus, der nicht nur seine Gelenke zerstört hatte, sondern auch seinen Körper zum Skelett hatte abmagern lassen, fühlte Renoir auch bei Wärme – selbst im Sonnenschein! – eine widerliche Kälte in seinem Inneren und in all seinen Gliedern; eine lebensfeindliche, unwürdige Kälte, wie ihm scheinen wollte; eine Kälte, für die er sich geradezu schämte. Aber die Kälte war nun einmal in ihm; es hatte keinen Sinn, sie zu verbergen, sich ihrer zu schämen und auf warme Kleidung zu verzichten. Oft musste er sich bequemen, sogar bei warmem Wetter Handschuhe zu tragen. Auch trug er stets eine Mütze, selbst im milden Schatten, so wie auch an diesem warmen Sommernachmittag; – eine eigenartige Mütze – eine flache, tellerförmige Mütze mit einem kleinen Schild über der Stirne. Über die Mütze war ein Band geführt, das unter dem Tellerrand an beiden Seiten über den Ohren entsprang und sodann nach oben über den Scheitel geführt war, wo die beiden Bandhälften mit drei Druckknöpfen zusammengehalten wurden, als müssten sie den Gewalten eines Sturmes trotzen. Niemand hätte zu sagen gewusst, welchen Zweck dieses Band habe. Eine wirklich seltsame Mütze! Aber Auguste Renoir hing an dieser Mütze. Er hatte sich gerne und oft gerade mit dieser seltsamen Mütze fotografieren lassen.

Nicht nur Gliedmaßen und Rumpf schienen abgemagert, auch Renoirs Gesicht wirkte hager und fleischlos. Sein gesamter Schädel schien geschrumpft. Unschönes, krankhaftes, bläuliches Geäder war unter der durchsichtigen Haut der knöchernen Schläfen zu sehen. Über dem silbernen, etwas schütteren Backenbart gewahrte man die Wagen eingefallen und die Jochbeine stachen scharf hervor. Unter dem Weiß des etwas ungepflegten, zu langen Oberlippenbartes wirkten die schmalen Lippen trocken und farblos und fleischlos. Die auch schon in jungen, gesunden Jahren schmale und etwas lange Nase stach jetzt scharf hervor wie der Schnabel eines Adlers. Die Augen – diese einst übergroßen, glutvollen Augen, die die Welt neu gesehen hatten – jetzt wollten diese Augen klein und müde scheinen; tief zurückgesunken, lagen sie freudlos und zweifelnd, gelegentlich auch misstrauisch und lauernd in den eingefallenen Höhlen unter den spärlichen Brauen. Hin und wieder aber – wenn auch nur selten, wenn er etwa sein Gegenüber verärgert oder verzückt sehr intensiv und wissbegierig ansah – erwachte in Renoirs Augen wieder das alte, verzehrende Feuer, das einst alles zu entfachen und in farbige Glut zu verwandeln vermocht hatte; alles, was dieses Feuer in Renoirs Augen mit seinem heißen Hauch berührt hatte. »Renoir sieht wie ›Der weinende Petrus‹ von El Greco aus«, dachte Anders Osterlind bei sich, als er sein Gegenüber unauffällig musterte, »wie ›Der weinende Petrus‹, … besonders seine Augen sehen so aus …«

»Wie schön, wie friedlich das alles ist …«, störte Auguste Renoir die Betrachtungen Osterlinds, »ich meine den Himmel, das Meer, die Palmen, die Olivenbäume … wie schön ist doch die Welt! ... Wenn nur der Mensch sie nicht so schrecklich machen würde … vier Jahre haben wir nun schon Krieg. Vier Jahre! … ›Veitstag! Veitstanz‹! … Wenn man das alles hier so sieht, dann will man kaum glauben, dass Krieg ist, nicht wahr? … Monet hat mir geschrieben, dass er seinem Freund Georges Clemenceau versprochen habe, er werde zwei seiner Tableaus mit Seerosen und mit Himmelsspiegelungen auf dem Wasser seines Teiches in Giverny der französischen Nation zum Geschenk machen. Zwei riesige Gemälde mit ›Nympheas‹, eingebettet in eine Wasserlandschaft, in eine ›Paysage d´eau‹, wie Monet seine Dekorationen nennt. Beide Tableaus seien in Grün gehalten. ›Reflects verts‹ habe er die Gemälde genannt, die er für seine Schenkung ins Auge gefasst habe. Dem ›Musée des Arts decoratifs‹ sollen sie gehören. »Am Tage des Sieges« wolle er sie signieren, … schrieb mir Monet, … ›am Tage unseres Sieges‹ wolle er die Gemälde signieren …«

»Wenn wir denn siegen!« zweifelte Osterlind.

»Ja, wenn wir siegen! … Das steht ja noch nicht einmal fest, … dass wir siegen …«, zweifelte auch Renoir.

»Nach dem Frieden von Brest Litowsk am 3. März dieses Jahres steht der Sieg weniger fest als je zuvor, meine ich jedenfalls …«, gab Osterlind zu bedenken, »im Osten sind die Deutschen ja nun entlastet, nach dem Ausscheiden der Russen aus dem Kriegsgeschehen. Jetzt können sie ihre gesamten Kräfte nach Westen werfen, geballt gegen uns werfen. Und das tun die ›Boche‹ ja auch. Bereits wenige Tage nach dem Friedensvertrag mit Russland, am 21. März, haben sie ihre Frühjahrsoffensive an der Westfront eröffnet …«

»So, haben die ›Boche‹ das? …« stöhnte Renoir. »Wissen sie, ich tue mir schon schwer, das alles noch bewusst mitzukriegen! … Mir schwindelt jeden Tag, wenn ich mir das alles merken sollte, all die Namen, die man nie zuvor gehört hat … Brest Litowsk? … Wo liegt das Kaff eigentlich?«

»In Weißrussland …«

»In Weißrussland? … So so … in Weißrussland, … so weit im Osten … weiter im Osten als Moskau? …«

»Nein, viel westlicher, im Südwesten von Moskau, am Bug, an der Grenze zu Polen.«

»An der Grenze zu Polen? … so so … ich dachte, das Kaff läge vielleicht in Sibirien! … Ach wissen sie, mein lieber Osterlind, mir ist das alles ja eigentlich auch egal. Bedenken sie: ich bin siebenundsiebzig! … Sie können sich alles noch gut merken. Sie sind ja gerade mal fünfunddreißig! … Ich kann mir die ganze Politik ja überhaupt nicht mehr merken. Und sie interessiert mich auch nicht, wenn ich ehrlich bin. Sie hat mich nie interessiert … die Politik, und alles, was damit zusammenhängt. Wenn sie mich unbedingt was fragen wollen, dann fragen sie mich lieber was über Malerei … meinethalben über meine Zeit mit Monet an der Grenouillère oder in Argenteuil, oder über unsere erste Ausstellung in den Atelierräumen des Fotografen Nadar am Boulevard des Capucines im Jahr 74. Wir nannten uns damals ja noch ›Société anonyme cooperative des artistes, peintres, sculpteurs et graveurs‹. Die uns feindlich gesonnen Traditionalisten um Léon Gérôme taten uns ab als die ›Bande von Verrückten‹ … ›Impressionisten‹ nannte man uns schließlich ja erst abfällig … eigentlich um uns lächerlich zu machen! … nachdem Monet sein Bild ›Impression, aufgehende Sonne‹ 74 bei Nadar ausgestellt hatte. Der Kritiker Louis Leroy bediente sich abfällig dieses Namens … erfunden allerdings hat diese Bezeichnung ein anderer Kunstkritiker, ich glaube es war Jules Castagnary, wenn ich recht erinnere. Der hoffte, uns mit dieser Erfindung zu diffamieren und zu karikieren! Wenn der geahnt hätte, welchen Gefallen er uns mit seiner Boshaftigkeit getan hat! … Ich stellte bei Nadar meine ›Orchesterloge‹ (1) aus … gelegentlich wird das Bild heute auch einfach ›Die Loge‹ genannt. Mein Bruder und ein bezahltes Modell hatten mir für die beiden Figuren gesessen. Der Kunsthändler Pierre-Firmin Martin, den wir nur ›Père Martin‹ nannten, kaufte das Bild für 200 oder für 250 Franc, wenn ich recht erinnere, und das auch nur aus Mildtätigkeit, weil wir alle hungerten, … auch ich hungerte! … Paul Cézanne wagte in dieser Ausstellung 74 sein Bild ›Eine moderne Olympia‹ (2) auszustellen. Édouard Manet fand das »Machwerk« Cézannes so unmöglich, dass er sich weigerte, unserer ›Société anonyme cooperative‹ beizutreten … oder auch nur eines seiner Bilder neben Cézannes ›Eine moderne Olympia‹ zu hängen! … Die echte ›Olympia‹ (3) Manets hat übrigens Monet für Frankreich gerettet. Nach dem Tod Manets hat Monet Geld gesammelt, um Édouard Manets Meisterwerk dessen Witwe abzukaufen und dem Louvre zu schenken. Die ›Olympia‹ sollte nämlich für nur 20 000 Franc nach Amerika verkauft werden! … Oder fragen sie mich über Gustave Courbet oder über Édouard Manet! … Haben sie schon mal Courbets Akt ›Der Ursprung der Welt‹ (4) gesehen? … Mein Gott, wenn ich an den Skandal denke, den Manets ›Olympia‹ 1868 ausgelöst hat! … Heute kann man sich eine solche Aufregung über ein Gemälde … über einen harmlosen, durchaus anständigen Akt! … gar nicht mehr vorstellen. Aber damals ... nun gut, alle Welt wusste, dass ›Olympia‹ der gebräuchliche Name für eine Hure war, und alle Welt wusste, dass eine gewisse Victorine Meurent … Monets Modell der ›Olympia‹ … seine Geliebte war, oder … genauer gesagt, pardon! … eine seiner Geliebten war …«

»In ihre Welt passt kein Krieg, Maître Renoir …«, kam Anders Osterlind auf den Beginn der Unterhaltung zurück, da ihm wohl an der aktuellen Beurteilung der politischen und militärischen Lage mehr gelegen war, als an den – wenngleich interessanten – so doch einer längst vergangenen Zeit angehörigen Erinnerungen eines zwar großen, dennoch aber bereits einer musealen Vergangenheit zugeordneten Künstlers, » … und in ihrer Welt gibt es auch keinen Krieg, Monsieur Renoir, … in ihrer Welt gibt es nur Schönheit! … schöne Mädchen, schöne Frauen, Kinder, Blumen … Sonne! … vielleicht mit Ausnahme der ›Regenschirme‹ (5) … auf ihrem Gemälde ›Regenschirme‹ scheint natürlich keine Sonne ...«

»Degas meinte einmal, ich sei ›eine Katze, die mit bunten Garnfäden spielt‹, so oder so ähnlich …«, beharrte Renoir auf seinen Rückerinnerungen. »Er meinte damit meinen Malstil, als ich noch in meiner impressionistischen Phase war, will ich mal so sagen … als ich noch im Stile Monets, Sisleys und Pissarros malte, will ich mal so sagen. … In der Tat: unsere Bilder aus jener Zeit vermag man ja kaum zu unterscheiden …«

»Da würde ich ihrem Urteil nicht unbedingt zustimmen, Monsieur Renoir! Ihre Bilder haben ein lichteres Kolorit … ihre Farben sind reiner, durchsichtiger! Außerdem spielt in ihrem Werk das Porträt eine Rolle, überhaupt hat bei ihnen das Figürliche eine Bedeutung, wie eine solche bei keinem anderen Impressionisten zu finden ist! … Ihre Motive sind einfach anders, ihr Bildbau und ihre Pigmenttextur sind lockerer, sind ›spielerischer‹, wenn ich so sagen darf … und, wie gesagt, ihr Kolorit ist vielfältiger, ihre Farben sind ungebrochener, ihre Farben kommen dem impressionistischen Ideal der Lichtfarben am nächsten. … Ich jedenfalls erkenne einen ›Renoir‹ sofort aus der Gruppe der Impressionisten jener Tage heraus!« behauptete Osterlind – wahrscheinlich hoffte er mit diesen Worten Renoir ein wenig zu schmeicheln. –

»Genau das meinte Degas, als er mich »eine Katze, die mit bunten Garnfäden« … oder sagte er mit »bunter Wolle«? … als er mich »eine Katze, die mit buntem Garn spielt« nannte. Er bezog sich mit dieser liebenswerten Kritik allerdings nicht nur auf mein Kolorit, sondern vor allem auf die mangelhafte Zeichnung, auf den vernachlässigten Bildaufbau … will sagen, auf die vernachlässigte Form! … auf dieses Defizit an Festigkeit also bezog er sich, unter dem der en-plein-air-Impressionismus litt und immer noch leidet. Degas legte größten Wert auf die Zeichnung, auch unter der Oberfläche seiner Gemälde. Degas malte ja nie im Freien. Er malte stets nur in sorgsam arrangierter künstlicher Beleuchtung in seinem Atelier! … Sonnenlicht konnte er wegen eines Augenleidens nicht vertragen. Auf einem seiner Augen war er schon in jungen Jahren nahezu erblindet. Heute sieht der Ärmste fast nichts mehr. Er malt nicht mehr, aber sein Tastsinn ist noch voll erhalten. Daher betätigt er sich als Bildhauer, allerdings in recht eigenartiger Weise. Er macht kleine Statuetten von Tänzerinnen aus Ton oder aus Wachs. Die eine oder andere dieser Statuetten lässt er in Bronze gießen, glaube ich jedenfalls. Eine dieser Balletteusen trägt sogar ein echtes Röckchen aus Baumwollgaze (1). Aus echtem Stoff! Angeblich hat sich die hochwohlgeborene Kritik über diesen faux pas … über diesen ›Materialfehler‹ gewissermaßen! über diesen ›Naturalismus‹ … aufs Heftigste zu erregen gewusst, als Degas seine ›Tänzerin von 14 Jahren‹ auf der Sechsten Impressionisten-Ausstellung 1881 präsentiert hat.«

Anders Osterlind fiel auf, dass Auguste Renoir von Edgar Degas zuletzt in der Gegenwart gesprochen hatte, obgleich Degas seit bereits einem Jahr tot war. Aber obgleich er betreten war, korrigierte er Renoir nicht. –

 

 

 

Kapitel 3

 

»Ich habe auch noch einmal eine Plastik gemacht …«, nahm nach einer bedächtigen Pause Renoir seine Erinnerungen wieder auf, »eine Büste von meiner geliebten Aline. Ein Jahr nach ihrem Tod. Drei Jahre sind es ja nun schon her, dass meine Frau verstorben ist. Vor zwei Jahren habe ich ihre Büste in Ton geformt und dann in Bronze gießen lassen (1) … Haben sie die Plastik schon gesehen? Nein? … Ich habe Aline so geformt, wie ich sie aus glücklichen Tagen in Erinnerung hatte. So, wie ich sie 80 auf meinem Bild ›Das Frühstück der Bootsfahrer‹ (2) und wie ich sie 85 als Porträt (3) und 86 mit unserem Pierre an der Brust (4) gemalt habe. Ich war in ihr rundes Gesichtchen mit der Stupsnase und mit der aufgeworfenen Oberlippe verliebt. Aline hatte immer ein Kindergesicht. Und in ihr Strohhütchen war ich verliebt, das sie immer trug. Auch auf meinem Bild ›Das Frühstück der Bootsfahrer‹ trägt sie diesen Hut. Aline hatte immer ein Gesicht wie ein kleines Mädchen mit roten Backen ... ›Aline Charigot‹ … sie war ein typisches Kind aus der Champagne. Ihre Haut war so weiß und rein wie die Kreideklippen ihrer Heimat, und ihre Wangen waren so rot wie die Äpfel der Normandie. Aline war ein wunderbares Modell, eine begabte Geliebte und eine mütterliche Frau. Ich habe sie sehr geliebt …«

»Da ist ein Mann, der dich sprechen will, Vater …«, ließ sich plötzlich eine Stimme vernehmen. Pierre Renoir war aus der geöffneten Flügeltüre auf die Terrasse getreten. Er hatte sich den beiden in ihr Gespräch vertieften Männern genähert, ohne dass diese ihn zunächst bemerkt hatten. »Der Mann wünscht unbedingt dir seine Aufwartung zu machen. Er trug diesen seinen Wunsch sehr ehrerbietig vor … wirklich, sehr ehrerbietig! Zugleich aber auch mit einer ungewöhnlichen Heftigkeit, mit einer krankhaften Heftigkeit, möchte ich sagen, fast wie eine Forderung. … Amadeo Moliani oder Maligioni ist sein Name, oder so ähnlich. Ich konnte den Namen nicht richtig verstehen. Der Mann schien sehr erregt und sprach sehr schnell und undeutlich. Er stieß seinen Wunsch, dich sehen zu dürfen, und die Worte seines Namens in einer fast krankhaften Hektik förmlich aus sich heraus! … Früher muss der Mensch einmal ein sehr schönes Gesicht gehabt haben … ein klassisch schönes Gesicht, mit einem etwas trotzigen Mund allerdings, etwa so wie Michelangelos ›David‹. Man kann diese Schönheit auch heute noch erkennen, aber sie wirkt irgendwie verwaschen, oder verdorben, oder verbraucht, … oder wie soll ich sagen? … Der ungepflegte, schwarze Vollbart passt nicht recht in dieses ehemals sicher sehr schöne Gesicht! … Die Augen sind mandelförmig und sehr groß und grüngrau, und die Augen glühen, und die Wangen glühen rot. Ich würde sagen, der Mann sieht krank aus, fiebrig, fanatisch … vielleicht sogar gefährlich … ja, vielleicht hat er Fieber … oder er ist angetrunken.«

» … ›angetrunken‹? … weise den ungebetenen Gast ab, Pierre … bitte! … sage ihm, ich sei krank, oder ich hätte keine Zeit, weil ich mitten in der Arbeit sei! … oder sage ihm irgendwas, was weiß ich! Sage ihm, er habe den falschen Tag erwischt! … aber weise den Kerl ab! … wo käme ich hin, wenn …« –

Es war unübersehbar: Renoir hatte keinen guten Tag. – Er hatte überhaupt nur noch äußerst selten gute Tage. Seine Schmerzen und die Behinderung seiner Hände versetzten ihn meistens in eine grimmige, unwillige und jedermann zurückweisende Laune, wie man sie früher nicht an ihm gekannt hatte.

»Amedeo Modigliani …«, stellte sich der Mann vor, der Pierre Renoir auf dem Fuße gefolgt war, ohne eine Einladung oder eine Willkommensbezeigung abgewartet zu haben. Auf Einladungen oder auf Willkommensbezeigungen zu warten war nicht Modiglianis Sache. Überhaupt war Geduld nicht Modiglianis Sache. Er lehnte schlichtweg jede Abhängigkeit seiner Wünsche und Entscheidungen von der Zustimmung anderer Menschen ab; gleichgültig, ob er diesen gewogen war, oder ob er diesen von vornherein mit Ablehnung begegnete; gleichgültig, ob er von diesen abhängig war, oder ob er nicht auf diese angewiesen war; gleichgültig, ob er diesen zu Dank verpflichtet war, oder ob er diesen nichts schuldete. Die eigenen Wünsche und deren Erfüllung, die eigenen Vorstellungen und deren Verwirklichung: das war das unverrückbare Gesetz, nach dem Modigliani lebte und dem er starrköpfig anhing. – »Modigliani …«, wiederholte Amedeo, »… Maler und Jude.« –

Mit der Floskel ›Maler und Jude‹ stellte sich Amedeo stets vor. Als ›Maler und Jude‹ hatte er sich im ›Café de la Rotonde‹ auch Nina Hamnett vorgestellt, als diese – nur leicht bekleidet – vor seinen verzückten Augen auf einem Tisch getanzt hatte. Warum er sich nicht nur als ›Maler‹ und als ‹Modigliani‹, sondern sich stets mit dem Zusatz ›Jude‹ vorstellte, das wusste Amedeo selbst nicht recht zu sagen; oder aber, er gab sich selbst einmal diese, ein anderes Mal jene Antwort auf diese ihm eigentlich überflüssig scheinende Frage. Wollte er damit provozieren? – Vielleicht, schließlich war ihm Antisemitismus nicht unbekannt geblieben, auch in Paris nicht! – Wollte er mit dieser ungewöhnlichen Vorstellung seinem Gefühl der Besonderheit, des Andersseins, einer gewissen Vereinsamung oder Abgesondertheit Ausdruck verleihen? – Vielleicht! – Oder wollte er mit ›Jude‹ das Gefühl eines Auserwähltseins verdeutlichen? – Vielleicht! – Schließlich entstammte er ja sowohl vom Vater wie von der Mutter her tatsächlich zweier iberisch-jüdischer Familien! – Sowohl die väterlichen Modiglianis aus Livorno wie die mütterlichen Garsins aus Marseille waren sefardische Juden. Die Familie Garsin war sogar davon überzeugt, sie dürfe zu ihren Vorfahren sage und schreibe den berühmten jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza zählen. Man rechnete sich allerdings nicht der einer hebräischen Tradition verpflichteten, religiös oder gar orthodox geprägten Judenheit einer abgeschotteten, nach eigenen Gesetzen und nach tradiertem Kultus lebenden Diaspora zu. Nein: man legte in den Familien Modigliani und Garsin größten Wert darauf, adaptiert, emanzipiert, kosmopolitisch und im umfassendsten Sinne gebildet zu sein. Von seiner Mutter Eugénie Garsin hatte Amedeo Französisch als zweite Muttersprache gelernt. Er sprach es perfekt. Amedeos gebildete, kunstsinnige Mutter Eugénie war es auch gewesen, die ihn weltoffen erzogen und auf eine umfassende, vornehmlich aber klassische Bildung Wert gelegt hatte. Sie hatte auch darauf bestanden, dass das Jüngste ihrer vier Kinder – ihr stets kränkelnder, eigenwilliger und daher ihrer besonderen Zuwendung und Fürsorge bedürftiger Sohn Amedeo, der von ihr nur mit dem Kosenamen ›Dedo‹ angesprochen wurde – dass dieses ihr Sorgenkind an den von ihr organisierten Fünf-Uhr-Tees im Hause des Großvaters Isaaco Garsin teilzunehmen habe. Im Rahmen dieser Salongespräche frönte Eugénie ihrer Leidenschaft für klassische und zeitgenössische Literatur und Philosophie. Sie brachte das kunstsinnige, hochbegabte, wenngleich zum Eigensinn neigende Kind mit dem Geist jener großen Männer in Berührung, denen sich Amedeo in seiner Kunst ein Leben lang verbunden fühlen wird: Dante Alighieri, Francesco Petrarca, Gabriele d´Annunzio, Oscar Wilde, Friedrich Nietzsche, Henri Bergson. Der Philosophie Bergsons, vornehmlich dessen ›L´Évolution créatrice‹ von 1907, fühlte sich Amedeo in seinen reifen Jahren allerdings wesentlich zugeneigter als den Gedanken Nietzsches. Bergsons Gedanken über die ›Schöpferische Entwicklung‹ prägten Amedeos Vorstellung von seinem eigenen künstlerischen Wirken tief. Von Nietzsche hatte Amedeo wohl nur den Begriff des ›Übermenschen‹ in sein Denken einfließen lassen. Nicht selten nahm er für sich eine Charakterisierung als ›Übermensch‹ – als ›uomo superiore‹ – in Anspruch, was nicht eben für Bescheidenheit, für Selbstzweifel und für Selbstkritik sprach. Seiner einzigen Vertrauten – seiner Mutter Eugénie Garsin – hatte ›Dedo‹ im Alter von vierzehn Jahren – während eines typhösen Fieberwahns – den heißen Wunsch eröffnet, er wolle unbedingt Künstler werden. Maler, oder besser noch, Bildhauer! Ja, Bildhauer – er wolle Bildhauer werden: er erging sich in seinem deliranten Fieberanfall in erstaunlich präzisen Vorstellungen von den großen Meisterwerken der Renaissance in den italienischen Museen und Kirchen, so als sei er bei klarstem Bewusstsein. – Als Amedeo vom Typhus genesen war, erfüllte Eugénie Garsin ihrem Liebling ›Dedo‹ diesen Wunsch, von dem das frühreife, selbstbewusste Kind auch nach seiner Gesundung nicht lassen wollte. ›Dedo‹ durfte das Lyzeum, das er zwei Jahre besucht hatte, verlassen, erhielt Privatunterricht und begann 1898 seine Künstlerkarriere als Schüler an der Kunstakademie in Livorno. Sein Lehrer in den klassischen Fächern Landschaft, Stilleben, Akt und Porträt war Guglielmo Micheli, ein Schüler des bekannteren und bedeutenderen Giovanni Fattori, der den italienischen Impressionisten – den ›Macchiaioli‹, den ›Fleckenmalern‹ – zugerechnet werden durfte. Zusätzlich besuchte Amedeo eine Klasse für Aktzeichnen im privaten Atelier von Gino Romito in Livorno.

 

Gewiss, Amedeo war Jude, dessen war er sich bewusst! Kein gläubiger Jude, sicher nicht. Er hatte nichts mit Jehova im Sinne, dessen Namen man nicht aussprechen durfte, der vielleicht gar keinen Namen hatte; dieser Gott, der Moses geantwortet hatte ›Ich bin, der Ich bin‹, und von dem man sich kein Bild und schon gar kein Abbild oder gar Bildnis machen durfte. – Aber Amedeo wollte Bildnisse machen! – Immerwährende Bildnisse, Bildnisse möglichst aus Stein! – Aus hartem, unvergänglichem Stein! – Sein Gott war nicht Jehova, sondern Michelangelo. Seine Erzväter und Propheten waren nicht Abraham und Moses, Elias und Jesaia, sondern Vittore Carpaccio, Giovanni Bellini, Giorgione und Tizian. Dennoch stellte er sich stets als »Modigliani, Maler und Jude‹« vor. Wahrscheinlich, weil er den geistigen Horizont oder die Toleranz seines Gegenübers ausloten wollte. Vielleicht auch, weil er nur provozieren wollte, weil er sein Gegenüber zu einer abfälligen Äußerung verleiten wollte, was ihn selbst zum Märtyrer erhöhen würde? – Ja, ›Märtyrer‹: das war die ihm auf den Leib geschriebene Rolle, wollte er meinen! Märtyrer für die Kunst! – In Wahrheit wusste er jedoch nicht recht zu sagen, warum er sich als »Maler und Jude« vorstellte; es war ihm wohl einfach zur Gewohnheit geworden. –

 

 

 

Kapitel 4

 

Renoir war sichtlich verwirrt. Das Benehmen dieses Mannes war wirklich dreist, wollte ihm scheinen. Und die Art und Weise, wie dieser sich vorzustellen beliebte, war »äußerst seltsam, unschicklich, nicht gerade bescheiden, krankhaft anmaßend … fast unangenehm! …« wollte Renoir meinen. – Zudem war er von Juden nicht gerade angetan; das wusste doch ein jeder, auch wenn er nicht einem so krassen und unversöhnlichen Antisemitismus anhing, wie einem solchen sein vor einem Jahr dahingegangener Freund Edgar Degas verfallen gewesen war. Immerhin, die Galeristen Gaston und Joseph Bernheim-Jeune, mit denen er seit nunmehr bald einem halben Leben eng befreundet war, waren Juden; und Joseph Bernheim-Jeunes Frau – Mathilde Adler, die er überaus verehrte, die er angesichts ihrer exotischen Schönheit fast anbetete und oft porträtiert hatte – Mathilde Adler war Jüdin. Und auch sein schon 1903 verschiedener Malerfreund seit frühesten Tagen, Camille Pissarro, war Spross einer sefardischen Familie gewesen: einer solch iberisch-jüdischen Familie, wie einer solchen dieser Amedeo Modigliani wohl auch entstammen mochte, wie Renoir glaubte auf Grund des Namens annehmen zu dürfen.

»Ja, und? … was wollen sie, was führt sie zu mir?« grollte Renoir. »Sie sehen doch, ich bin beschäftigt! Außerdem habe ich Besuch. Also … vielleicht ein andermal … oder am besten, sie lassen es ganz bleiben! Das wäre das Beste, für uns beide, würde ich ihnen raten und mir wünschen! … Eine Unmenge junger Maler wollen mich ständig sprechen. Wozu? … Alles Dilettanten, alles Dilettanten! … Ich kann meine bemessene Zeit nicht mit derlei unsinnigen Gesprächen vertun! … Dilettanten! … Zeitvergeudung! …«

Renoir wirkte tatsächlich ungewöhnlich agitiert und hektisch, so als habe er wirklich keine Zeit. Wahrscheinlich aber war er nur desinteressiert an diesem unbedeutenden Besucher. Zugleich aber plagten ihn offenbar erhebliche Schmerzen in den Schultern und im Rücken, die ihn zwangen, seine Worte fast überschlagend und irgendwie unangenehm abgehackt auszustoßen. Schmerzen im Brustkorb waren wohl auch der Grund, warum Renoir zwischen den einzelnen Worten völlig unmotiviert und wiederholt einige Male ohne Pause tief und schnell und mit einem keuchenden Seufzen ein- und ausatmen musste.

»Anders Osterlind …«, stellte Renoirs Nachbar sich selbst vor und wollte sodann bestätigt haben: »… ›Modigliani‹? … sagten sie ›Modigliani‹ … ›Amedeo Modigliani‹? …« – Anders Osterlind erhob sich und reichte Amedeo freundlich die Hand – »… erfreut, sie zu sehen, Modigliani! Ich habe schon gehört, dass sie mit Léopold Zborowski und seiner entourage in Cagnes-sur-Mer abgestiegen sind … enchanté, mon cher! …«

»… ›Modigliani‹? …«, rätselte Renoir unwillig, »… ›Modigliani‹ …«, versuchte der alte Maler sich zu erinnern, »… ich glaube, ich habe ihren Namen noch nie gehört, … pardon. …«

»Modigliani verkehrt in dem Kreis um Picasso, Matisse, Vlaminck und Derain …« erklärte Osterlind.

» … Matisse, der ›Wilde‹? …«, fragte Renoir, und fügte sodann sich offenbar erinnernd hinzu: »… ›Matisse‹ sagt mir etwas, natürlich, wenn auch nicht gerade sehr viel … nun ja, Geschmacksache! … aber Vlaminck, Derain, Picasso? … Gelegentlich habe ich diese Namen schon gehört, allerdings …« – Osterlind war sich sicher, dass sein Freund und Nachbar Auguste Renoir diese Namen schön gehört hatte, ganz gewiss, und dass er diese Namen bestens kannte – »… aber die krankhaften Schmierereien dieser Dilettanten, von denen einige Kritiker und Galeristen wünschen, sie mögen große Kunst sein? … pardon! … diese Kunst verstehe ich nicht! … und warum nicht? … weil das keine Kunst ist, deshalb nicht! Ganz einfach! ... Diese jungen Leute: große Töne, große Ideen! … und nichts dahinter, wie immer! … Die sollen erst mal richtig ihr Handwerk lernen … richtig arbeiten, sollen die erst mal lernen, bevor sie sich an die Rampe stellen lassen! … Alles Dilettanten! … so wie diese Suzanne Valadon und ihr stets besoffener Sohn Maurice Utrillo. Die Valadon hätte besser daran getan, Modell zu bleiben! … Die war übrigens ein gutes Modell, das schönste, gefälligste und gefragteste Modell in Montmartre. Toulouse-Lautrec und auch ich, wir haben sie oft gemalt … und auch Edgar Degas hat die Valadon mehrfach porträtiert … Und sie, Modigliani, auch Dilettant?! … «

»Modigliani ist ganz gewiss kein Dilettant, Maître Renoir! …«, widersprach Osterlind, »ich schätze ihn sehr, wenn ich das sagen darf. Modigliani ist ein Solitär, ein kostbarer Edelstein unter der Avantgarde. ... Er ist nicht einzuordnen, sein Stil ist unvergleichlich! … Modigliani ist weder den Kubisten noch den Fauves zuzuordnen … auch nicht den Expressionisten, auch nicht den Symbolisten. Ich schätze ihn jedenfalls sehr! … Ich stelle ihn sogar über Matisse und über Picasso. Meiner Meinung nach hat er von uns allen am besten verstanden, was Paul Cézanne sagen wollte.«

»Mein lieber Osterlind: Cézanne wird von diesen jungen Leuten nur missverstanden! … nur missverstanden wird Cézanne, sage ich! …«, tat Renoir die Entgegnung Osterlinds ab, »… aber der Ärmste kann sich ja gegen die ihm angetanen Missdeutungen nicht mehr wehren. … Cézanne! … Paul ist ja schon seit zwölf Jahren tot. ... Disziplin, sage ich: Cézanne wollte nur Disziplin und nochmals Disziplin! … Er versuchte die Natur zu ordnen. Er versuchte, für die Farbe … die reine, strahlende Lichtfarbe, die Monet und ich von ihrem Staub der Ateliertradition und vom körperhaften Lokalkolorit befreit hatte … für diese Farbe, für diese Lichtfarben der Impressionisten … für die suchte er die richtigen Gefäße zu finden, die richtigen Formen zu erschaffen … gewissermaßen die Behältnisse für die von uns Impressionisten bereitgestellten Inhalte. … Aber: Disziplin! Disziplin, sage ich! … Paul Cézanne arbeitete ungemein diszipliniert! … Cézanne blieb in der Natur! Er entstellte die Natur nicht. Er fühlte sich nicht versucht, Neues, Abartiges, Krankhaftes, Hässliches zu erschaffen. Er war nicht so vermessen, sich über die Natur zu stellen, gegen die Natur zu arbeiten … oder sagen wir so: er fand sich nicht aufgerufen, der Natur ins Handwerk zu pfuschen! Er verdeutlichte und ordnete nur das, was schon in der Natur ist! … Disziplin eben, Disziplin, und Nüchternheit … und Bescheidenheit. Ja: Demut! … Demut ist das richtige Wort für Paul Cézannes Einstellung gegenüber seinem Motiv und gegenüber der Schöpfung! … Demut! … Ja Demut, Demut auch gegenüber der Malerei, gegenüber der Kunst, gegenüber jeder Kunst. … Nach Paul Cézannes Tod, nach der zu seinem Gedächtnis abgehaltenen Retrospektive 1907, im Juni in der ›Galerie Bernheim-Jeune‹ und während des ›Salon d´Automne‹ im Oktober und im November im ›Grand Palais‹, nach diesen Gedächtnisausstellungen begannen die Missdeutungen von Cézannes Werk. Das, was heute Picasso und Braque ›Kubismus‹ nennen, diese an Schwachsinn nicht zu übertreffende, ärmliche, monomane Nachschöpfung … diese angebliche Nachschöpfung oder Umschöpfung der Welt, um Unsichtbares zu Sichtbarem zu machen, wie diese Scharlatane sagen … ein Quatsch, der diesen messieurs erst dieses misogyne Mannweib Gertrude Stein in den Mund gelegt hat! … dieser ›kubistische‹ Manirismus, dieser krankhafte Mist kann nicht auf das Werk Cézannes zurückgeführt werden, jedenfalls nicht in dieser unorganischen, unbelebten Form, wie solche Picasso, Gris und Braque vertreten. Und übrigens … was bei allen diesen posthumen Lobhudeleien vergessen wird, ein Vergessen und ein Verschweigen, das Picasso und seinem Hofstaat nur recht kommen kann! … was verschwiegen wird, das ist doch die Tatsache, dass dieser ›Kubismus‹ gar keine in Frankreich entstandene Kunstform ist, sondern eine deutsch-jüdische Erfindung ist. Diese angebliche ›Malerei‹ ist aus Deutschland nach Frankreich importiert worden … schon vor diesem Krieg! … als Instrument zur Destruktion des französischen Selbstverständnisses, zur Destruktion unserer gesunden französischen Kunst, letztendlich zur Schwächung unserer Wehrbereitschaft (1).«

»Aber Monsieur Renoir, ich bitte sie! Diese Behauptung ist doch nichts anderes als übelste Propaganda, nichts anderes als Kriegshetze!« empörte sich Amedeo. »Ich weiß, dass von rechten Kreisen, … von nationalistischen und chauvinistischen Kreisen! … derartiger Unfug bewusst in die Welt gesetzt wird. Diese rückständigen, traditionalistischen Gruppen, die der künstlerischen Avantgarde in Paris und in ganz Frankreich den Untergang geschworen haben, diese Kreise sehen mit dem Krieg ihre Stunde gekommen, ihr Vorhaben endlich in die Tat umsetzen zu können. Man geht nach dem schwachsinnigen Motto vor, dass alles, was man nicht verstehen könne, zwangsläufig vom Feind herrühren müsse, von den Juden und von den Deutschen herrühren müsse! … Schwachsinn ist das! …«

»Was sie nicht sagen! So so, ›Schwachsinn ist das‹, meinen sie!« entgegnete Renoir herablassend. »Wer hat sich denn für den Kubismus eingesetzt, frage ich sie? Wer denn? Franzosen etwa? Nein! War es nicht diese Madame Stein, diese deutschstämmige Jüdin? War es nicht der Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler, dieser deutsche Jude? Glauben sie, der französische wehrhafte Staat hat die Bilder in der jüdisch-deutschen ›Galerie Kahnweiler‹ in der rue Laffitte ohne Grund konfisziert? Was glauben sie, warum dieser ehrenhafte patriotische, dieser deutsch-jüdische Monsieur Kahnweiler aus Frankreich geflohen ist? ...«

»… emigriert, Monsieur Renoir, emigriert, nicht ›geflohen‹ …« wagte Amedeo Renoirs Worte zu korrigieren.

»Ich nenne das Flucht! Fahnenflucht! …« bestand Renoir auf seiner Meinung, hüstelte und versuchte unter Schmerzen seinen gekrümmten Rücken zu strecken.

»Verehrter Maître Renoir: wegen Paul Cézanne und wegen Henri de Toulouse-Lautrec bin ich ja nach Paris gekommen! …«, gestand Amedeo Modigliani, »… und auch wegen ihnen, selbstverständlich! … selbstverständlich wegen ihnen! … aber besonders wegen Cézanne. … 1906, im Januar, als ich Venedig verließ und nach Paris ging, da lebte Cézanne ja noch. Er ist ja erst im Oktober verstorben (1). Leider habe ich ihn nie im Leben kennenlernen dürfen. Aber ich trage stets eine Abbildung seines Gemäldes ›Knabe mit roter Weste‹ bei mir … hier, sehen sie!«

Amedeo zog tatsächlich eine Fotografie von Cézannes ›Knabe mit roter Weste‹ aus der Brusttasche seiner Velourjacke und reichte sie Renoir. Osterlind fiel auf, wie abgetragen der Stoff an den Ärmeln und wie abgegriffen und glänzend der Stoff an den Brust- und Seitentaschen und an den Schößen der einer Weste ähnlichen Joppe war, die zu Amedeos unverzichtbarer Kleidung gehörte. –

»Ich kenne das Bild, junger Mann …« beschied Renoir Modigliani, ohne die kolorierte Fotografie anzusehen, die Amedeo ihm vor die Augen hielt. Dennoch war Renoirs Worten eine echte Rührung anzumerken, die er in seinen Worten nicht völlig verbergen konnte. »Ja, ich sehe schon … ich kenne das Bild. Stecken sie ihr Bild nur wieder ein. Ich kenne das Gemälde, sagte ich ja schon! … So, 1906 sind sie nach Paris gekommen, im Januar. Und sie bedauern, Paul Cézanne nicht mehr begegnet zu sein? … Da können sie froh sein, mon cher! … Cézanne war sehr schwierig geworden. In sich zurückgezogen hat er sich. Einsilbig, grüblerisch, unfreundlich, schwermütig, zugleich aber auch boshaft, hochmütig … all das war er geworden. In früheren Jahren … zur Zeit unseres gemeinsamen Aufbruchs … da war er nicht so unmöglich gewesen. Da war er zugänglich, umgänglich … oft etwas eigenwillig, gewiss, wie wir alle, gewiss … da war er eigentlich normal gewesen. Die Verhöhnung und die Missachtung der Kritiker und der fehlende Erfolg beim Publikum haben ihn dann aber schon bald zerbrochen … äußerlich, zumindest … innerlich aber wahrscheinlich nicht, sieht man sich seine Sachen aus diesen Jahren an … sein Intellekt und seine Kreativität schienen nicht gebrochen! … Besonders enttäuscht und geradezu vernichtet fühlte er sich seit dem Erscheinen von Émile Zolas Roman ›L´Oevre‹, in dem ihn Zola unverkennbar zum Vorbild des unbegabten, erfolglosen, schließlich dem Wahnsinn verfallenen und durch Selbstmord endenden Malers Claude Lantier genommen hatte (1). Manche von uns behaupten allerdings, Zola habe nicht Paul Cézanne, sondern Claude Monet zum Vorbild seines Protagonisten genommen … nicht nur des Vornamens wegen, sondern auch in Anbetracht anderer Ähnlichkeiten, auf die ich nicht eingehen will. Zola hat sich darüber ja nie geäußert. Aber … sei dem, wie es wolle: Paul Cézanne fühlte sich nun einmal betroffen. Zola war immerhin ein Jugendfreund Cézannes! Das darf man nicht vergessen! Zola war unserer Gruppe freundschaftlich verbunden … der ›Batignolles-Gruppe‹, der ›Bande von Verrückten‹, wie man uns nannte. … Seit der ›Dritten Impressionisten-Ausstellung‹ 77 … eigentlich nannten wir sie nicht ›Dritte Impressionisten-Ausstellung‹, sondern ›Dritte Ausstellung der Unabhängigen‹ … seit 77 jedenfalls hat Cézanne nicht mehr mit uns Impressionisten ausgestellt. Er hat überhaupt kaum noch ausgestellt, vielleicht nur einmal oder zweimal noch … einmal in Brüssel … wenn ich recht erinnere. In seinen letzten Jahren ließ er nicht selten seine Sachen in seinem Atelier auf dem Boden umherliegen und scherte sich nicht darum. Er soll sogar auf seinen Bildern herumgetrampelt sein, obgleich ich das nicht glaube … jedenfalls nicht absichtlich, meine ich. Paul Cézanne hatte keine Sammler. Claude Monet allerdings schätzt ihn als Maler sehr. Monet hat sich noch zu Lebzeiten Cézannes eine umfangreiche, eine wirklich sehenswerte Sammlung von ›Cézannes‹ zugelegt. Cézanne war zuletzt schwer krank. Seit 1890 litt er an Zuckerkrankheit. Er starb an einer Lungenentzündung, die er sich beim Malen auf freiem Feld vor seinem Lieblingsmotiv, vor dem Mont Sainte-Victoire, geholt hatte. …Wenn sie also wegen Cézanne und Toulouse-Lautrec nach Paris gekommen sind, dann sind sie etwas spät gekommen. Zu spät! … Wie sie sagten, Cézanne ist im Oktober 1906 gestorben, und Toulouse-Lautrec ist schon 1901 verstorben.«

»Ich habe Picasso und Vlaminck und Derain getroffen … und sie, verehrter Maître Renoir … und sie!« betonte Amedeo, wohl in der Hoffnung, es möge gelingen, Renoir ihm etwas gewogener zu stimmen.

»… mich? …«

»Ja, sie verehrter Maître Renoir … sie, den ›Impressionisten aller Impressionisten‹ …«, beeilte sich Amedeo hinzuzufügen, »… ohne ihr Werk wäre die Malerei des vergangenen Jahrhunderts … wie auch die Malerei unserer Zeit! … nicht zu denken!«

»Diese jungen Dilettanten, die sie da nennen, die verstehen Cézanne ja völlig falsch! … Bitte, setzen sie sich doch … bring doch bitte einen Stuhl, Pierre!«

Pierre Renoir brachte einen zweiten Korbsessel und stellte diesen zwischen Osterlind und seinen Vater. Amedeo setzte sich. Das Bild, das er bei sich hatte, eingehüllt in braunes Packpapier, lehnte er seitlich an seinen Stuhl.

»Was eine Schmeichelei doch zu bewirken vermag …«, dachte Anders Osterlind bei sich, »nicht einmal der große Auguste Renoir ist gegen Schmeichelei gefeit … plötzlich ist ihm Amedeo Modigliani willkommen! …«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Pionier im Schatten der Mauer

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Ein medizinhistorisches Dokument

Werner Porstmann, unermüdlicher Wegbereiter, Forscher, Erfinder, war ein herausragender Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ihm verdankt die internationale Medizinwelt bedeutende Innovationen: Die Ballonangioplastie ist bis heute der Goldstandard der Gefäßradiologie, wie sie inzwischen überall von verschiedenen medizinischen Disziplinen mit vielen Modifikationen angewendet wird. 
Nachdem Ch. T. Dotter 1964 die Möglichkeit der Erweiterung verengter oder gar verschlossener Arterien erdachte, hat Rashkind 1966 die Methode der Ballonseptostomie mittels Katheter vorgestellt. Porstmann inaugurierte dann 1967 die Methode des Verschlusses der persistierenden Verbindung zwischen Lungen- und Körperkreislauf mittels einer Kathetermethode. Bis dahin war die Behandlung des offenen Ductus arteriosus persistens nur operativ möglich mit Eröffnung des Brustkorbes. Diese drei Methoden waren epochale Entdeckungen, haben sie doch den Weg zur minimalinvasiven Chirurgie erschlossen. 
Die Wissenschaftler waren großen Anfeindungen ausgesetzt. Dennoch haben Weiterentwicklungen stattgefunden, denen die Ideen von Dotter, Rushkind, Porstmann, Grüntzig u. a. zugrunde liegen und die die operative Medizin revolutioniert haben. Für das Fachgebiet Radiologie wurde der Katheter nun von einem diagnostischen zu einem therapeutischen Instrument. Es entstand ein komplett neues Arbeitsgebiet, die Interventionsradiologie. Diese erlaubt heute auf minimalinvasivem Wege die Behandlung komplexer Krankheitsbilder.
 
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Rolf W. Günther. 
 
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Der Autor: Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Otto Kagel, Schüler von Werner Porstmann, Richard Reding (Greifswald / Rostock ), Hans-Jacob Corners (Greifswald / Berlin), Eberhard Baudisch (Jena) und Wilhelm Oelßner (Leipzig), ist Facharzt für Chirurgie / Gefäßchirurgie und Radiologie und wirkte u. a. als Hochschullehrer an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald.
 
 

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Kagel: Geschenksendung, keine Handelsware - Chronik einer langen Flucht Kagel: Geschenksendung, keine Handelsware - Chronik einer langen Flucht
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Die Grenzen der Erde - Über die Endlichkeit natürlicher Ressourcen

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Begrenzte Ressourcen – das Ende des Wachstums

Versiegende Energievorräte und zunehmender Verbrauch von Ressourcen durch den Menschen auf dem räumlich und inhaltlich begrenzten Planeten Erde – ein schleichender, kaum spürbarer Prozess: Es gibt keinen unbegrenzten Zufluss von Öl, Gas, Kohle und Uran. Energie wird knapp und immer teurer. Doch der Verbrauch wächst weiter. Wie lange können die Vorräte noch reichen?

Das Autorenteam, ein Geophysiker und ein Physiker, hat die besten Daten über die noch vorhandenen Rohstoffvorräte und deren Unsicherheiten analysiert und auf verschiedenen Wegen berechnet, wie lange sie noch reichen können. In diesem Buch werden die Ergebnisse vorgestellt und der Verbrauchsentwicklung gegenübergestellt – abhängig von den globalen gesellschaftlichen Bedingungen, also unser aller Verhalten und Erwartungen. Es geht nicht um Prophezeiungen oder Angstmache. Es geht um existierende Zukunftsmöglichkeiten und nüchterne, jedoch beeindruckende Information für Verantwortung Tragende und alle Konsumenten. 

Autoren:  Professor Dr. Wolfgang Jacoby, Professor Dr. Oliver Schwarz

Jacoby

Wolfgang Jacoby forscht zunächst in Kanada, dann an der Goethe-Universität Frankfurt und seit 1984 an der Johannes-Gutenberg Universität Mainz als Professor für Geophysik und Geodynamik. Seine Schwerpunkte sind Rohstoffexploration und Plattentektonik und seit 2002 Ressourcen, ihr Verbrauch und die Konsequenzen des exponentiellen Wachstums. Er war bisher Herausgeber des Journal of Geodynamics (Pergamon Press, später Elsevier Science), Sektionssprecher Geodynamik in der European Geoscience Union (EGU) sowie Organisator und Vorsitzender vieler Fachtagungen.

Schwarz

Oliver Schwarz, Astronom und Physikdidaktiker, leitet die Universitätssternwarte und das Institut für Physikdidaktik der Universität Siegen. Nach Arbeiten über die historische Entwicklung der Theorie des inneren Aufbaus der Sterne und das galaktische Geschwindigkeitsfeld beschäftigt sich der Universitätsprofessor seit einigen Jahren mit der Frage, welche astronomisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten das Wachstum der menschlichen Zivilisation begrenzen. Der Autor bzw. Mitautor zahlreicher Schullehrbücher für Physik und Astronomie und Herausgeber der Zeitschrift „Astronomie+Raumfahrt im Unterricht“ ist Vorsitzender des Bildungsausschusses der Astronomischen Gesellschaft.

 

Wolfgang Jacoby/Oliver Schwarz: Die Grenzen der Erde - Über die Endlichkeit natürlicher Ressourcen, Broschur, 14,98, ISBN 978-3-86992-118-1

 

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Systematische Erforschung der Zahnfarbe, Zahnfarbmessung und dentaloptischer Phänomene Systematische Erforschung der Zahnfarbe, Zahnfarbmessung und dentaloptischer Phänomene
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Brink: Kosmische Würfelspiele und die Entwicklung der Erde Brink: Kosmische Würfelspiele und die Entwicklung der Erde
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Brink: Kosmische Würfelspiele und die Entwicklung der Erde

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Neue Aspekte und Denkansätze aus den Geowissenschaften

Unsere Erde, die um die Sonne kreist und vom Mond umrundet wird, muste sich unter einem Asteroidenbombardement entwickeln – mit entscheidendem Einfluss auf das Leben. Und in der Tiefe der Erde spielten sich Prozesse ab, die uns heute Erdöl und Erdgas bescheren. 
 
Erdölfelder und Asteroidimpaktkrater, Prozesse in der Natur, die Entwicklung des Lebens, das natürliche Sein und Werden auf unserem Blauen Planeten haben eines gemein: Sie folgen den gleichen Regeln, den Regeln eines Würfelspiels. 
 
Zeitliche Abfolgen und räumliche Verteilung einzelner erdbezogener Systeme grafisch dargestellt und naturwissenschaftlich analysiert führen in diesem Buch zu Schlussfolgerungen, die überraschen werden, können sie doch persönliche Weltanschauungen verändern und Antworten auf tief greifende Fragen nach dem Sinn des Lebens fundamental beeinflussen.
 
Ein Buch nicht nur für Geo- und Geisteswissenschaftler, Geografielehrer, Beschäftigte der Erdölindustrie, sondern für jeden Leser, der an Natur- und Geisteswissenschaften, an innovativen Gedanken und neuen, spannenden Erkenntnissen interessiert ist.

Unsere Erde, die um die Sonne kreist und vom Mond umrundet wird, muste sich unter einem Asteroidenbombardement entwickeln – mit entscheidendem Einfluss auf das Leben. Und in der Tiefe der Erde spielten sich Prozesse ab, die uns heute Erdöl und Erdgas bescheren. 

Erdölfelder und Asteroidimpaktkrater, Prozesse in der Natur, die Entwicklung des Lebens, das natürliche Sein und Werden auf unserem Blauen Planeten haben eines gemein: Sie folgen den gleichen Regeln, den Regeln eines Würfelspiels. 

Zeitliche Abfolgen und räumliche Verteilung einzelner erdbezogener Systeme grafisch dargestellt und naturwissenschaftlich analysiert führen in diesem Buch zu Schlussfolgerungen, die überraschen werden, können sie doch persönliche Weltanschauungen verändern und Antworten auf tief greifende Fragen nach dem Sinn des Lebens fundamental beeinflussen.

Ein Buch nicht nur für Geo- und Geisteswissenschaftler, Geografielehrer, Beschäftigte der Erdölindustrie, sondern für jeden Leser, der an Natur- und Geisteswissenschaften, an innovativen Gedanken und neuen, spannenden Erkenntnissen interessiert ist.

 

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Dr. rer. nat. Heinz-Jürgen Brink, Jahrgang 1950, war nach seinem Geophysikstudium in Kiel als Explorations-Teamleiter, Chefinterpreter, Referatsleiter, Technischer Experte sowie als Senior Explorationist für namhafte Konzerne weltweit tätig. Heute ist der Verfasser und Mitverfasser von über 40 wissenschaftlichen Publikationen als Lehrbeauftragter an einigen deutschen Universitäten sowie als geowissenschaftlicher Consultant für die europäische Erdöl- und Erdgasindustrie tätig.

 

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Leseprobe:

 

Geleitwort

 

Wir leben auf der Erde und sind uns dessen nur oberflächlich bewusst, und wir wissen sehr wenig über sie. Sie langweilt uns sogar, sie ist ja so selbstverständlich. Oder wir engagieren uns für die Umwelt und merken nicht, dass wir viel weiter und tiefer denken müssen als an unsere direkte Umgebung. Im Geografieunterricht haben wir fast nichts darüber gelernt. Aber wir klagen über steigende Kraftstoffpreise und schimpfen über Ölkonzerne und Energieversorger und vergessen, dass es um ERD-Öl und irdische Rohstoffe geht.

Was uns fehlt, ist ein Grundverständnis von Zusammenhängen zwischen Erdöl und Erdgeschichte, Energie und Konsum, Land und Meer, Vulkanen und Erdbeben und Zeit und Strukturen, Leben und Tod ... Wissenschaftler und Spezialisten schüchtern uns ein, statt uns zu selbstständigem Denken anzuregen. Sie beschränken sich meist – aus guten Gründen – auf belegbare „Fakten“ und vermeiden Spekulationen. Die Medien andererseits berichten über geologische Ereignisse, aber ohne Grundverständnis oder ein Gesamtbild zu vermitteln. Der Autor versucht, unsere Blockierungen aufzubrechen und zum Spielen mit Ideen anzuregen. Dabei verwendet er auch etwas Mathematik, aber es lohnt sich, die Einführungen gründlicher zu lesen, um z. B. die zentrale Rolle der „Lognormalverteilungen“ und des Würfelns („Monte Carlo Analyse multiplikativer Systeme“) zu verstehen.

Der Geophysiker und Erdölgeologe Heinz-Jürgen Brink erzählt von Aspekten, die Laien und Fachleute überraschen werden: Zufallsverteilungen in der Natur, Würfeln, Glücksspiele, Mensch und System, Gott, Hiob, globale Geodynamik, Einschläge kosmischer Körper, Entstehung des Lebens ... Von einem Erdölgeologen erwartet man das nicht. Philosophisches Nachdenken? Jedoch sind es gerade seine Kenntnisse über Lagerstätten, Exploration, Gewinn und Risiko, welche die Grenzen sprengen. Lagerstätten treten nicht irgendwo und irgendwann auf, sondern hängen mit der Geschichte der dynamischen Erde zusammen. Und sie ist in der Tat viel spannender, als die meisten denken. Heinz-Jürgen Brink versucht nicht, mit letzten wissenschaftlichen „Fakten“ zu belehren, sondern vermittelt das Gefühl von Herausforderungen, Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der Natur, eben vom Würfelspiel wie im wirklichen Leben.

Wie wir von Würfelspiel zu Vernunft, Zufallsverteilungen, zur Frage nach Gott und Mensch kommen, wird hier nicht verraten, aber es sei erwähnt, dass der Bezug zu Gold und Edelsteinen bis zur Weisheit durchaus schon zu biblischen Zeiten gesehen wurde. Ich hatte als Jugendlicher mal die Bibel durchgelesen, aber die Ausführungen im Buche Hiob über Bodenschätze hatte ich inzwischen vergessen.

 

Die Überlegungen über Zufall und Würfeln führen zur globalen Geodynamik und zu einer recht umfassenden Einführung in die Erdgeschichte, mit der sich Geologen seit Langem befassen. Hier macht die lückenhafte Datensituation Schlussfolgerungen wissenschaftlich meist schwierig und fordert zu Spekulation heraus. Aufgrund von Zufallsverteilungen kann man aber plausible Zusammenhänge zwischen Impakten (kosmischen Einschlägen), Mantel-Plumes, riesigen Flutbasaltprovinzen, Sedimentbecken, Entstehung des Lebens ... diskutieren. – Schon von Mantel-Plumes gehört? Federbüschen auf Ritterhelmen? Rauchsäulen? Es sind heiße Aufströmungen, „Konvektionssäulen“ im etwa 3000 km dicken Erdmantel. Man kann fragen, ob große kosmische Einschläge Strömungen im ganzen Mantel auslösen können, mit allen Folgen, welche die meisten Geologen heute den Mantel-Plumes zuschreiben. Auch ich befasse mich mit einem Plume, dem Island-Plume, der teilweise nachgewiesen aber im Ganzen immer noch umstritten ist. Es ist ein faszinierendes Thema, und Brinks Ideen und Überlegungen sind auch für mich wichtig.

Ich wünsche dem Buch eine interessierte Leserschaft, die nicht einfach „glaubt“, sich jedoch zu kritischer Prüfung und zu Weiterdenken anregen lässt. Ein weiter Bogen überspannt aktuelle Forschungsdiskussionen. Die Erde, auf der wir leben, ist ein spannendes Feld. Manche der aufgeworfenen Fragen können zum Beispiel modelliert werden. Die angedeuteten (zitierten) komplexen Beziehungen können systematisch überprüft werden, allerdings nicht nur so nebenbei, jedoch durch den vorliegenden Leitfaden erleichtert.

Ich schließe mit einem Zitat aus den Schlussfolgerungen:

„Prozesse auf der Erde wie die Bildung von Systemen von Erdöl- und Erdgasfeldern sind wie in einem Kasino den Würfeln der Natur überantwortet und werden dabei unsichtbar gesteuert von einer Auswahl der Regeln des Spiels, die man als Naturgesetze versteht. Die Komplexität eines Systems bzw. die Differenziertheit seiner ‚Mitglieder’, die in anthropogenen Systemen u. a. denkende, selbstreflektierende, rückkopplungsfähige, streitbare und ehrgeizige auf Rangfolgeänderung bedachte Individuen sind, wird dabei bestimmt durch die Anzahl der einwirkenden Parameter. Wie beim Würfelspiel sind auch in der Exploration nach Erdöl und Erdgas Glück und Pech, Zufall und Notwendigkeit, Vergangenes und Zukünftiges unlösbar miteinander verbunden, sowohl auf wissenschaftlicher und wirtschaftlicher wie auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene“.

                                                                                                                                             Prof. Dr. Wolfgang Jacoby

                Mainz, im August 2011

1.Einleitung

 

Ist das Ziel das Ziel oder ist der Weg zum Ziel das Ziel oder gilt irgendwie beides? Wie fälle ich meine Entscheidungen optimal, oder anders herum, wie kann ich den Anteil meiner Fehlentscheidungen minimieren? Vor diesen Fragen stehen viele Menschen, besonders auch diejenigen, die sich professionell mit Risiken, Wahrscheinlichkeiten, hohen Gewinnen oder Verlusten sowie mit den Unberechenbarkeiten der Natur auseinandersetzen müssen. Rohstoffe, die ein Rückgrat der menschlichen Zivilisation bilden, und die Suche nach ihnen symbolisieren diese fünf Begriffe hervorragend und stellen die Explorateure vor immer neue und aufregende Aufgaben, an der sie jederzeit scheitern können, die sie im Erfolgsfall aber auch tragen und Genugtuung versprechen.

Das gilt sicherlich auch für die Geophysiker und Geologen der internationalen Erdöl- und Erdgasindustrie. Fehlentscheidungen, seien sie einfach nur Pech oder von menschlichen Schwächen wie Inkompetenz, Arroganz oder Ignoranz verursacht, weil man vielleicht zu frühzeitig meinte, schon alles Erforderliche zu wissen, haben für die eine oder andere Firma schon riesige Verluste, wenn nicht sogar das generelle Aus bedeutet. Hinzu kommen noch die vielen ungelösten Rätsel, die im Untergrund der Erde verborgen sind und fast jedes explorative Bohrprojekt zu einem Vabanquespiel machen können. Zur Enträtselung des Untergrundes und damit der Schaffung einer besseren Entscheidungsgrundlage für die nach Erdöl und Erdgas explorierenden Firmen ist eine umfangreiche geowissenschaftliche Vorbereitung eine notwendige Voraussetzung. Je komplizierter der Untergrund ist, je mehr Rätsel er verbirgt, umso mehr muss geophysikalisch und geologisch vorgearbeitet werden, was natürlich Kosten für Erkundung und Personal hochtreibt. Bei den Versuchen anfallende geowissenschaftliche Daten, die der Rätsellösung dienen sollen, werden nach den ersten Interpretationen und Entscheidungsfindungen in endlosen Archiven gespeichert und zusätzlich für Computeranwendungen aufbereitet, sodass sie von den Wissenschaftlern der Erdölindustrie jederzeit wieder abgerufen, neu analysiert und re-interpretiert werden können. Global operierende Unternehmen sind dabei im Vorteil, da ihre Datenbasis die gesamte Erde umfasst, inklusive der, die von Universitäten und Forschungsinstitutionen weltweit umfangreich veröffentlicht werden. Sie können damit einen genaueren Einblick gewinnen, auf welche geophysikalischen und geologischen Beobachtungen unbedingt zu achten ist, will man für geplante Projekte Risiken möglichst reduzieren und Erfolgswahrscheinlichkeiten erhöhen. Zusätzlich gewinnen sie Erkenntnisse darüber, was die Entwicklung der Erde im Allgemeinen antreibt und wie Prozesse in der Natur ablaufen oder abgelaufen sind. Diesem Themenkomplex wird sich die vorliegende Arbeit widmen und ihm eine naturphilosophische Komponente, und wer will, auch eine göttliche Sinngebung vermitteln. Die Arbeit wurde in zwei Hauptteile untergliedert, jedes mit eigenem Literaturverzeichnis. Der erste Hauptteil befasst sich mit (1) der Erdöl- und Erdgasexploration als eine wichtige Quelle geowissenschaftlicher Erkenntnis, (2) geodynamischen Würfelspielen sowie (3) deren naturphilosophische Deutung unter anderem anhand eines räumlich eng eingegrenzten Beispiels im Norddeutschen Becken, der Grafschaft Bentheim. Die Identifizierung mit einer kleinen Region soll helfen, die abstrakten Analysen in eine allgemein vertrautere und zugänglichere Ebene zu projizieren. Im zweiten Hauptteil wird versucht, (1) Impakte kosmischer Asteroiden auf der Erde, deren Größenverteilung ebenfalls dem Wirken eines Würfelspiels zugeordnet werden kann und deren potenzielle Auswirkung auf die globale geodynamische Entwicklung bedeutend zu sein scheint, sowie (2) die Entstehung des irdischen Lebens in einem Ursachen- und Wirkungszusammenhang miteinander zu verknüpfen. Der Tod, der jedem Leben wieder ein Ende setzt, ist Voraussetzung dafür, dass abgestorbenes Leben durch eine nachfolgende Deponierung und Diagenese eine Nachnutzung in Form von Erdöl, Erdgas und Kohle für spätere Generationen von Leben (von Mikroorganismen z. B. im Golf von Mexiko bis hin zum Menschen) ermöglicht. So schließt sich der Kreis. In den Schlussfolgerungen werden die Erkenntnisse aus den zwei Hauptkapiteln gemeinsam betrachtet und analysiert, was zu naturphilosophischen Fragen über Sein, Werden und Sinn des Lebens auf der Erde führt. Ein Glossar am Ende des Buches soll dazu dienen, der Fachsprache durch einige wesentliche Begriffserklärungen etwas von ihrer Unnahbarkeit zu nehmen. Der kolorierte Holzschnitt eines „Explorateurs“ nach Camille Flammarion gleich zu Anfang und die Fotos und künstlerischen Abbildungen A bis H von Jacob van Ruisdael, Heino Lübben u. a. wirken neben den abstrakten Grafiken in diesem Buch hoffentlich auflockernd und anregend zugleich.

 

2.Die Grafschaft Bentheim: Erdöl und Erdgas, Ordnung schaffende Würfelspiele und naturwissenschaftlich – göttliche Sinngebung

 

2.1Einleitung

 

Speziell der heimatverbundene Mensch liebt die Landschaft, in der er aufwächst, auch wenn er weiß oder ahnt, dass sie im Vergleich zu anderen möglicherweise eher herb als grandios ist. Dies gilt sicherlich auch für die Grafschaft Bentheim und ihre Bewohner, den Verfasser eingeschlossen, der dort geboren wurde und in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des Zwanzigsten Jahrhunderts bis zum Ende seiner Schulzeit, die er am Gymnasium Nordhorn beendete, aufwuchs. Die Landschaft der Grafschaft Bentheim beiderseits des Mittellaufs der Vechte, von Topografie (Abb. 2.1), Vegetation, Gewässer, Boden und Geologie wechselwirksam geprägt und erst seit historischer Zeit durch den Menschen verändert und durch den Bau der Burg Bentheim ca. 1020 n. Chr. (Abb. A) und die Anlage des Dorfes Uelsen schon seit der Bronzezeit (Abb. B) zeitlos gekrönt (beide im Bereich isolierter topografischer Hochgebiete gelegen, Bentheim auf der südlichen Hochlage in der Obergrafschaft, Uelsen auf der westlichen in der Niedergrafschaft), repräsentiert als Oberfläche nur den gegenwärtigen Zustand einer langen Kette von Entwicklungen, die ihren Ursprung in vergangenen geologischen Zeiträumen hat. Hinweise auf diese Entwicklung sind über viele Tiefenkilometer im Untergrund der Grafschaft verborgen und reichen mindestens 360 Millionen Jahre (Abk.: 360 Ma) zurück (Abb. 2.2, Tab. I).

 

 

In dieser Zeit ist das Gebiet der heutigen Grafschaft im Verbund mit den Nachbarregionen aus Äquatornähe via Kontinentaldrift in die heutigen Breiten verschoben worden und hat dabei ein bis zwei lang andauernde Meeresspiegelanstiege von ca. 200 m, in den durchwanderten Klimazonen unterschiedlichste sedimentäre und erosive Rahmenbedingungen sowie mehrere geotektonische Phasen miterlebt. Ergebnisse dieser Entwicklung werden unter anderem durch die über mehrere geologische Stockwerke komplex verteilten Erdöl- und Erdgasfelder vor allem in der Niedergrafschaft (Abb.2.3) charakterisiert, die zu den größeren Kohlenwasserstoffsystemen Niedersachsens gehören. Der wesentliche Teil des Erdöls wird aus dem im Untergrund weit verbreiteten porösen Unterkreide-Sandstein gefördert, aus dem auch die Burg Bentheim errichtet wurde. Die Komplexität der kleinräumigen Verteilung scheint im Vergleich zum restlichen Niedersachsen in der Grafschaft sehr hoch zu sein (Erdöl in Speichergesteinen der Unterkreide und des Malms, Erdgas in denen des Karbons, des Perms und der Trias), was aber in einer global-abstrakten Betrachtung einer Konzentration auf eben dieses geografische Beispiel nicht widersprechen dürfte. Der Landkreis nimmt damit in Norddeutschland eine Sonderrolle ein, an die, allgemein gesprochen, seine Bürger durchaus gewöhnt zu sein scheinen.

 

 

Diese Komplexität und seine Deutung ist das zentrale Thema des vorliegenden Kapitels, das sich in einigen Teilen eng an eine frühere Arbeit des Verfassers anlehnt (Brink 2009b). Dazu wird notwendigerweise weit ausgeholt, werden Erdölexploration, die Varusschlacht, Würfelspiele, Lognormalverteilungen, Monte-Carlo Analysen, Entstehung der Erde, Evolution des Lebens, Ordnung und Organisation, Entstehung und Füllung sowie Modifikation von Sedimentbecken, Erdöl- und Erdgassysteme, Geophysik, der Mensch und seine Fragen zu einem persönlichen Gott sowie alttestamentliche Aussagen Hiobs zur Rohstoffsuche in einer integrativen Art und Weise teilweise fachsprachig bemüht und wird immer wieder versucht, die Grafschaft in den Kontext der Thematik einzubinden. Der Schlusssatz wird dann mit den Worten Caesars lauten: „Alea iacta est!“ Auch in der Grafschaft Bentheim.

 

 

2.2Ursprung Erdölexploration

 

Woher wissen wir, was in den vielen Millionen Jahren vor unserer Zeitrechnung in der Grafschaft passiert ist? Die Antworten dazu haben die geologischen und geophysikalischen Aufschlussmethoden im Rahmen der Erdöl- und Erdgassuche geliefert. Unglücklicherweise hatte diese Suche 1957 zu einem spektakulären Erdölausbruch in der Niedergrafschaft geführt, der aber nach kurzer Zeit unter Kontrolle gebracht werden konnte. Ein ähnliches wesentlich größeres Desaster im Golf von Mexiko hat uns 2010 wieder anschaulich die Augen dafür geöffnet, dass auch heute noch die Förderung von Erdöl ein ‚schmutziges’ Geschäft sein kann. Die Naturwissenschaftler, Ingenieure und Techniker von British Petroleum und Halliburton muss es außerordentlich schmerzen, dass ihre Firmen eine große Umweltkatastrophe zu verantworten haben. Auch mancher nachdenkliche Tankstellenkunde wird sich sicherlich gefragt haben, ob sein Drang nach Bewegungsfreiheit und der damit verbundenen Schaffung eines Marktes für Erdölprodukte nicht ein klein wenig mitschuldig geworden ist. Dabei ist das Leck im Golf nicht die einzige ölbedingte Sünde, die unseren Planeten beutelt. Tankerhavarien, Abgase und CO2-Ausstoß sowie terroristische Attacken und kriegerische Einsätze gegen Erdölinstallationen gehören ebenfalls dazu. Im Vergleich zu dem Segen allerdings, den das Erdöl den Menschen bringt, scheinen diese Sünden für die überwiegende Mehrheit der Bürger marginal und müssen eben in einer multipolaren Welt schweren Herzens erduldet werden, wenn sie wohl zu lindern, aber eben nicht zu verhindern sind.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Heinz Wetzel: Wo die Bäume im Wasser stehen

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Ein Roman von Profit und Umwelt, 
Vergangenheit und Zukunft, Liebe und Tod
 
Anna will in Kanada für ihre wissenschaftliche Arbeit über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg mehr erfahren. Doch die junge Deutsche verliebt sich in David, einen Kanadier. Von ihm erfährt sie die Geschichte von Berczy, der bei seiner Geburt Albert Ulrich Moll hieß und Ende des 18. Jahrhunderts deutsche  Einwanderer nach Kanada führte. Anna will das Unrecht englischer Kolonisatoren erkennen, das er und seine Siedler ertragen mussten und sieht darin eine frühe Parallele zu der Behandlung des peruanischen Indios und Torontoer Studenten José: Beide gelten den Behörden nur als Unruhestifter. 
 
José ist nicht nur Student, sondern er gehört auch einer Gruppe Indios an, die das Torontoer Verbindungsbüro einer Ölfirma angreifen, weil die Ölförderung den CO2-Ausstoß vergrößert und vielleicht einen Indianerstamm im kanadischen Fördergebiet schon mit Krankheiten überzogen hat. José fühlt sich solidarisch, weil auch er aus einem Ölfördergebiet – am Amazonas – kommt. Schließlich wird er von der kanadischen Polizei verhaftet. Das Drama nimmt seinen Lauf ...
 

Heinz_Wetzel_athenemedia

Der Autor: Heinz Wetzel wurde in Ziesar (Brandenburg) geboren. Im Alter von 14 Jahren kam er in das Internat der Francke'schen Stiftungen nach Halle (Saale), mit 16 floh er aus der damaligen DDR nach West-Berlin. Nach Studium und Heirat zog er mit seiner jungen Familie erst nach Frankreich, dann in die USA und schließlich nach Kanada.
 
Seit den siebziger Jahren ist er Professor an der University of Toronto. In Deutschland wurde er durch zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen und durch seinen ersten Roman Auf nach Hellas! bekannt. 
 
Heinz Wetzel: Wo die Bäume im Wasser stehen 333 S., € 23,98, ISBN 978-3-86992-215-7
 
Titelbild zum Download (300 dpi)
 
Leseprobe:
 

1    Die Ankunft

 

Als das Flugzeug aufsetzt, spürt sie den Stoß, spürt auch, dass es sich noch einmal ein wenig hebt, ganz kurz nur, um dann endgültig zu landen.

                    ‚Endlich’, denkt sie.

 Stunden zuvor hatte sie aus dem Fenster gesehen. Der Flug war unruhig geworden, und tief unten erkannte sie eine Küste, es war Labrador. Sie saß hinter der rechten Tragfläche und sah, wie sie vibrierte. Nach einer Weile war alles wieder ruhig, und sie waren lange über eine weite, graugrüne Landschaft geflogen, in der sie nur allmählich Seen und Wasserläufe ausmachen konnte, aber sie sah kein Zeichen menschlicher Besiedlung.

Dann tauchte hier und da der hellere Strich einer Straße auf, und nach und nach verbanden sich die Striche wie zu einem Netz. Später waren Wälder zu erkennen, und Seen glänzten herauf. Manchmal sah sie den Sankt-Lorenz-Strom, wie er sich breit durch das Bild wand. Nur langsam wurde er schmaler.

An seinem Ufer suchte sie Städte, die sie aus dem Atlas kannte: Baie Comeau lag am nördlichen Ufer, da, wo ihr Fenster war; auch Trois Pistoles lag dort. Bedeutete der Name vielleicht, dass Menschen sich in dieser Einöde bekriegt hatten, womöglich bis aufs Blut? Und warum? Rivière-du-Loup lag am Südufer des Stroms, sie konnte es nicht sehen. Hatten die französischen Siedler an diesem Fluss Wölfe gesehen oder sich sogar davor gefürchtet? Namen hatten sie schon immer fasziniert. Deshalb wusste sie auch, dass die Mikmaq-Indianer in Rimouski Elchen begegnet waren, vielen Elchen. Hier fühlte sie sich wohler als bei den Erinnerungen an Hass und Angst, welche die früheren Ortsnamen ihr suggeriert hatten. Von Nordwesten her mündete ein breiter Fluss in den Sankt Lorenz, der Saguenay.

Zwischen Québec City und Trois-Rivières sah sie jetzt öfter Straßen, erkannte auch kleinere Orte. Doch bevor sie nach Montréal kamen, hatte der Pilot den Sankt-Lorenz-Strom verlassen und Kurs auf Ottawa genommen. Als sie darüber hinweggeflogen waren, hatte er sich noch einmal gemeldet und seine Passagiere auf the nation's capital aufmerksam gemacht. Mit Mühe konnte sie die Parlamentsgebäude sehen, die in einer Flussbiegung standen. Aber dann glaubte sie sogar, geflößte Baumstämme zu erkennen, die den Fluss vom Ufer bis zur Mitte bedeckten.

Sie verließen ihre Flughöhe, und allmählich begann der Landeanflug auf Toronto. An den Straßen standen vereinzelt Farmen, und dann leuchtete von Westen her ein großer See herauf: Lake Simcoe. Als das Flugzeug eine steile Kurve zog, kam es ihr vor, als stehe das Wasser senkrecht vor ihrem Fenster. Sie dachte über den Namen nach und glaubte, dass der See nach einem der früheren Lieutenant-Governors von Ontario benannt war. Dann richtete sich das Flugzeug wieder auf, und bald darauf sah sie, wie sich Toronto in das Land hineinfraß. Die vielen Siedlungen ähnelten einander mit ihren kurvigen Straßen und ihren Sackgassen, die den Bewohnern ein heimeliges Gefühl geben sollten. Dennoch wirkte alles wie am Reißbrett entworfen. Indem sie die Landemanöver verfolgte, tauchte an den Köpfen der Mitreisenden vorbei durch das linke Fenster das Stadtinnere auf mit dem Fernsehturm und den Hochhäusern um ihn herum. Aus der Entfernung wirkte er wie eine Glucke mit ihren Kücken, nur dass es mechanischer aussah. Über allem lag eine gelblich-graue Schicht: die Luftverschmutzung. Hinter der Stadt leuchtete der Ontariosee.

Lange fuhren sie über das Rollfeld. Alles kam ihr weit und leer vor. Die langen, hellen Korridore im Terminal, die Laufbänder, das war wie überall. Als sie in einer der vielen Schlangen stand, die sich vor den Einreiseschaltern gebildet hatten, sah sie die Passbeamten, die mit ihren schusssicheren Westen und den Pistolen am Gurt an Pulten saßen und Computer-Terminals vor sich hatten. Über jedem war ein Metallraster, in dem das Bild einer flatternden rot-weißen Ahornfahne leuchtete. Anna mochte die Fahne, denn sie kam ihr friedfertig vor. Welche Nation hatte schon ein Blatt als nationales Symbol? Es schien ihr aber, dass die vielen Fahnen aussehen sollten als ob sie im Wind flatterten, wo sie sich doch nur in dem Gleichmaß bewegten, das der Takt der schnell wechselnden Stromstöße vorgab.

‚Schade’, dachte sie, indem sie das mit dem Anflug eines Lächelns betrachtete. Sympathisch fand sie dagegen das Völkergemisch um sich herum. Die Leute redeten in den unterschiedlichsten Sprachen und hielten Pässe in vielen Farben in den Händen. Ihren Rucksack, den sie zwischen den Beinen abgestellt hatte, schob Anna langsam weiter nach vorn.

Als sie an der Reihe war, fragte der Beamte, ein junger Mann, der aussah, als ob er aus der Karibik war, wie lange sie in Kanada bleiben wolle, und als sie antwortete, bis zu einem Jahr, fragte er, wie sie sich denn die viele Zeit vertreiben wolle.

„Material für meine Doktorarbeit sammelnˮ, sagte sie.

Da wollte er wissen, ob sie dafür von einer kanadischen Stelle Geld bekomme. Sie verneinte, und er schien beruhigt. Aber dann fragte er doch noch, was für eine Doktorarbeit das werden soll. Darauf ließ sich nicht so kurz antworten, wie er es sich in seiner Naivität vielleicht dachte. Es sei eine Arbeit über die Soldaten, die der englische König gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts bei den deutschen Landesfürsten gemietet hatte, damit sie gegen die amerikanischen Aufständischen kämpften, sagte sie, genauer über diejenigen von ihnen, die dann in Kanada geblieben und hier sesshaft geworden seien. Als er sie nachsichtig anlächelte, glaubte sie schon, er wolle sie fragen, wen denn so alte Geschichten noch interessieren. Dann hätte er einiges zu hören gekriegt, denn dass deutsche Fürsten ihre Landeskinder verschacherten, machte sie immer noch wütend. Er wünschte ihr aber nur good luck und wandte sich den nächsten Passagieren zu.

 

2          Little Italy

Anna nahm nach langem Warten ihren Koffer vom Band und gab den Zettel, den sie im Flugzeug ausgefüllt und auf den der junge Mann noch irgendein Zeichen gemalt hatte, einem Zöllner, der am Ausgang aus dem Gepäckraum auf einem hohen Hocker thronte. Als sie durch die automatische Schiebetür ging, standen viele Leute in der Halle, die jemanden abholen wollten. Manche hielten Namensschilder hoch. Anna wurde nicht erwartet.

Am Ausgang nahm sie ein Taxi. Sie wollte nach Little Italy, in den Stadtteil, wo die meisten Einwanderer wohnten. Die Frage des Fahrers nach der Adresse konnte sie kaum verstehen; offenbar stammte er nicht aus Kanada. Sie überlegte noch, woher der Mann sein könne, als er seinerseits fragte, woher sie denn käme.

„From Germanyˮ, antwortete sie.

Das reichte ihm als Freibrief zum Erzählen. Er stamme aus der Türkei, aus der Nähe von Izmir, sagte er. Nein, den Kanadiern sei es egal, wer ihnen die Arbeit macht; diskriminiert habe er sich nie gefühlt. Alle seine Kinder hätten ein College besucht, eines sogar die Universität. Die Jüngste sei noch in der Ausbildung. Alle Tore stünden ihnen offen, anders als ihm. Der Einwanderergeneration bleibe nur die einfache Arbeit; das sei überall so. Na ja, gemacht werden müsse die schließlich auch, und die Kinder könnten dann auf den Schultern der Eltern stehen. Er sagte das mit sichtbarem Stolz.

„Sind Sie zum ersten Mal in Toronto?ˮ, wollte er wissen, als er von der vielspurigen Autobahn ab- und in eine Straße einbog, die geradeaus nach Süden lief.

Sie bejahte und erzählte ihm, dass sie einige Zeit bleiben würde. Rechts und links waren Geschäfte, es gab auch Bäume; sie kamen an einem Busbahnhof und bald darauf an einem riesigen Friedhof vorbei. Oft mussten sie warten, weil die Ampeln rot waren.

‚Es sieht aus wie überall’, dachte sie etwas enttäuscht. Einmal merkte sie, dass der Fahrer sie im Rückspiegel beobachtete, wie sie sich alles ansah.

„Das ist die Yonge Streetˮ, sagte er, „es soll die längste Straße der Welt sein. Warum die Leute das glauben, weiß ich nicht; wahrscheinlich, weil auch in Kanada alles größer, schneller und schöner sein muss als anderswo. Die meisten Kanadier sind eben noch nicht in der Gegend von Izmir gewesen.ˮ Seine Augen und Zähne blitzten in einem gutmütigen Lachen.

Die Yonge Street beginne am Ontariosee und ende hoch oben in der kanadischen Arktis, wahrscheinlich in einem Iglu. Anna war unsicher, ob sie das glauben sollte oder ob er es sich gerade ausgedacht hatte. Einmal sei der damalige Premierminister Trudeau hingeflogen, aber die Eskimos hätten nur ihr Inuktitut gesprochen, nichts verstanden und gar nicht gewusst, welch hohen Besuch sie bei sich hatten. Das sei ihnen auch gleichgültig gewesen, denn gastfreundlich waren sie sowieso.

Die Yonge Street teile Toronto in eine östliche und eine westliche Hälfte, sagte er, sie werde ja sehen. Dann ging es um einige Ecken. Die Straßen waren noch immer gerade, fast wie mit dem Lineal gezogen, allmählich wurden sie aber schmaler, und die Häuser wurden niedriger; es waren Wohnhäuser.

Die kleine Wohnung, die Anna schon von Hannover aus gemietet hatte, lag im oberen Stockwerk in einem der vielen engen Häuser, die schon aus dem neunzehnten Jahrhundert stammten.

Die Wirtin begrüßte sie; ihre beiden Mädchen versteckten sich hinter ihrer Mutter und sahen neugierig auf die Fremde, die nun bei ihnen wohnen würde. Anna schleppte ihren Koffer die enge Treppe hinauf.

Oben packte sie aus. Zuerst die Manuskripte. Sie traute ihrem Laptop nicht ganz; man brauchte nur eine falsche Taste zu drücken, oder ein Virus schlich sich über das Internet ein, und schon war alles hin. Deshalb hatte sie das Wichtige schon zu Haus ausgedruckt, auch die Bibliographie und die Liste mit den Archiven und Bibliotheken, in denen sie Dokumente für ihre Arbeit zu finden hoffte. Die legte sie, zusammen mit dem Futteral, in dem sie ihre Flöte hatte, vorsichtig in ein Schrankfach im Wohnzimmer.

Das kleine Badezimmer enthielt nur eine Dusche und ein Waschbecken. Hierher brachte sie, was sie für ihre Hygiene brauchte. Im Schlafzimmer war noch ein Schrank. Mit ihrer Kleidung war Anna großzügiger und warf die meisten Sachen, wie sie aus dem Koffer kamen, einfach in die Fächer. Zum Glück gab es aber auch ein paar Bügel. Die kleinen Dornen in den Hosenaufhängern waren praktisch, denn nun konnten die Hosen nicht herausrutschen und zur Erde fallen. Sie fand sie aber auch enttäuschend, nicht weil die kleinen Druckstellen unten in den Hosenbeinen manchmal sichtbar blieben wie winzige Löcher, sondern weil sie diese Bügel aus Deutschland kannte. Da reist man nun über Land und Meer, und dann findet man immer noch die gleichen chinesischen Plastikbügel. Als alles an seinem Platz war, hatte sie Hunger. Sie ging in das kleine Einkaufszentrum in der Nähe, von dem ihre Wirtin gesprochen hatte. Mit den Kanadiern würde sie schon zurechtkommen; sie war ja nicht zum ersten Mal im Land.

Anna war ein Einzelkind, und damals zum Abitur hatten ihre Eltern ihr eine Reise nach Nordamerika geschenkt. Vater und Mutter waren aber mitgefahren. Seitdem hatte sie davon geträumt, noch einmal allein herzukommen, und nachdem sie sich bei ihrem Studium der Amerikanistik in Göttingen lange genug mit dem Land beschäftigt hatte, dachte sie, die Zeit sei nun gekommen. Diesmal kam sie mit einer festen Absicht: Sie wollte ergründen, wie aus deutschen Rekruten kanadische Bauern geworden waren, deren Kinder, vor allem dann die Enkel, sich hier so sehr zu Haus fühlten, dass sie Deutschland als ein seltsames, fernes Land ansahen. Sie hatte gelesen, dass sie schon die deutsche Sprache, die ihre Eltern ihnen beigebracht hatten, nicht mochten und dass auch der Akzent, der sich niemals aus dem Englisch ihrer Eltern oder Großeltern verlor, ihnen peinlich war.

Anna fand das Einkaufszentrum, fand auch ein Selbstbedienungsrestaurant, und nachdem sie sich Reis, Salat und Hühnerfleisch, dazu eine Banane und eine Tüte Milch auf ihr Tablett gelegt hatte, setzte sie sich an einen freien Tisch. Es schmeckte wie in Deutschland, denn wie die Kleiderbügel war auch das Restaurant chinesisch. Zwar war es nicht so blitzblank, nicht ganz so gepflegt wie zu Haus, aber das fand sie gut, denn dadurch wirkte alles etwas gelassener. Später sah sie sich die Reihe der kleinen Läden an und kaufte noch ein paar Lebensmittel. Dann war sie müde. In Hannover war Mitternacht längst vorbei.

Am andern Morgen war sie schon kurz nach vier wieder wach: Zu Haus waren sie schon lange auf den Beinen; so gesehen hatte sie länger geschlafen als sonst. Der Tag gestern war aber auch lang gewesen: Erst der Abschied von den Eltern, die sie nach Langenhagen zum Flughafen gebracht und nicht aufgehört hatten, ihr Ratschläge zu geben, bis sie durch die Kontrolle gegangen war, und dann kam das Umsteigen in Amsterdam, wo Air Canada sie von ihrem reservierten Platz vertrieben hatte, weil irgendeine Hockeymannschaft zusammensitzen wollte. Dann der lange Flug und schließlich die Fahrt in die Stadt.

Sie blieb noch eine Weile liegen, sah sich im Zimmer um und fühlte sich einsam. Sie war schon oft in fremden Ländern aufgewacht: In Europa war sie erst mit den Eltern und dann als Studentin mit Freunden herumgereist. Sie war auch in Südafrika und in der Türkei gewesen, wenn auch nicht gerade in Izmir. In Nordamerika waren ihre Eltern mit ihr über New York und Washington nach Los Angeles geflogen, und dann hatten sie sich einen Wohnwagen gemietet und waren damit die Westküste hinaufgefahren, bis nach British Columbia. Sie erinnerte sich noch gut an die hohen Berge und die Wälder mit den großen Redwood-Bäumen. Links von ihnen war immer die Küste gewesen, und jeden Abend waren sie auf einen anderen Zeltplatz gefahren. Die Größe der Plätze, die ihnen zugewiesen wurden, und die weiten Abstände zu den Nachbarn hatten sie beeindruckt. Keinen campfire talk der Rangers, bei denen es meistens um Entwicklungen in der Natur ging, die in Jahrmillionen stattgefunden hatten, ließ sie aus. Es war, als hätte sie Platz zum Atmen gekriegt – räumlich und zeitlich. An die Niagarafälle kamen sie bei dieser Reise nicht; Vater hatte gemeint, man werde das nachholen.

Bloß das nicht! Zum ersten Mal war sie allein unterwegs. Zwar kam sie sich einsam und verloren vor, aber sie fühlte sich frei. Draußen klatschten hin und wieder Autoreifen auf den Asphalt, und es war auch zu hören, wie jemand im Haus in einer ihr fremden Sprache redete. Hier ging alles seinen Gang, von dem sie erst noch ausgeschlossen war. Diesmal würde sie jedenfalls nicht durch die Weltgeschichte bummeln, um dies und jenes zu bestaunen, sie würde auch nicht mit Kumpanen am nächtlichen Lagerfeuer hocken, sondern sich so auf ihre Arbeit konzentrieren, dass sie ihr Fremdsein vergessen würde. Sie wollte auch beruflich vorwärtskommen, aber davon hatte sie noch keine genauen Vorstellungen.

Jedenfalls wollte sie nicht zurück. Es wäre auch nicht gegangen. Ihre Eltern hatten eine Art Museum aus ihrem Zimmer in Hannover gemacht, in dem die Plüschtiere, die Poster und die Ikea-Möbel an ihrem Platz blieben. Es war schon lange nicht mehr ihr Zimmer; allmählich war es ihr fremd geworden. Auch ihre Studentenbude in Göttingen hatte sie aufgegeben, zugleich mit dem Leben zwischen Seminarräumen, Bibliotheken und Discos. Eigentlich war sie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst verpflichtet, ohne den sie nicht hergekommen wäre. Ihr Vorhaben musste das Auswahlkomitee hinreichend beeindruckt haben, denn es hatte ihrem Antrag auf ein Jahresstipendium zugestimmt, was sie etwas gewundert hatte. Sie würde zwar nach ihrer Rückkehr Rechenschaft geben müssen, aber das war noch ein ganzes Jahr hin.

Mark, ihr Freund in Göttingen, hatte Betriebswirtschaft studiert und vor einem Monat seine erste – vorläufig noch befristete – Stelle gefunden. Als sie ihm nach ihrer Magisterprüfung vor anderthalb Jahren gesagt hatte, dass sie promovieren und erst noch ein Jahr nach Kanada gehen wolle, war er zuerst traurig, dann aufsässig geworden, denn er hatte sich ein geregeltes Eheleben in Niedersachsen ausgemalt. Aber ihre Abneigung gegen ein Dasein, das sich am Gängigen orientierte, war gewachsen, als sie daran dachte, dass sie schon als Referendarin jeden Morgen in die Schule gehen und auf dem Nachhauseweg vielleicht noch einkaufen und das Kind, das Mark sich wünschte, aus der Krippe abholen müsse. Sie war neugierig. Sie wollte hinaus, wollte die Welt kennenlernen, zuerst Kanada. Davon hatte sie Mark lange nichts gesagt; wahrscheinlich hätte er sie doch nicht verstanden. Nun wollte er ihrer Hybris, wie er es nannte, nicht nachgeben, und so war es eben zum Bruch gekommen.

Sie sah an die Decke und wusste noch immer nicht, ob sie in dieser fremden Stadt vor allem frei oder eher einsam sein würde. Dann dachte sie, dass beides zugleich möglich sein müsse, und als sie zu der Ansicht kam, dass diese Frage nun sowieso müßig sei, stand sie auf. Sie glaubte, dass das vor ihr liegende Jahr wie ein weit offenes Land sei, in dem sie ihren Weg suchen wollte. In Deutschland wäre er eher vorgezeichnet gewesen.

Sie schob den dunkelbraunen Fenstervorhang zurück. Im schwachen Dämmerschein erkannte sie die gerade Straße, die Häuser, die mit ihren Vorgärten dicht nebeneinander standen; schräg gegenüber stand eine Tanne, die höher war als das Haus dahinter. Sie versuchte eine Weile, das Alter der zwei- und dreistöckigen Häuser zu schätzen, deren Giebel meist der Straße zugewandt waren, und die kleine, oft verwilderte Vorgärten hatten, und war froh, als das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos die Fassaden matt erleuchtete und ihr dieses Vorhaben etwas erleichterte.

Die meisten Häuser stammten wirklich aus dem neunzehnten Jahrhundert; sie waren viktorianisch. Hölzerne Treppen führten auf überdachte Vorbauten mit tiefblau, grasgrün oder rostrot bemalten Säulen. Hüfthohe Balustraden, die von einer Säule zur nächsten reichten, ließen die Vorbauten aussehen wie Veranden. In der Morgendämmerung erkannte sie, dass die Eingangstüren von hier aus in die Häuser führten. Am Himmel stand noch immer ein Stern.

Als die Straße allmählich von einem fahlen Morgenlicht erleuchtet und die Spitze des Giebels drüben auf der anderen Seite in das erste Sonnenlicht getaucht wurde, erkannte sie die beiden aus breiten Brettern gezimmerten und mit bequemen Lehnen versehenen Sessel auf der Veranda gegenüber. Sie sah auch, dass die Giebelfassade des Hauses drüben sich aus zwei Teilen zusammensetzte, die farblich voneinander unterschieden waren. Die rechte Hälfte bestand aus unbemalten roten Ziegelsteinen, die linke war mit hellgrauer Farbe übertüncht. Eine gerade Trennungslinie lief vom Höhepunkt des Giebeldreiecks abwärts. Es war ein Zweifamilienhaus. Der linke Nachbar hatte auch den niedrigen Zaun, der seinen Vorgarten vom Gehsteig trennte, mit leuchtender, hellgrauer Farbe gestrichen, und der Garten selbst war längst nicht so verwildert wie der rechts davon mit seinen zum Teil schon vertrockneten Büschen.

Ob sich darin wohl nationale Unterschiede äußerten, ob der linke Nachbar vielleicht ein Skandinavier und der rechte ein Italiener war? Anna trat vom Fenster zurück. Aus ihren gestrigen Einkäufen machte sie sich ein Frühstück. Eine Kaffeemaschine war da, auch ein Fernseher, aber den schaltete sie nicht ein. Sie wollte schnell aus dem Haus; sie wollte wissen, wo sie war. Um halb sieben ging sie die Straße entlang. An der rechten Straßenseite waren in einer ununterbrochenen Reihe mittelgroße und kleinere Autos geparkt. Sie bog links ab und kam in eine Straße, die der ihren glich: Auch hier waren die Häuser meistens zwei- oder dreistöckig, immer waren diese Vorbauten davor, auf die ein paar hölzerne Stufen hinaufführten, und alle standen sie in einer langen Reihe hinter ihren jeweiligen Vorgärten. Oft waren die Außenwände in einem freundlichen Blau gestrichen, während die zahlreichen viktorianischen Ornamentierungen weiß leuchteten. Manchmal war das obere Stockwerk nachträglich mit einem Erker oder einem Balkon in imprägniertem Naturholz versehen. Einmal entdeckte sie in einem der oberen Erkerfenster, das schon von den ersten Sonnenstrahlen beschienen wurde, farbiges Glas. Das leuchtete rot und grün.

Immer hatte sie geglaubt, dass in Nordamerika alles größer sei als in Europa. Aber die Straßen, die Häuser und die Autos hier in Little Italy waren unscheinbar und klein. Dafür gab es die Sterilität, die sie an Hannover und Göttingen oft beklagt hatte, kaum. Als sie sich in Deutschland informiert und Little Italy auf einem Stadtplan von Toronto entdeckt hatte, hatte sie gleich hier wohnen wollen, nicht nur wegen der niedrigen Mietpreise, sondern weil sie sich von dem Namen etwas Pittoreskes versprochen hatte, das sie nun in der Wirklichkeit wiederfand. Daran konnte sie sich erstmal halten.

Sie kam auf eine größere Straße, wo schon mehr Verkehr war. Kleine Läden waren aneinandergereiht. Wenn hier geöffnet war, konnte man elektrische Apparate kaufen, sich die Haare schneiden lassen, Hochzeitskleidung mieten, man konnte mexikanisch, griechisch oder italienisch essen oder Kinderspielzeug kaufen. Sie sah sich die Schaufenster an und entnahm den Öffnungszeiten, dass man es hier etwas langsamer angehen ließ als in Hannover. Alles sah aus, als ob die Leute sich an einen Rest Menschlichkeit klammerten, den sie nicht aufgeben wollten.

Nachdem sie eine breite Allee überquert hatte, kam sie ins Universitätsviertel. Sie ging hindurch. Links ragte einmal aus grünen Rasenflächen ein hohes, hellgraues Gebäude mit schmalen Fenstern auf. Es sah aus wie eine moderne Festung. Sie erkannte es, denn sie hatte es im Internet gesehen: die Bibliothek. Dort würde sie arbeiten. Dann kam rechts eine weite Rasenfläche, an deren hinterem Ende zwischen langgestreckten Gebäuden ein Turm stand, dessen Zinnen wie Krallen in den Himmel ragten, und links befand sich die historisierende Fassade eines College, dem eine Kapelle mit großen, neugotischen Fenstern angegliedert war.

Anna ging weiter. Blumen blühten üppig, Backstein wechselte mit Kalkstein, Neorenaissance mit Neugotischem, bis sie an den Queen's Park kam, einen ausgedehnten Park mit alten Bäumen. Nach Süden hin wurde er durch das Parlament von Ontario begrenzt. Lange saß sie auf einer Bank, dicht bei der kolossalen Reiterstatue irgendeines englischen Königs und musste lachen, weil jemand dem bronzenen, gleichmäßig patinierten Pferd den Hodensack rosa bepinselt hatte.

Als sie auf der anderen Seite aus dem Park trat, waren die Universitätsgebäude noch immer nicht zu Ende: Colleges, Wohnheime und kleinere Bibliotheken waren dort, und dann ging sie zwischen zwanzig- und dreißigstöckigen Wohnhäusern hin, von denen manche noch im Bau waren. Inzwischen waren viele Menschen unterwegs, die Sonne hatte Kraft bekommen, der Berufsverkehr zugenommen, die Autos schoben sich langsamer voran. Sie kam wieder an die Yonge Street. Weil sie wissen wollte, wie der Straßenname, den sie auf einem Schild las, wirklich ausgesprochen wurde – sie wollte sich nicht auf den türkischen Taxifahrer verlassen –, fragte sie zwei Mädchen. Die kicherten, aber dann sagten sie es ihr. Es klang wie das englische Wort für jung. Als sie auf der Straße in südlicher Richtung hinunterging, erkannte sie an ihrem Ende eine Stadtautobahn; dahinter vermutete sie den Ontariosee.

 

Wieder reihten sich Geschäfte aneinander. Sie ging an Boutiquen, Restaurants, Nachtclubs und Pfandleihen vorbei; manchmal waren die Häuser klein und halb verfallen und die Auslagen verstaubt. Dann wieder neue, große Gebäude.

Am Mittag kam sie müde vom Laufen in ihre Wohnung zurück. Unterwegs ging sie noch in einen Corner Store, in dem es Getränke, Blumen und Zeitungen gab. Als sie die Stufen zu ihrer Veranda hinaufstieg, saß dort in einem hölzernen Lehnstuhl, der dem von gegenüber glich, nur dass er mit bequemen Kissen versehen war, ein alter Mann, den Krückstock zwischen den Knien, die wachen Augen auf sie gerichtet. Sie sei wohl die neue Mieterin from the old country.

„Ja, aus Deutschland.ˮ

Das kenne er etwas. Früher habe er mal ein paar Jahre in Bremen gearbeitet, im Straßenbau. Das sei aber schon so lange her, dass damals noch gar nicht an sie zu denken gewesen sei. Überall in der Stadt habe es noch Ruinen gegeben, aber jetzt sei wahrscheinlich alles ganz neu. Was sie denn hier in Kanada wolle.

„Material für meine Doktorarbeit sammeln, Dokumente, die noch viel älter sind als Sie.ˮ Er freute sich über ihre Schlagfertigkeit.

„Sowas soll es geben? Und ausgerechnet hier?ˮ

„Bestimmt. Hier hat es Deutsche gegeben, die schon lange vor Ihnen angekommen sind.ˮ

„Möglich ist das, Deutsche trifft man ja überall. Aber seit es ihnen zu Haus so gut geht, kommen bloß noch Touristen. Die Italiener oder Griechen sind da zuverlässiger. Es ist wie immer: Erst kommen die einen, die sich durchschlagen müssen, und später die andern, die es leichter haben und sich für die Arbeit ihrer Väter nur interessieren, wenn sie was Kluges darüber sagen oder schreiben wollen. Nimm mir das man nicht übel; das ist bei den Portugiesen und Italienern nicht anders als bei den Deutschen.ˮ Er sprach in einem holprigen Englisch; der iberische Akzent war deutlich.

„Sind Sie denn Portugiese? Ich habe gedacht, dieser Stadtteil heißt Little Italy.ˮ

„Heißt er auch. Meine Tochter hat einen Italiener geheiratet, der arbeitet auf dem Bau, wie ich früher. Jetzt kann sie außer Portugiesisch und Englisch noch fließend Italienisch. Bloß ich bin immer noch Portugiese.ˮ

„Dann habe ich ja mein bisschen Ferien-Italienisch umsonst aufpoliert.ˮ

„Na, wenn du mit mir sprechen willst, hilft es nicht viel; wir müssen wohl oder übel versuchen, uns auf Englisch zu verständigen. Das wird schon gehen. Aber mein Schwiegersohn freut sich bestimmt über ein paar Worte Italienisch, meine Tochter auch. Auf Wiedersehenˮ, rief er ihr noch auf Deutsch nach, als sie ins Haus ging.

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